badnha-kāraṇa-śaithilyāt pracāra-saṁvedanācca cittasya paraśarīrāveśaḥ
बन्धकारणशैथिल्यात्प्रचारसंवेदनाच्च चित्तस्य परशरीरावेशः
Vorab: In dem kommenden Abschnitt des Yogasutras wirkt es so, als wären manche Sutras zusammenhanglos integriert. Ob dem wirklich so ist, sei dahingestellt. Vielleicht gibt es eine Struktur, deren Aufbau ich nicht erkenne.
Sutra 3.39 wirft die Frage auf, wie weit Bewusstsein tatsächlich reicht. Kann man sich wirklich vom eigenen Körper lösen – oder ist das alles nur symbolisch zu verstehen? Wer sich ernsthaft mit Yogaphilosophie beschäftigt, stößt früher oder später auf diese faszinierende Stelle. Dieser Artikel nimmt dich mit auf eine gedankliche Reise zwischen Tradition und Transzendenz – verschaffe dir einen Überblick über die zahlreichen Interpretationen zur Auslegung der Geistreise in einen anderen Körper.
Kurz zusammengefasst
- Sutra 3.39: Patanjali beschreibt die Fähigkeit des Yogis, das Bewusstsein vom eigenen Körper zu lösen und in einen anderen Körper einzutreten. Dies setze tiefes Wissen über den Geist und feinstoffliche Kanäle voraus.
- Samyama in der Praxis: Der Schlüssel zur Anwendung liegt in der meditativen Technik Samyama – einer Kombination aus Konzentration, Meditation und Verschmelzen mit dem Objekt.
- Citta und Bindung: Das Citta (Geist, Bewusstsein) ist normalerweise an den Körper gebunden. Diese Bindung kann durch Samyama und das Auflösen von Kleshas (Leidensursachen) gelöst werden. so eine gängige Interpretation.
- Vyasa-Kommentar: Vyasa erklärt, dass der Geist natürlicherweise beweglich ist, jedoch durch karmische Kräfte an den Körper gebunden bleibt. In Trance (Samyama) kann sich diese Bindung lösen.
- Alltagsbezug: Die Sutra kann auch symbolisch verstanden werden – etwa als Einfühlung in andere oder als Übung, sich von der eigenen Körperidentifikation zu lösen.
- Spirituelle Bedeutung: Verschiedene Traditionen deuten diesen Vorgang als Ausdruck höherer Bewusstseinszustände, Einheit mit allem Leben oder gar als Reinkarnationsprinzip.
- Vergleichbare Konzepte weltweit: Parallelen finden sich in Tibetischem Phowa, Schamanismus, Ägyptischer Seelenlehre oder westlicher Astralprojektion.
Details und Erläuterungen zu allen Punkten im weiteren Artikel.
Bedeutung und Übersetzung des verwendeten Sanskrits
Hier sind zunächst die Übersetzungsmöglichkeiten für die einzelnen Wörter, damit du die Übersetzung selbst für ein besseres Verständnis anpassen kannst:
- Bandha = Bindung (z. B. hier Bindung an den physischen Körper); Schleuse; Fesseln; Verbindung; begrenztes Tor; Damm; Ventil; Netz;
- Karana, kârana = Ursache; Grundlage; Veranlassung; Motiv; kausaler Ursprung; treibende Kraft; das wirksame Mittel, das ursächliche Mittel oder der zugrundeliegende Grund hinter einem Zustand/einer Situation;
- Shaithilyat, shaithilyât, śaithilya = durch Lösung; durch Lockerung; Lockerheit; Schlaffheit; Entspannung; durch die Lockerung;
- Prachara, prachâra, pracāra = Durchgänge; (feinstoffliche) Kanäle; sich zeigen; hervorkommen; Manifestation; Erscheinung;
- Samvedanat, samvedanât, saṁvedana = vom Wissen über; Bewusstwerdung; Sensitivität;
- Cha, ca = und;
- Citta = Geist; Verstand; Psyche;
- Chittasya = vom Verstand; mental; bezieht sich auf Zustände des bewussten Gewahrseins; des Geistes; des Bewusstseins;
- Para = von einem anderen; transzendent/aufsteigend; darüber hinaus; mehr als; jenseits; anders;
- Sharira, sha-rîra, śarīra, sarira = Körper, Leib; Hülle, Umhüllung; Umhüllung des Körpers; körperliche Hülle;
- Avesha, âveshah, āveśa = Eingang; Eindringen; Zugang; eindringend; durchdringend; eintreten; Besitz ergreifen;
Zu den Quellen
Buchbesprechungen, Erläuterungen zur Auswahl der Übersetzungsvarianten und allgemeine Hinweise zur Sutraübersetzung findest du im zugehörigen Artikel. Hier nun die Kurzauflistung:
Bücher
- Mircea Eliade: Yoga – Unsterblichkeit und Freiheit
- Iyengar: Der Urquell des Yoga
- Deshpande/Bäumer: Die Wurzeln des Yoga
- Geraldine Coster: Yoga und Tiefenpsychologie
- R. Sriram: Von der Erkenntnis zur Befreiung – Das YogaSutra
- Govindan: Die Kriya Yoga Sutras des Patanjali
- Mallinson/Singleton: Roots of Yoga
- R. Palm: Der Yogaleitfaden des Patañjali
- T.K.V. Desikachar: Über Freiheit und Meditation | Das Yoga Sutra von Patanajali
- Feuerstein, Georg: Die Yoga Tradition (Amazon)
- Skuban, Ralph: Patanjalis Yogasutra (Amazon)
- Sri Swami Satchidananda: The Yoga Sutras of Patanjali (Amazon)
- Trevor Leggett: The complete Commentary by Sankara on the Yoga-Sutras* (Amazon)
Internetseiten
- Internet-Übersetzung des Yogasutras auf Yoga-Vidya.de
- Zu den Sutras auf ashtangayoga.info
- Zu den Sutras auf 12koerebe.de
- Zu den Sutras auf vedanta-yoga.de
- Openland.de (mittlerweile offline)
- Zu www.bodhi.sofiatopia.org (buddhistische Kommentare zum Yogasutra nur noch als Buch)
- sanskrit-sanscrito.com (Sutras anscheinend entfernt)
- Zur Übersetzung von Chip Hartranft (PDF)
- Die Übersetzung von Hariharananda Aranya, I. K. Taimni, Vasa Houston, Barbara Miller, Swami Satchidananda, Swami Prabhavananda, Swami Vivekananda finden sich auf dieser Seite.
- Übersetzung von James Haughton Woods
- Rainbowbody.com (ausführliche und eigene Kommentierung)
- Wisdom Library
Dein Übersetzungsvorschlag
Du findest die bisherigen LeserInnen-Übersetzungen und -Ergänzungen unten.
Hast du einen eigenen Übersetzungsvorschlag?
Wie würdest du diese Sutra übersetzen? Manchmal ergeben schon kleine Wortveränderungen ganz neue Aspekte. Trau dich ... :-)
Einordnung dieser Sutra im Yogasutra
Samyama ist die Schlüsselübung im dritten Kapitel des Yogasutra zum Erreichen der geistigen Kräfte. In den Sutras III-1 bis III-7 erläutert Patanjali zunächst, was Samyama ist: die Kombination aus
- Dharana (Konzentration),
- Dhyana (Meditation) und
- Samadhi (Überbewusstsein).
In Sutra III-8 ergänzt er dann, dass der Yogi zur Erlangung der Erleuchtung über Samyama hinausgehen muss.
In den Sutras III-9 bis III-15 geht es weiter mit Erläuterungen, welche Wandlung der Geist (Chitta) vollziehen muss, um Samyama bis zur Perfektion ausüben zu können. Aufeinander aufbauend sind das die Stadien
- Nirodha-Parinama (Wandel durch Sammlung, einfache Konzentration),
- Samadhi-Parinama (Wandlung durch länger andauernde Konzentration) und
- Ekagrata-Parinama (Wandel/Transformation durch vollkommene Versenkung auf einen Punkt/ein Thema).
Der notwendige Wandel des Geistes erfolgt nach und nach, ist keine sprunghafte Entwicklung.
In den Sutras III-16 bis III-49 macht Patanjali eine ganze Reihe von Vorschlägen, worauf man Samyama lenken könnte und welche Folgen (Siddhis = Kräfte, besondere Erkenntnisse) sich jeweils daraus ergeben.
In dieser Sutra beschreibt Patanjali die Möglichkeit, in den Geist oder Körper eines anderen Menschen einzudringen.
Besondere Kräfte (Siddhis) mit Samyama erlangen
Besondere Kräfte (Siddhis) mit Samyama erlangen
Patanjalis Anleitungen zur Erlangung der Siddhis lauten generell, dass der Praktizierende Samyama gezielt auf ein Meditationsobjekt anwendet. Samyama ist die Verbindung aus anhaltender Konzentration, Meditation und schlussendlich Samadhi (Überbewusstsein) auf ein Objekt der Meditation. Skuban sieht den Vorgang von Samyama als “mentales Eindringen in ein Objekt, das den Übenden schließlich zu den feinstofflichsten Bereichen des Seins führt.” Dadurch werden die drei Eigenschaften (siehe Sutra III-13) eines Objektes voll erkannt. So wird das Objekt voll verstanden und über die Gunas auch beherrschbar. Alle Objekte sind nämlich laut Yogalehre Erscheinungsformen der drei Gunas, auch das Bewusstsein des Menschen. Der Yogi diszipliniert sein Bewusstsein und kann über bzw. in Samyama die Gunas auch außerhalb seines Bewusstseins beeinflussen oder verändern. So erklären sich gemäß Yogalehre die Siddhis.
Vibhutis, der andere Name für die Siddhis, bedeutet wörtlich weg (vi) von den Elementen (bhutas) und steht damit laut einiger Kommentatoren auch für die Abwendung von der Identifikation mit den materiellen Grundlagen unseres Lebens, yogisch: Prakriti. Hin zur Erkenntnis unserer wahren Natur: Purusha.
Die Sutras III-16 bis III-49 nennen die Objekte, auf die ein Yogi seine Samyama-Konzentration legen sollte, um besondere Kräfte zu entfalten. Iyengar betont jedoch, dass diese Siddhis sich erst bei weit fortgeschrittenen Yoga-SchülerInnen zeigen.
Ergänzend: Lange Pranayama-Praxis soll spontane Siddhis triggern können. Gerade Wechselatmung über Monate hinweg wird in manchen Berichten als „geistöffnend“ beschrieben – mit plötzlichen Hörerlebnissen oder Visionen.
Was ist Samyama?
Was ist Samyama?
Samyama besteht aus drei Stufen: Dharana (Konzentration), Dhyana (Meditation) und Samadhi (Überbewusstsein). Nur die erste Stufe von Samyama, die Konzentration auf ein Objekt, lässt sich willentlich steuern. Die darauf aufbauenden Geisteszustände Dhyana (Meditation) und Samadhi (Überbewusstsein) müssen sich laut der meisten Kommentatoren des Yogasutras von alleine einstellen und werden durch lang anhaltende Konzentration und Beseitigung der Geisteshindernisse erlangt. Feuerstein bezeichnet Samyama als 'Bündelung' von Konzentration, Meditation und Samadhi. Du findest Samyama ausführlicher in den ersten Sutras des dritten Kapitels des Yogasutra hier auf yoga-welten.de besprochen. Siehe vor allem:
Yoga Sutra III-4: Die drei (Dhahrana, Dhyana, Samadhi) zusammen auf ein Objekt oder einen Ort angewendet wird Samyama genannt
Yoga Sutra III-5: Aus der Meisterung von Samyama entsteht vollkommenes Wissen über das Wahrgenommene
Yoga Sutra III-6: Der Fortschritt im Samyama erfolgt in Stufen
Voraussetzungen und Umgang mit den Siddhis
Empfehlungen zu Voraussetzungen und zum Umgang mit den Siddhis
Viele Kommentatoren empfehlen, mit den Siddhis sehr bewusst umzugehen. Folgendes wird oft geraten:
Wer sich den Siddhis zuwendet, sollte die Yamas und Niyamas in seinem Leben verwirklicht haben. Diese sind:
Die Yamas – Selbstkontrolle
- Ahimsa – Gewaltlosigkeit
- Satya – Wahrhaftigkeit
- Asteya – Nicht-Stehlen
- Brahmacharya – Wandel in Brahma / Selbstbeherrschung / Enthaltsamkeit
- Aparigraha – Nicht-Greifen, Verzicht auf Gier
Niyamas – Verhaltensregeln
- Saucha – Reinheit
- Santosha – Zufriedenheit
- Tapas – Selbstzucht
- Svadhyaya – Selbststudium (Studium)
- Ishvarapranidhana – Verehrung des Göttlichen
Siehe dazu die Erläuterungen in "Yamas und Niyamas im täglichen Leben".
Siddhis sollten nicht zum Vergnügen, zur Selbsterhöhung oder anderen ungünstigen, egoistischen Zielen angewendet werden. Vielmehr zeigen die Siddhis (so Iyengar und andere), dass die Yogapraxis “richtig angelegt” sei.
Selbstverständlich sollte man Siddhis auch nicht dazu nutzen, um jemand anderen damit zu schaden.
Stattdessen wird eher ein “Nicht-Beachten” der Siddhis angeraten, wenn diese sich denn zeigen sollten. Iyengar schreibt, (S. 244), die Übungen bei Auftreten der Siddhis mit Glauben und Begeisterung weiterzuentwickeln, die Siddhis aber mit völligem Gleichmut zu betrachten.
Dem Yogi wird also geraten, sich nicht auf die Siddhis einzulassen, sich nicht von ihnen “mitreissen zu lassen”, um sie nicht für eigenen selbstsüchtige Bedürfnisse zu verwenden, woraus späteres Leiden folgen würde. Stattdessen solle er/sie weiter auf dem Pfad der Befreiung zu wandeln und die Siddhis eher als Prüfung ansehen, ob man nicht doch noch - trotz fortgeschrittener yogischer Entwicklung - den Verlockungen der Dualität und des Ego-Daseins nachgibt.
Swami Sivananda sagt über Siddhis:
„Yoga ist nicht dazu da, Siddhis, Kräfte, zu erlangen. Wenn ein Yogaschüler die Versuchung verspürt, Siddhis zu erlangen, wird sein weiterer Fortschritt ernsthaft verzögert. Er hat den Weg verloren. Ein Yogi, der darauf konzentriert ist, höchsten Samadhi zu erreichen, muss Siddhis zurückweisen, wo auch immer sie auftauchen. Siddhis sind Einladungen von Devatas. Nur wenn man diese Siddhis zurückweisen kann, kann man Erfolg im Yoga erlangen.“
Im tibetischen Buddhismus werden vergleichbare Fähigkeiten „Shes-rab“ genannt. Auch dort: klare Intuition, inneres Sehen, spontane Einsicht – aber nie als Ziel, sondern als Prüfstein für Demut.
Missverständnisse rund um Siddhis
Die Aussicht auf übernatürliche Kräfte fasziniert viele – und genau darin liegen einige häufige Missverständnisse begründet. Ein Irrglaube besteht darin, dass Yoga hauptsächlich dazu diene, solche Siddhis zu erlangen. Tatsächlich betont die Tradition jedoch, dass Siddhis eher Nebenprodukte auf dem spirituellen Weg sind, nicht sein Zweck. Patanjali selbst stellt im unmittelbar folgenden Sutra klar, dass diese Fähigkeiten für einen im Samadhi befindlichen Geist Upasarga – also Störungen oder Ablenkungen – darstellen, auch wenn sie in einem nach außen gewandten Bewusstseinszustand als außergewöhnliche Errungenschaften erscheinen mögen. Yogameister wie Vyasa und später Vivekananda haben daher immer wieder gemahnt, die Siddhis nicht zu überschätzen: Sie seien wie Blüten am Wegesrand – schön und bemerkenswert, aber man sollte nicht vom Weg abkommen, um nur noch Blumen zu pflücken.
Ein weiteres Missverständnis liegt darin, jede ungewöhnliche innere Wahrnehmung sofort für eine echte siddhische Fähigkeit zu halten. Insbesondere wenn Übende beginnen, sich intensiv mit Meditation zu beschäftigen, können imaginäre Bilder, Lichterscheinungen oder akustische Phänomene auftauchen. Die Yoga-Tradition fordert hier Viveka, das unterscheidende Erkenntnisvermögen: Handelt es sich wirklich um eine valide intuitive Einsicht (Pratibha) oder nur um eine Wunschprojektion des Geistes? Echte spirituelle Intuition wird traditionell durch bestimmte Qualitäten kenntlich gemacht – sie geht einher mit tiefer innerer Stille, Klarheit und Gewissheit, ohne Aufregung oder Ego-Stolz. Hingegen sind halluzinatorische Erlebnisse oder irrige „Eingebungen“ oft dramatisch, emotional aufgeladen oder selbstbezogen. Es ist ein bekanntes Risiko, dass ein Yogi, der sich zu früh auf Siddhis fokussiert, Opfer von Täuschungen werden kann. Beispielsweise könnte man glauben, die Gedanken anderer lesen zu können, während man in Wirklichkeit eigenen Fantasien nachhängt.
Schließlich gibt es das Missverständnis, Siddhis seien ein Zeichen von Erleuchtung oder spiritueller Vollendung. Historische Berichte zeigen jedoch, dass auch wenig ethische oder unreife Personen zeitweise paranormale Fähigkeiten aufweisen konnten – was nicht mit wahrer Heiligkeit gleichzusetzen ist. Im Yoga wird daher gelehrt, die Siddhis weder zu verteufeln noch zu vergötzen. Sie dürfen auftauchen, doch der richtige Umgang ist entscheidend: Ein reifer Yogi nimmt sie wahr, schenkt ihnen aber wenig Bedeutung und bleibt dem höheren Ziel, Kaivalya (der völligen Befreiung), verpflichtet. Missverständnisse klären sich letztlich durch Erfahrung und Anleitung: In der traditionellen Guru-Schüler-Beziehung wurden auftauchende Siddhi-Erlebnisse vertraulich besprochen, um sicherzustellen, dass der Schüler nicht in Fallen wie Egoismus oder Ablenkung tappt. So soll auch der moderne Übende verstehen, dass Wunder im Yoga-Kontext Prüfsteine der Haltung sind – sie verlangen nach noch mehr Demut, Vairagya und Konzentration auf den eigentlichen Weg.
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Siddhi: Den Körper eines anderen betreten
Laut Yogaphilosphie ist unser Körper nur ein Vehikel, welches unser wahres Selbst für Erfahrungen in der physischen Welt nutzt. Patanjali schreibt, dass wir (sprich unser Bewusstsein) diesen Körper auch verlassen und dann zum Beispiel in den eines anderen eintreten kann. Dieser Vorgang findet sich in mehreren bekannten Yogatexten beschrieben, zum Beispiel vom Siddha Pokanthar oder bei Tirumular (dort nahm ein Yogi die Gestalt eines toten Kuhhirten an).
Historische Kommentare der Yoga-Tradition
Klassische Kommentatoren der Yoga-Sutras – etwa Vyasa (Verfasser des Yoga-Bhashya, ca. 5.–7. Jh.), Vachaspati Mishra (Glossator des Tattvavaisharadi, 9. Jh.) oder König Bhoja (Autor des Rajamartanda, 11. Jh.) – behandeln Sutra 3.39 als Beschreibung einer außergewöhnlichen yogischen Fähigkeit. Sie erläutern, dass ein Yogi, der die Bindung seiner Citta (des Geistes) an den eigenen Körper gelockert oder gelöst hat und die feinstofflichen Kanäle der Lebensenergie durchschaut, seine Wahrnehmung oder gar Lebenskraft in einen anderen Körper projizieren kann.
Diese Siddhi wird traditionell als Parakaya Pravesha („Eintreten in einen fremden Körper“) bezeichnet.
So berichtet eine Legende, der Philosoph Shankara habe durch Parakaya Pravesha den Körper eines verstorbenen Königs belebt, um dessen Wissen zu erlangen. Auch Swami Vivekananda beschreibt, ein fortgeschrittener Yogi könne einen leblosen Körper wieder zum Leben erwecken oder vorübergehend einen lebenden Körper übernehmen, indem er dessen Geist kontrolliert. Gleichzeitig betonen die alten Kommentare aber, dass solche Kräfte nur Nebenprodukte auf dem Yogaweg sind – beeindruckende Siddhis, die den Yogi vom eigentlichen Ziel der Befreiung ablenken können
Der Vorgang
Das Wissen um die Funktionsweise des Bewusstseins (Citta) sowie die Fähigkeit zu dessen “Stillstellung”, so R. Palm, befähigt den Yogi, sein Citta vom eigenen Körper abzuziehen und es “auf einen anderen Körper” zu werfen. Er könne dabei sogar seine Sinnesfähigkeiten mitnehmen.
Vivekananda schreibt (laut Skuban S. 216), dass der Yogi auf diese Weise sogar in einen toten Körper eingehen und ihn so wieder zum Leben erwecken könne. Bei einem anderen lebendigen Körper könne der Yogi mittels dieser Technik “den Geist und die Organe” desjenigen kontrollieren.
Das muss nicht immer im Sinne eines Besitzergreifens erfolgen. Sukadev beschreibt, dass wir diese Technik auch dazu nutzen können, uns in freundlicher Absicht in einen anderen hineinzuversetzen. Um zu verstehen. Auch hierfür müssen wir in gewissem Sinne die “Bindung” an unsere egoistischen Ziele aufgeben und Interesse für die Wünsche und Hoffnungen eines anderen aufbringen. Zuhören können, Interesse aufbringen. Die Welt durch die Augen eines anderen sehen.
Iyengar schreibt, dass der Yogi diese Loslösung vom eigenen Körper auch übe, um sich “von den Fesseln des Karma zu befreien”.
Desikachar sieht in dieser Sutra eher die Möglichkeit gemeint, “durch seinen Geist andere Menschen” zu beeinflussen, was zum Beispiel Lehrern zugute kommt, die “verwirrte Schüler verändern” möchten.
Glaubst du, dass der Geist den Körper verlassen kann?
Bedingung 1: Die Ursachen der Gebundenheit auflösen
Die Ursachen des Gebundenseins heißen im Yoga karmasaya.
Skuban (S. 216) und andere erläutern, dass Patanjali hier die fünf Hauptursachen des Leidens, die Kleshas anspricht, wie sie in Sutra II-3 aufgelistet werden: 902
Yoga Sutra II-3: Unwissenheit, Identifikation mit dem Ego, Begierde, Abneigung und (Todes-)Furcht sind die fünf leidbringenden Zustände (Kleshas)
Iyengar schreibt, dies erfolge (zum Beispiel) mittels Samyama (Übung aus Konzentration, Meditation und Samadhi) über:
- Unwissenheit
- Ichbezogenheit
- Begierde
- Bosheit
- Todesfurcht
Bedingung 2: Plus notwendiges Wissen
Zweites Erfordernis für das Ausüben dieses Siddhi ist die genaue Kenntnis des eigenen Geistes vonnöten. Wie der eigene Citta funktioniert. Iyengar schreibt zum Beispiel: “… das notwendige Wissen zum Überwechseln in einen anderen Körper”. Doch welches Wissen ist das genau? Folgende Vorschläge werden von den Übersetzern dieser Sutra gemacht:
- … durch das Verstehen seiner Bewegungen
- … wenn die Kanäle bekannt sind
- … wenn die Bewegung des Citta/Bewusstseins verstanden/erkannt worden sind
- … wenn der Yogi tief empfindlich für die Ströme des Körpers wird
- … wenn er/sie die Wege des Geistes erkennt
- Indem ein Mensch die Ursache für diese starre Situation, die den Geist an das Individuum bindet, erforscht und die Mittel untersucht, die diese Starrheit lösen
- … durch vollständiges Wissen/Verständnis (saṁvedanāt) des Umherschweifens (pracāra) des Geistes (cittasya)
- … durch das Gewahrwerden der Fließfähigkeit des Körpers
- … das Wissen um den Vorgang des Funktionierens des Geistes
- ,,, durch das Wissen um die Funktionsweise der Nervenströme
- … durch sein Wissen über die Manifestation durch die Organe
- … wenn die Erfahrung des Weitergehens gemacht wird
Man erkennt: Welches Wissen hier genau gemeint ist, das neben der “Lösung der Bindung des Geistes an den Körper” für einen Übertritt in den Geist eines anderen Menschen notwendig ist, wird von den Übersetzern und Kommentatoren des Yogasutra unterschiedlich übersetzt und interpretiert.
Wie genau vorgehen, um in den Geist eines anderen Menschen einzugehen?
Um die Fähigkeit zu erlangen, den eigenen Körper zu verlassen, muss die “Ursache der Gebundenheit” gelöst oder ganz aufgelöst werden. Wie erreiche ich das genau?
Yoga-Sutra 3.39 deutet an, dass diese Fähigkeit durch tiefgehende Praxis (vermutlich ist wieder Samyama gemeint) erlangt werden kann. Samyama – die vollkommene Konzentration, Meditation und Versenkung auf ein Objekt – müsste hier zweifach angewandt werden: zum einen um die innere Bindung an den eigenen Körper aufzugeben, zum anderen um die „Durchgänge“ oder Kanäle des Geistes kennenzulernen, durch welche die Citta den Körper verlassen kann
Sukadev: „Die Technik ist, dass man aufhören muss, sich an seinen eigenen Körper zu verhaften, sich mit seinem eigenen Körper zu identifizieren.”
Rainbowbody: „Indem der Yogi die blockierte Energie, die die Fesselung (karana) verursacht, löst (saithilyat), ruft er das Wissen (pracara) hervor (samvedanat), das es dem Bewusstsein erlaubt, zu fließen (cittasya) und die Körperhülle (sarira) zu durchdringen und den gesamten Körper mit cit-prana zu füllen.”Hiermit käme “... dann das Wissen von anderen cit-prana (cittasya-para-avesah) hervor und kann begleitend übertragen werden (pracara)”;
Desikachar nennt “Atemübungen und andere Disziplinen” als probate Mittel, um die “Reichweite geistiger Aktivität” auszudehnen.
Üblicherweise gelingt tiefe Versenkung (wie sie für die Loslösung des Geistes vom Körper notwendig ist) bei voller Bewusstheit am besten mit tiefer Meditation. Es soll auch mit Yoga Nidra funktionieren, wenn du die darin enthaltenen Schritte mit Konzentration ohne einzuschlafen durchführen kannst. Zu beiden Techniken findest du Anleitung (& Downloads) auf Yoga-Welten.de:
Der Begriff Meditation hat viele Facetten. Das Spektrum reicht vom Nachsinnen über ein Thema (vornehmliche Betrachtungsweise der Philosophen) bis zur völligen Gedankenstille. Im Folgenden findest du eine konkrete Anleitung der Schritte, welcher der Buddha himself seinen Schülern zum Lernen einer tiefen Meditation gegeben hat. Sicherlich nicht die schlechteste Herangehensweise, wenn du persönliche Entwicklung oder gar Erleuchtung zum Ziel deiner Meditationsreise auserkoren hast. Am Ende findest du eine Merkkarte zum Ausdruck – z. B. für das Portemonnaie. Willkommen zu der Entspannungstechnik des Yogas: Yoga Nidra. Die yogische Tiefenentspannung, auch "yogischer Schlaf" genannt, ist eine Tiefenentspannungsübung der tantrischen Yoga-Lehre. Ihr Ursprung liegt in weit entfernten Zeiten. Yoga Nidra führt in tiefe Entspannungszustände, die mit einiger Übung bei vollem Bewusstsein erfahren werden können. Zusätzlich besteht über einen sogenannten Sankalpa die Möglichkeit, Persönlichkeitsentwicklung tief ins Unbewusste einzuprägen. Hier findest du Yoga Nidra erläutert und dazu eine einfache Anleitung, einen Gratis-MP3-Download, den Text zum Ausdrucken und viele Varianten für fortgeschrittenes Üben, auch als Videos.Beitrag: Meditation lernen
Meditation lernen – die grundlegende Anleitung aus dem Buddhismus
Beitrag: Yoga Nidra
Yoga Nidra | Anleitung, MP3, Text und Variationen
Die einzelnen Schritte zur Aufhebung der Gebundenheit des Geistes an den Körper
1. Einstieg: Meditation & Samyama
Samyama bringt den Geist zur Ruhe. Der Yogi zieht sich aus den äußeren Eindrücken zurück – Citta beginnt sich zu sammeln.
Prana-Beherrschung
Manche Kommentatoren verstehen diese Sutra auch als Hinweis auf die Beherrschung der Prana-Energie und der feinstofflichen Nadis (Energiekanäle). Praktiken des Hatha-Yoga liefern Parallelen: So beschreibt das folgende Sutra (III 3.40) die Meisterschaft über Udana-Vayu (den aufsteigenden Atemstrom) – sie führt dazu, dass der Körper den Kontakt mit Wasser, Schlamm oder Dornen verliert und leicht und schwebend wird. In der Yogatradition heißt es, derselbe aufsteigende Lebensstrom trage im Moment des Todes das Bewusstsein aus dem Leib hinaus. Ein Yogi, der Udana und die Sushumna-Nadi (Zentralkanal der Wirbelsäule) vollkommen kontrolliert, könnte demnach bewusst das Bewusstsein durch das Scheitelzentrum aus dem Körper austreten lassen.
Konkretes bleibt im Dunkeln
Über konkrete Übungsschritte dazu schweigen die Schriften weitgehend – solche Techniken gelten als äußerst fortgeschritten und wurden meist geheim gehalten. Traditionell wird davor gewarnt, vorschnell nach Siddhis zu streben: Patanjali erinnerte in der Sutra zuvor, dass die im Samyama erlangten Erfahrungen auch Hindernisse auf dem Weg zur endgültigen Befreiung sein können. Yoga-Meister empfehlen daher, zuerst durch gründliche Vorbereitung – ethische Disziplin (Yama/Niyama), Pranayama und Meditation – den Geist zu klären, bevor man sich mit außergewöhnlichen Kräften befasst.
🧘 Übungsvorschlag zu Sutra 3.39
Zuerst ein kleiner Reminder: Samyama besteht aus drei Stufen – Dharana (Konzentration), Dhyana (Meditation) und Samadhi (Verschmelzen mit dem Objekt). Im Fall von Sutra 3.39 ist dein Objekt nicht irgendetwas Äußeres, sondern dein eigener Geist (Citta) und die Bindung an deinen Körper.
💡 Vorbereitung – Die richtige Grundlage schaffen
Bevor du mit Samyama anfängst, solltest du sicherstellen, dass du ruhig und bequem sitzt, am besten mit aufrechter Wirbelsäule, und deinen Atem gleichmäßig und immer ruhiger fließen lässt. Wenn du vorher ein paar Minuten Pranayama übst (z. B. Nadi Shodhana), hilft das, um den Geist zu klären.
Schritt-für-Schritt für eine Meditationssitzung (30–45 Minuten)
1. Dharana – Konzentration auf das „Ich bin in diesem Körper“
Setz dich hin und richte deine Aufmerksamkeit auf das Gefühl, in deinem Körper zu sein. Wo sitzt du dieses „Ich bin“ genau? Hinter den Augen? In der Brust? Versuch, diesen Punkt zu finden und einfach dort zu verweilen. Bleib dabei wach, ohne zu analysieren. Nur wahrnehmen.
➡️ Ziel: Spürbar machen, wie eng du mit deinem Körper identifiziert bist.
2. Dhyana – Meditieren auf die Trennung von Citta und Körper
Jetzt stell dir vor: Dein Bewusstsein ist nicht fest an den Körper gebunden. Es beobachtet ihn eher – wie ein Gast. Vielleicht wie ein Licht, das im Inneren leuchtet, aber nicht an den Körper klebt. Du kannst dabei innerlich sagen:
„Ich bin nicht mein Körper. Ich bin das, was beobachtet.“
➡️ Tipp: Stell dir deinen Geist wie Wasser vor, das durch Kanäle (Nadis) fließt – frei, beweglich.
3. Samadhi – Verschmelzen mit dem Zustand des Freiseins
Wenn du merkst, dass du nicht mehr über das Ganze nachdenkst, sondern einfach in einem Gefühl von Losgelöstheit ruhst – bleib da. Kein Kommentar, keine Erwartung. Einfach sein.
Wenn du’s schaffst, wird sich ein Gefühl einstellen wie: „Ich könnte überall sein. Ich bin nicht mehr an diesen Körper gebunden.“
➡️ Das ist Samyama in Reinform – bewusst, still und voller Weite.
Meine Erkenntnisse/Erfahrungen bei/mit dieser Übung
So kannst du Sutra 3.39 im Alltag üben
Du musst nicht gleich deinen Geist in den Körper eines anderen schicken. Aber du kannst ganz konkret im Alltag damit arbeiten:
👂In andere hineinversetzen
Wenn du mit jemandem sprichst – z. B. bei einem Konflikt oder wenn jemand dir etwas erzählt – versuch mal ganz bewusst, aus deinem Kopf auszusteigen. Sag innerlich:
„Was fühlt der andere gerade? Was würde ich in seinem Körper, in seiner Situation wahrnehmen?“
Das ist eine alltagstaugliche Form dieser Siddhi – und auch viel alltagstauglicher als spirituelles Body-Hopping :-).
🧘♀️ Den Geist vom Körper lösen – mitten im Alltag
Wenn du Schmerzen hast, gestresst bist oder dich total mit etwas identifizierst, mach einen kurzen Check-in:
„Bin ich das – oder ist das gerade nur mein Körper / mein Nervensystem in Aufruhr?“
Diese Art des Abstandnehmens trainiert deine Fähigkeit, den Citta zu lösen, ohne gleich zu meditieren. Und mit Übung wird’s leichter.
🔄 Mit Aufmerksamkeit „wechseln“
Stell dir mal vor, du wärst für einen Moment dein Hund, eine Pflanze, eine fremde Person im Bus. Nicht als Spiel, sondern als bewusste Übung:
„Wie würde die Welt aus diesen Augen aussehen?“
Diese Wechsel der Perspektive – auch wenn nur für 30 Sekunden – sind Mikroformen von Citta-Verlagerung.
Zusammengefasst: Du musst keine übernatürlichen Kräfte besitzen, um Yoga-Sutra 3.39 zu leben. Es geht vor allem darum, dich aus deiner engen Körperidentifikation zu befreien und offen zu werden für das Bewusstsein als etwas Bewegliches, Ungebundenes. Ob im Sitzen auf dem Kissen oder mitten im Gespräch – die Praxis beginnt da, wo du bereit bist, dein Selbstbild zu lockern.
Wenn du diese Technik regelmäßig übst – in Meditation wie im Alltag – entwickelt sich allmählich ein tiefes inneres Verständnis von Freiheit, das weit über reine Theorie hinausgeht.
Spirituelle und philosophische Deutungen
Philosophisch wird Sutra 3.39 je nach Tradition verschieden gedeutet. In der Vedanta-Schule etwa liest man die Fähigkeit als Hinweis auf die Einheit des Selbst: Das Eindringen des Bewusstseins in einen fremden Körper symbolisiere, dass der wahre Atman in allen Wesen gleichermaßen gegenwärtig ist. Löst sich die individuelle Seele von der Identifikation mit dem eigenen Körper, verschmilzt sie mit dem universalen Bewusstsein (Brahman oder Shiva); im übertragenen Sinn kann der Yogi dann „in jedem Körper wohnen“.
Aus Samkhya-Sicht unterstreicht die Siddhi dagegen die Dualität von Geist und Materie. Der Purusha (reines Bewusstsein) ist nicht an einen bestimmten physischen Leib gebunden, sondern kann unabhängig von Prakriti (dem Stofflichen) wirken.
Berichte von Yogis, die Schmerz oder Verletzungen des Körpers nicht mehr spürten, dienen hier als Beleg: So soll der Weise Sadasiva Brahman, dem im Ekstasezustand eine Hand abgetrennt wurde, unberührt geblieben sein, da sein Geist bereits völlig vom Körper gelöst war.
Generell betonen alle Deutungen, dass aus yogischer Sicht die Gleichsetzung des Selbst mit dem physischen Körper eine Illusion bzw. Avidya (Unwissenheit) darstellt – Ursache von Angst vor Vergänglichkeit und Tod. Die Überwindung dieser falschen Identifikation gilt als Voraussetzung, um außergewöhnliche Bewusstseinszustände wie in Sutra 3.39 überhaupt zu erfahren.
Vyasa über den Übergang des Geistes in einen anderen Körper
Erläuterungen zu Vyasa
Vyasa war ein indischer Philosoph des 5. bzw. 6. Jahrhunderts nach Christi, der den ältesten überlieferten Kommentar zum Yogasutra des Patanjali schrieb. Der Text wird Yogabhashya (wörtlich "Kommentar (Bhashya) zur Yogaphilosophie") genannt und um 600 nach Christi datiert. Vyasas Kommentare zu den Sutras sind oftmals recht kurz.
Dieses Yogabhashya wurde im 8./9. Jh. von Shankara (788–820 n. Chr, indischer Gelehrter, Vedanta-Philosoph, Begründer der Advaitavedānta-Tradition) kommentiert. Sein Kommentar nennt sich Yogabhashyavivarana, Vivarana ist ein Unterkommentar. Auch Vachaspati Mishra hat einen frühen, berühmten Kommentar zum Yogasutra geschrieben. (Meine Quellen für diese Kommentare waren unterschiedliche Bücher und Webseiten, zum Beispiel Legget (siehe Literatur) und wisdomlib.org/hinduism/book/yoga-sutras-with-commentaries/). Ich gebe hier diese Kommentare in für mich relevanten Auszügen in Worten wieder, die für mich den Sinn in heutigen Worten am besten wiedergeben. Dies ist explizit kein Bemühen, die Originalkommentare wortgetreu wiederzugeben. Fehlinterpretationen sind natürlich in meiner Verantwortung.
Du siehst etwas anders, hast einen Fehler gefunden oder möchtest etwas ergänzen? Bitte schreibe dies unten bei "Ergänzungen von dir".
Die Kommentare von Vyasa, Mishra und Shankara sind oft wörtlich übersetzt worden, zum Beispiel bei den oben angegebenen Quellen.
In seinem klassischen Kommentar zum Yoga-Sutra beschreibt Vyasa einen faszinierenden und tiefgründigen Prozess: wie der Geist (Citta) von einem Körper in einen anderen übergeht. Was in der ursprünglichen Übersetzung etwas abstrakt klingt, lässt sich mit etwas Hintergrundwissen deutlich klarer verstehen.
🔄 Der Geist ist von Natur aus beweglich
Vyasa beginnt mit der Feststellung, dass der Geist niemals statisch ist. Er hat die natürliche Tendenz, sich ständig zu verändern, weiterzugehen und sich neuen Zuständen anzupassen. In modernen Worten könnte man sagen: Das Bewusstsein ist flexibel – es bindet sich nicht freiwillig an einen bestimmten Zustand oder Körper.
🔗 Was hält den Geist im Körper fest?
Laut Vyasa bleibt der Geist im Körper, solange er durch einen „Handlungsträger“ gebunden wird – damit ist die Kraft gemeint, die für alltägliches Erleben, Denken und Wollen verantwortlich ist. In der Yogaphilosophie wird diese Instanz oft als „Karma-Körper“ oder „Kausalkörper“ bezeichnet, also jener Anteil, der karmische Prägungen trägt.
➡️ Dieser Handlungsträger sorgt dafür, dass der Geist in einem bestimmten Körper verweilt.
🧘 Trance als Befreiung
Wenn sich der Yogi in einen Zustand tiefer Meditation oder Trance begibt, lässt die Aktivität dieses Handlungsträgers nach. Es ist, als würde sich die Kraft, die den Geist am Körper hält, entspannen – vergleichbar mit dem Loslassen eines Seils, an dem ein Ball gebunden ist.
In dieser meditativen Tiefe beginnt der Yogi zu verstehen, wie der Geist mit dem Körper verbunden ist und wie diese Verbindung funktioniert. Dieses Verstehen ist selbst bereits eine Frucht der Meditation.
✨ Der eigentliche Übergang – von einem Körper in einen anderen
Sobald die Fesseln, die durch Karma entstanden sind, gelockert oder aufgelöst sind, kann der Geist bewusst aus dem eigenen Körper herausgezogen werden. Vyasa beschreibt diesen Akt als ein „Werfen“ des Geistes in einen anderen Körper.
💡 Das bedeutet nicht unbedingt, dass der Yogi einfach einen anderen Körper übernimmt. Vielmehr geht es darum, dass das Bewusstsein seine Verhaftung an die eigene Form aufgibt und sich auf eine neue Erfahrungsweise einstellt – ob tatsächlich körperlich, astral oder symbolisch, bleibt offen.
🐝 Die Bienen-Metapher: Wie die Kräfte dem Geist folgen
Ein besonders schönes Bild verwendet Vyasa am Schluss seines Kommentars:
„So wie die Bienen ihrer Königin folgen, wenn sie sich bewegt oder ruht, so folgen die inneren Kräfte dem Geist, wenn er in einen anderen Körper eintritt.“
🔎 Was meint er damit?
Gemeint sind damit unsere Wahrnehmungskräfte, wie Sehen, Hören, Denken oder Erinnern. Wenn der Geist seinen Sitz wechselt, folgen ihm auch diese Kräfte – sie „ziehen mit um“, sozusagen.
Für die Praxis bedeutet Vyasas Kommentar
- Du kannst lernen, dein Bewusstsein nicht als fest in deinem Körper verankert zu betrachten.
- Du erkennst, dass du nicht dein Körper bist, sondern etwas, das ihn beobachtet und nutzt.
- Du kannst durch Meditation verstehen, wie Bindung entsteht – und wie sie gelöst werden kann.
Ausführungen von Edwin F. Bryant zu dieser Sutra
Edwin F. Bryant, Professor für Religionswissenschaften an der Rutgers University, bietet in seiner Ausgabe der Yoga Sutras of Patañjali eine umfassende und akademisch fundierte Interpretation des Yoga-Sutra 3.39. In dieser Sutra wird die Fähigkeit beschrieben, das eigene Bewusstsein vom physischen Körper zu lösen und in einen anderen Körper einzutreten.
Bryant erläutert, dass dieser Prozess durch die Lockerung der Bindung (Bandha) an den eigenen Körper und das Verständnis der Bewegungen des Bewusstseins (Citta) ermöglicht wird. Er betont, dass es sich hierbei nicht um eine wörtliche Übertragung des Bewusstseins handelt, sondern vielmehr um eine tiefgreifende meditative Praxis, die es dem Yogi erlaubt, sich vollständig in einen anderen hineinzuversetzen.
Diese Fähigkeit wird als eine der Siddhis (übernatürlichen Kräfte) betrachtet, die durch intensive meditative Praxis und Selbstdisziplin erlangt werden können. Bryant verweist auf traditionelle Kommentare, die diese Praxis als eine Form der tiefen Empathie und des Verständnisses interpretieren, bei der der Yogi die Perspektive eines anderen vollständig übernimmt, ohne dabei seine eigene Identität zu verlieren.
In seiner Analyse integriert Bryant sowohl klassische Interpretationen als auch moderne Perspektiven, um ein umfassendes Verständnis dieser Sutra zu entwickeln. Er verortet die Passage im Kontext der yogischen Selbsterkenntnis: Der Übergang in einen anderen Körper steht symbolisch für die vollständige Loslösung vom Ich-Bewusstsein und die Erkenntnis, dass das Selbst nicht auf einen bestimmten Körper oder eine Identität begrenzt ist.
Darüber hinaus hebt Bryant hervor, dass der Vers auch in einer metaphorischen Lesart verstanden werden kann – etwa als radikaler Perspektivwechsel, der über normale Empathie hinausgeht. In dieser Auslegung steht die Fähigkeit, in einen anderen „einzutreten“, für ein bewusstes Erleben der Welt aus einer völlig neuen Sichtweise – eine Praxis, die nicht nur spirituelle Tiefe, sondern auch ethische Reife erfordert.
Spekulativ-esoterische Auslegungen
In esoterischen Kreisen wird Sutra 3.39 oft mit Phänomenen wie Astralprojektion oder Bilokation in Verbindung gebracht. Die Vorstellung, das Bewusstsein könne den physischen Leib verlassen und anderswo wirken, findet sich auch in westlichen Okkulttraditionen: Dort spricht man vom Astralkörper, einem zweiten, energetischen Leib, der durch ein „silbernes Band“ mit dem physischen Körper verbunden ist. Entsprechende Berichte gibt es zahlreich – von mittelalterlichen Mystikern bis zu modernen Medien.
So existieren Erzählungen über Heilige, die an zwei Orten gleichzeitig erschienen, oder über Sensitive, die ihren Körper in Trance verließen (Stichwort Außerkörperliche Erfahrung).
Astralprojektion – besser als Astralreisen bekannt – ist eine Technik, die einen Teil unseres Bewusstseins auf eine Reise in die Astralwelt senden will. Ein sehr umfassendes Buch zum Thema ist „Dynamik der Astralprojektion – Praxisbuch der außerkörperlichen Erfahrung“ (im Original: „Astral Dynamics“) von Robert Bruce. Hierin findest du die Lehre von der Astralprojektion – ich habe das Buch gelesen, den Inhalt zusammengefasst und ein Fazit gezogen. ► Dimensionstheorie ► Aufspaltung des Bewusstseins ► vorbereitende Übungen ► Austrittstechniken ► Probleme bei Astralreisen ► Tipps und Tricks zur Astralprojektion Außerkörperliche Erfahrung in der Meditation: Die Techniken nach Patanjali und Monroe Seit vielen Jahrtausenden finden sich Berichte von intensiv Meditierenden zu mystischen Erfahrungen. Zu geistigen Erlebnissen, die sich mit dem Verstand nicht erklären lassen. Hierzu gehört das Erlebnis von außerkörperlichen Wahrnehmungen. Schon Patanjali hat im Yoga Sutra hierfür eine Meditationsanweisung geschildert. Bonus: ► Umfragen zur Außerkörperlichen Erfahrung ► Monroe-TechnikBeitrag: Astralprojektion lernen
Astralprojektion lernen – Praxisbuch der außerkörperlichen Erfahrung | Inhalt & Rezension
Beitrag: Außerkörperliche Erfahrung in der Meditation: Die Techniken nach Patanjali und Monroe
Außerkörperliche Erfahrung in der Meditation: Die Techniken nach Patanjali und Monroe
Manche Autoren sehen in Patanjalis Beschreibung sogar eine frühe Dokumentation eines solchen Außerkörperlichkeits-Phänomens. Reinkarnationsforscher wiederum ziehen Parallelen zur Wiedergeburt: Beim Tod verlässt nach hinduistischer Lehre das Bewusstsein den Körper und tritt in einen neuen ein – eine unwillkürliche Form dessen, was Sutra 3.39 als willentliche Fähigkeit schildert.
Allerdings bleiben all diese Deutungen spekulativ. Yogalehrer mahnen, sich nicht von sensationellen Siddhi-Erzählungen ablenken zu lassen. Ob Bewusstseinsübertragung wirklich wörtlich zu verstehen ist oder eine metaphorische Lehre über die Natur des Selbst darstellt, muss letztlich jeder Übende durch eigene Erfahrung und in tiefer Meditation herausfinden.
Vergleichbare Konzepte in anderen Traditionen
Die Idee, dass das Bewusstsein den Körper vorübergehend verlassen kann, ist in vielen spirituellen Traditionen zu finden:
- Tibetische Praxis: Im Vajrayana-Buddhismus existiert neben dem berühmten Tummo-Yoga (innere Hitze) auch die Lehre vom Phowa. Dieses „Bewusstseinstransfer“-Ritual zielt darauf ab, das eigene Bewusstsein im Moment des Todes durch den Scheitel ins Reine Land oder sogar in einen fremden Körper zu übertragen. Ähnliche Konzepte einer bewussten Übertragung des Geistprinzips finden sich auch in hindu-tantrischen Überlieferungen (dort als Utkranti bezeichnet).
- Altes Ägypten: Die alten Ägypter unterschieden mehrere Seelenaspekte. Der Ba, oft als Vogel mit Menschenkopf dargestellt, galt als Seelenvogel, der den Körper nach dem Tod (und der Überlieferung nach sogar im Schlaf) verlassen und umherfliegen konnte. Der Ba musste regelmäßig zum Leichnam zurückkehren, was den aufwändigen Mumifizierungsritus erklären mag. Dieses Konzept zeigt Parallelen zur Idee eines umherwandernden Bewusstseins, das vom physischen Träger getrennt existieren kann.
- Schamanismus: In vielen indigenen Kulturen praktizieren Schamanen den Seelenflug. Dabei versetzt sich der Schamane in Trance und schickt sein Bewusstsein auf Reisen – sei es, um in der Geisterwelt Wissen zu erlangen, Heilrituale durchzuführen oder verlorene Seelen zurückzubringen. Diese schamanische Reise wird explizit als Verlassen des Körpers beschrieben: Der Geist des Schamanen begibt sich auf Wanderschaft, während sein Körper in der materiellen Welt zurückbleibt.
- Westliche Esoterik: In der westlich-okkulten Tradition des 19./20. Jahrhunderts entwickelten Theosophen, Rosenkreuzer und andere Magier detaillierte Lehren vom Astralleib. Sie behaupteten, der Mensch besitze einen subtilen zweiten Körper, der bewusst vom physischen gelöst und auf Astralreise geschickt werden könne. Zahlreiche Berichte – etwa aus der Tradition der Hermetic Order of the Golden Dawn – beschreiben solche außerkörperlichen Erfahrungen. Oft wird dabei das Bild eines feinstofflichen „Silberstrangs“ bemüht, der den Astralkörper mit dem physischen verbindet. Auch in christlichen Heiligenviten (etwa bei Hl. Antonius von Padua oder Padre Pio) und in sufischen Geschichten finden sich Motive des Erscheinens an fernen Orten durch Geistprojektion.
Diese Parallelen zeigen, dass die Vorstellung der Bewusstseinsübertragung und des Seelenwandels kulturübergreifend fasziniert. Ob man Sutra 3.39 als real mögliche Yoga-Siddhi, als Beschreibung innerer mystischer Erfahrungen oder als Gleichnis für die Entbindung des Selbst vom Materiellen versteht, hängt von der jeweiligen Perspektive ab. Unbestreitbar ist jedoch, dass Patanjali mit diesem Sutra einen der faszinierendsten und am meisten diskutierten Aspekte des Yoga anspricht.
Siehe auch folgende Sutras
Yoga Sutra III-43: Samyama auf die Beziehung von Raum (Äther) und Körper, so dass die Verbindung so leicht wie Watte wird, führt zur Fähigkeit, durch den Raum zu reisen
Zum Schluss 7 ungewöhnliche Fakten rund um das Thema
- Der Begriff „Citta“ bedeutet im Sanskrit ursprünglich „das, was denkt, fühlt und erinnert“. Im Yoga meint es jedoch nicht das Ego, sondern das instrumentelle Bewusstsein – vergleichbar mit einem Interface zwischen Seele und Welt.
- Sutra 3.39 wird in manchen tantrischen Traditionen als Hinweis auf bewusste Reinkarnation gedeutet – der Yogi soll in der Lage sein, bewusst seinen nächsten Geburtskörper zu wählen.
- In alten Schriften wie den Puranas wird von Yogis berichtet, die bei Todesnähe in einen Tierkörper übergingen, um Karma abzulegen oder sich vorzeitig von einem Körper zu lösen.
- Der Übergang des Geistes in einen anderen Körper ist kein ausschließlich indisches Konzept – auch im neuplatonischen Denken und bei Jakob Böhme finden sich ähnliche Vorstellungen von Seelenwanderung und geistigem Übergang.
- Der Kommentar von Vyasa wird oft als die erste systematische Interpretation der Yoga-Sutras angesehen. Viele spätere Kommentatoren – auch in der Neuzeit – beziehen sich direkt auf ihn.
- Samyama ist in der Praxis sehr anspruchsvoll, wird aber in modernen Schulen wie dem Kriya Yoga oder Tantra Yoga stufenweise trainiert – oft unter Verschwiegenheit oder persönlicher Anleitung.
- Es gibt Berichte aus der Parapsychologie, in denen sogenannte bilokale Zustände – also das gleichzeitige Erscheinen an zwei Orten – mit ähnlichen Konzepten wie in Sutra 3.39 verglichen werden.
Ergänzungen und Fragen von dir zur Sutra
Ist etwas unklar geblieben? Kannst du etwas ergänzen oder korrigieren?
Der Stoff der Sutras ist für uns heutige Menschen nicht leicht zu verstehen. Ist im obigen Text irgendetwas nicht ganz klar geworden? Oder kannst du etwas verdeutlichen oder berichtigen? Eine eigene Erfahrung schildern ... Vielen Dank vorab für jeden entsprechenden Hinweis oder eine Anregung:
Videos zu Sutra III-39
Einfühlungsvermögen durch Überwindung der Ichbezogenheit – Kommentar von Sukadev zu Yoga Sutra - Kap. 3, Vers 39
Länge: 10 Minuten
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Chitta übertragen – Kommentar von Anvita Dixit zu Yogasutra 3.39 (bei ihr Sutra 3.38)
Länge: 15 Minuten
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Video von Ahnand Krishna zur Sutra
Kräfte von Samyama, Class 59: Asha Nayaswami zu Sutra 3:37-39
Länge: 75 Minuten
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