Nein. Patañjali spricht in seinem Werk über den geistigen Yoga. Und dennoch meinen viele, daß im Yoga-Sutra auch von den Asanas des Hatha-Yoga die Rede ist. Dabei handelt es sich um ein Mißverständnis, welches eine im Hatha-Yoga wichtige Frage entscheidend beeinflußt hat: Wie lange soll man in den Asanas verweilen? Betrachten wir kurz die zwei Abschnitte des Sutra, bei denen es um den Atem und um den Körper geht.
Von den 195 Sätzen des Sutra handeln zwei vom Pranayama (II, 49–50). Shri Patañjali beschränkt sich auf seine Erwähnung, setzt ihn als bekannt voraus. Außerdem, und dies ist viel wichtiger, betont er nur die meditative Bedeutung des Atems (I, 34 und II, 51, 52, 53). Das leuchtet ein. Der Sinn des Pranayama ist das Erwachen und Aufsteigen der Kundalini. Von Chakras, von einer Urkraft, von ihrer Beeinflussung mittels körperlicher Übungen und Atemtechniken, Begriffe aus der tiefgründigen Welt des Tantra, ist im Sutra nichts zu finden. Shri Patañjalis Schwerpunkt waren nicht die mannigfaltigen, ohne Zweifel wichtigen Übungen des Tantra, vielmehr die Essenz aller Übungen und Wege: Konzentration und Meditation. Bereits bei den Atmungen ist dies zu erkennen; ihre höchste Stufe ist keine Technik, vielmehr der völlig ruhige, fast unmerkliche Meditationsatem, bei welchem von einer Kontrolle des Ein- und Ausatems nicht mehr gesprochen werden kann. Auch daran sieht man, daß Shri Patañjali durchgehend den geistigen Anteil der Dinge betont.
Von den 195 Sätzen des Sutra handeln vier von EINER Körperstellung, und wie das Atmen ist auch sie nur auf das Meditative bezogen. Welche Stellung? Mit Asana (wörtlich: »das Sitzen«) sind hier weder Dehnungen noch Kraftübungen gemeint, auch nicht der Kopfstand (eine typisch tantrische Technik zur Erweckung der Urkraft) und anderes, sondern eine beliebige, für die Meditation geeignete Sitzhaltung. Man betrachte die zusammengehörenden Sätze II, 46–49. Obwohl man Patañjalis Worte eigentlich nicht mißverstehen kann, sind viele Yogalehrer und Buchautoren der Meinung, mit »Asana« seien hier auch die Stellungen des Hatha-Yoga gemeint. Zu welcher Konsequenz hat dies geführt?
Es gibt den Fachbegriff Asana-siddhi, die Vollkommenheit im Asana. Diese ist erreicht, wenn man mehr als drei Stunden lang ohne Schwierigkeit in einer (Sitz-!)haltung verweilen kann. Logisch und in der Praxis für jeden nachvollziehbar. Man nehme einen beliebigen Meditationssitz mit gekreuzten Beinen. Schon nach wenigen Minuten schlafen die Füße ein, schmerzen Knie und Rücken, sind Schultern und Nacken verspannt. »Die Versenkung in das Unendliche« (II, 47) klingt wie ein Hohn! Mit Geduld und Ausdauer aber wird der Sitz besser. Irgendwann spürt man den Körper vielleicht erst nach einer halben Stunde, und man muß die Beine ausstrecken und den Rücken lockern. Mit zunehmender Übung kann man länger und länger verweilen. Der Yoga setzt einen Maßstab: Wer über drei Stunden ungestört sitzen kann, hat es geschafft (siddhi = das Gelingen): Die Haltung ist so angenehm, daß man den Körper nicht mehr wahrnimmt. Dann, und nur dann kann der Geist in die Meditation eintauchen.
Nun verhält es sich so, daß seit langer Zeit mit »Asana« nicht mehr allein »der Sitz«, sondern allgemein »die Körperhaltung« verstanden wird: Bhujangasana, Trikonasana, Chakrasana, Shalabhasana, Shirshasana …
Asana-siddhi auf solche Haltungen anwenden zu wollen – das geht selbstverständlich nicht. Der wie immer pragmatische Mensch sagt in diesem Fall, um nicht von seinem Standpunkt abweichen zu müssen: Man halte alle Stellungen »so lange wie möglich«. Eine zu glatte Formulierung, die es erlaubt, bequem einen Bogen um den Begriff Verantwortung zu machen, denn damit läßt man den Schüler alleine. Was bedeutet »so lange wie möglich«? Bei Shalabhasana kann es ja nur um Sekunden gehen, in der Kobra vielleicht um eine Minute, im Kopfstand dagegen pflegen »fortgeschrittene« Yogis eine Stunde und länger zu verweilen, ebenso in anderen Stellungen, welche in mehrfacher, vor allem in gesundheitlicher Hinsicht problematisch sind. Von einem der prominentesten Hathayoga-Meister Indiens hören wir die kuriose und für die Tradition dennoch typische Behauptung: »Bleibt man in der Zange drei Stunden und achtundvierzig Minuten sitzen [= asana-siddhi], dann besteht die Möglichkeit, daß sich spontan ein Samadhi-Zustand einstellt.« Daß es sich hier nicht um einen einmaligen Ausrutscher handelt, beweist die darauffolgende Feststellung: »Der Nutzeffekt der Zange steht in direktem Zusammenhang mit der Zeitdauer. Sie gehört zu den Asanas, die man stundenlang praktizieren muß und kann.«
Vor allem in indischen Yogabüchern findet man viele Sätze wie die gerade erwähnten. Sie sind durchaus logisch, wenn man den Begriff Asana-siddhi von den Sitzhaltungen auf die Körperstellungen überträgt, kennzeichnen aber einen falsch verstandenen Hatha-Yoga. Gerade die Zange (Pascimottanasana) eignet sich hier gut als Negativbeispiel. Selbst bei korrekter, und das muß bedeuten: bei vollkommener Ausführung, nämlich mit geradem Rücken, sollte sie maximal eine Minute gehalten werden: eine gewisse Streckung der Rückseite, eine Kompression der Bauchseite. Nun wird aber die Zange in der Regel falsch, mit rundem Rücken gemacht, und stellt so bereits bei kürzester Verweildauer eine gefährliche Belastung der Kreuzgegend dar. Ein Samadhi-Zustand stellt sich gewiß nicht ein; man darf sich beim Schicksal bedanken, wenn man nicht mit einem Bandscheibenvorfall in der Notaufnahme einer Klinik landet.
Es sei festgehalten: Erstens, Asana-siddhi betrifft ausschließlich Sitzhaltungen zum Zwecke der Konzentration und Meditation. Zweitens, Shri Patañjali kann mit Asana im Satz 46 nicht generell die Asanas des Hatha-Yoga gemeint haben, sonst wären seine nachfolgenden Bemerkungen unsinnig.
II, 46: sthira-sukham-asanam = heißt das »der Sitz – oder die Körperstellung – sei fest und angenehm«? Die Frage erübrigt sich, wenngleich man darüber theoretisieren mag, ob die Heuschrecke, das Rad und ähnlich intensive Stellungen fest und angenehm sind. Für die nächsten Sätze scheidet aber auch diese Interpretation aus. II, 47: »Dies (d.h. der feste und angenehme Sitz) gelingt durch das Schwinden der Anstrengung und durch Versenkung in das Unendliche.« II, 48: »Von da her entsteht das Nichtgestörtwerden durch die Gegensätze.« II, 49: »In diesem (Asana) seiend, übe man den Pranayama.« Dies alles kann sich einzig und allein auf eine Sitzhaltung beziehen.
© Helmuth Maldoner. Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch »Die Heilwirkungen des Yoga«:
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