Tataḥ kṣīyate prakāśāvaraṇam
ततः क्षीयते प्रकाशावरणम्
Nun kommt Patanjali zu den Vorteilen der Pranayama-Praxis, dem Lohn. Wir zerstören damit den Schleier, der uns die tiefe Erkenntnis verdeckt. Doch was hat es mit diesem Schleier auf sich und was genau verdeckt er?
In II-52 thematisiert Patanjali einen Schleier über unserer Wahrnehmung, der von Pranayama aufgelöst werden kann ► Deutungen des Schleiers ► Was ist das innere Licht? ► Wirkungsabläufe von Pranayama ► Übersetzungsalternativen
1. Bedeutung und Übersetzung des verwendeten Sanskrits
Zunächst hier die Übersetzungsmöglichkeiten für die einzelnen Worte, damit du die Übersetzung selbst für ein besseres Verständnis variieren kannst:
- Tatah, tataḥ = dann; davon; deshalb; daraus; dadurch;
- Ksiyate, kṣīyate, kshîyate = reduziert sich; wird aufgelöst; verschwindet; baut ab; wird zerstört; wird verringert;
- Prakasa, prakāśa, prakâsha = Licht; Leuchten; leuchtend; hell; Klarheit; Glanz;
- Avarana, āvarana, âavaranam = Schleier; Hülle, Verhüllung; Bedeckung; Vorhang; Schirm; Verborgenheit;
Zu den Quellen
Buchbesprechungen, Erläuterungen zur Auswahl der Übersetzungsvarianten und allgemeine Hinweise zur Sutraübersetzung findest du im zugehörigen Artikel. Hier nun die Kurzauflistung:
Bücher
- Mircea Eliade: Yoga – Unsterblichkeit und Freiheit
- Iyengar: Der Urquell des Yoga
- Deshpande/Bäumer: Die Wurzeln des Yoga
- Geraldine Coster: Yoga und Tiefenpsychologie
- R. Sriram: Von der Erkenntnis zur Befreiung – Das YogaSutra
- Govindan: Die Kriya Yoga Sutras des Patanjali
- Mallinson/Singleton: Roots of Yoga
- R. Palm: Der Yogaleitfaden des Patañjali
- T.K.V. Desikachar: Über Freiheit und Meditation | Das Yoga Sutra von Patanajali
- Feuerstein, Georg: Die Yoga Tradition (Amazon)
- Skuban, Ralph: Patanjalis Yogasutra (Amazon)
- Sri Swami Satchidananda: The Yoga Sutras of Patanjali (Amazon)
Internetseiten
- Internet-Übersetzung des Yogasutras auf Yoga-Vidya.de
- Zu den Sutras auf ashtangayoga.info
- Zu den Sutras auf 12koerebe.de
- Zu den Sutras auf vedanta-yoga.de
- Openland.de (mittlerweile offline)
- Zu www.bodhi.sofiatopia.org (buddhistische Kommentare zum Yogasutra nur noch als Buch)
- sanskrit-sanscrito.com (Sutras anscheinend entfernt)
- Zur Übersetzung von Chip Hartranft (PDF)
- Die Übersetzung von Hariharananda Aranya, I. K. Taimni, Vasa Houston, Barbara Miller, Swami Satchidananda, Swami Prabhavananda, Swami Vivekananda finden sich auf dieser Seite.
- Übersetzung von James Haughton Woods
- Rainbowbody.com (ausführliche und eigene Kommentierung)
Dein Übersetzungsvorschlag
Du findest die bisherigen LeserInnen-Übersetzungen und -Ergänzungen unten.
Hast du einen eigenen Übersetzungsvorschlag?
Wie würdest du diese Sutra übersetzen? Manchmal ergeben schon kleine Wortveränderungen ganz neue Aspekte. Trau dich ... :-)
3. Wo wir stehen
Hier findest du eine kurze Zusammenfassung des 2. Kapitels des Yogasutras bis zu Sutra II-51:
Yoga Sutra - 2. Kapitel - bis hierher
Wir befinden uns im zweiten Kapitel des Yogasutra von Patanjali. Es handelt von der „Praxis“. Patanjali beginnt das Kapitel mit dem Versprechen, dass Yoga die Leiden des Yogis vermindere und (irgendwann) zu Samadhi, zur allumfassenden Freiheit führe.
In Sutra II-3 bis II-11 schildert Patanjali die fünf Haupt-Hindernisse auf dem Yogapfad, die sogenannten Kleshas (Unwissenheit, Anhaftung, Ablehnung, Ego, Lebensdrang). Erste Wege zur Überwindung der Hindernisse werden angerissen (Gegenschöpfung, Meditation).
Sutra II-12 bis II-15 handeln von Karma (Folgen von Handlungen und Gedanken, die aufgrund der Kleshas geschehen) und dem inhärenten Leid von allem und jedem in dieser Welt. Grundübel ist dabei unsere Identifikation mit dem, was wir nicht sind.
Dann geht es bei den Sutras weiter mit den Schritten, das Leiden zu besiegen. Patanjali sieht es als „die“ Aufgabe des Yogis an, den Unterschied zwischen Sehenden und Gesehenem zu erkennen. Nach und nach sollte diese Erfahrung kultiviert und ausgebaut werden. So gelange man zur Freiheit – Kaivalya (auch mit „letzter Freiheit“, Isoliertheit (Alleinheit), höchster Befreiung oder „vollkommener Erlösung“ übersetzt.
Nachdem Patanjali in den Sutras II-18 und II-19 über Prakriti, die Natur/unsere Welt, gesprochen hat, geht er dann auf deren Beobachter, den Seher (Purusha) und dessen Wahrnehmung ein. Von Sutra II-20 bis Sutra II-27 erläutert Patanjali Grund und das Zustandekommen unserer Existenz, wie die Unwissenheit unser Dasein bestimmt und dass Viveka Khyati, die Unterschreidungskraft oder unterscheidende Wahrnehmung, dauerhaft angewendet unsere Unwissenheit beendet. In den Sutras II-28 bis Sutra III-8 gibt Patanjali die konkrete Praxisempfehlung Ashtanga Yoga, um unser falsches Bild von der Welt – das Leid verursacht und unsere Befreiung verhindert – auch ohne großes spirituelles Talent zu überwinden. Den achtfachen Pfad des Raja Yoga, des königlichen Yoga.
In Sutra II-30 zählt Patanjali auf, was zur ersten Stufe des Pfades, den Yamas, gehört, in II-31 betont er deren universelle Gültigkeit. In II-32 listet er die Niyamas auf, die yogischen Empfehlungen für den Umgang mit uns selbst. In II-33 und II-34 benennt er, welche Folgen sich daraus ergeben, wenn unser Geist sich weigert, die Yamas und Niyamas zu befolgen und was wir dagegen tun können: die Kultivierung des gegenteiligen Gedankens/Zweifels (Pratipaksha Bhavana). Die Sutra II-35 (Ahimsa-Nichtverletzen) bis II-39 (Aparigraha-Begierdelosigkeit) schildern die besonderen Kräfte und Fähigkeiten, die ein Mensch erlangt, wenn er die Yamas tief in sich verwurzelt. In den Sutras II-40 bis II-45 schildert Patanjali die segensreichen Folgen Einhaltung der Niyamas.
Sutra II-46 bis II-48 handeln von Asana, der (Sitz-)Haltung. Patanjali fordert hier:
- II-46: unbewegt und bequem
- II-47: entspannen und auf das Unendliche ausrichten
- II-48: wenn gemeistert, frei von Dvandvas (Gegensatzpaaren)
In Sutra II-49 bis II-53 kommen wir zur vierten Stufe des achtfachen Pfades (nach Yama, Niyama und Asana): dem Pranayama. Iyengar: „Pranayama .... ist für den Yoga das, was das Herz für den menschlichen Körper ist“.
In Sutra II-50 erläutert Patanjali, was Pranayama beinhaltet und wie es geübt wird. In Sutra II-51 ergänzt Patanjali eine geheimnisvolle vierte Art des Pranayamas. In Sutra II-52 verspricht Patanjali, dass Pranayama den Schleier über unserer Wahrnehmung auflöst.
4. Der Weg zur Klarsicht
In den letzten Sutras schildert Patanjali folgenden Weg:
- Eine unbewegte aber bequeme Meditationshaltung lange Zeit einnehmen können (Sutra II-46, II-47 und II-48).
- Dann mit Pranayama beginnen und so üben, dass die Atmung immer länger und subtiler wird (Sutra II-49 und II-50).
- Irgendwann kommt es zur „Vierten Art des Pranayama“, vermutlich Khevala Khumbaka, bei dem der Atem (fast) völlig zum Stillstand kommt (Sutra II-51).
- Dieses Vorgehen würde dann einen Schleier beim Yogi entfernen (diese Sutra).
Man könnte es also so betrachten, dass es beim Pranayama zunächst darum geht, den Atem immer ruhiger werden zu lassen, was dann geistige und körperliche Reinigungsprozesse befördert, die Verschmutzungen (im Geist) entfernen, so dass wir in tiefe Meditation gelangen können, welche dann zu neuen Erkenntnissen führt.
5. Was ist der „Schleier“ (Avarana)?
Der Schirm/Schleier vor dem Licht. Vyasa, der erste Kommentator des Yogasutra, nennt diesen „Schmutzfilm, welcher das Licht verdeckt“ (Palm, S. 127) schlicht: Karma. Pranayama ist für Vyasa die „höchste Form reinigender Kasteiung“.
Iyengar sagt, dieser Schleier, der die Intelligenz verdunkle, aus „Unwissenheit, Begierde und Verblendung bestehendem Wahn“ bestehe. Für Desikachar sind es schlicht Blockaden.
Govindan (S. 101): „... wie ein Schleier Faden für Faden entfernt werden kann, beseitigt pranayama einen nach dem anderen die Gedanken“, welche für die innere Dunkelheit verantwortlich zeichnen. Mit dem Schleier seien wir wie Kinder, die – meiner Meinung nach übrigens eine nachdenkenswerte Metapher – beim Anblick eines Holzpferdes nur das Pferd sehen, nicht das Holz ...
Swami Satchidananda: „Der Geist ist ein Schleier, gewoben aus Gedanken.“ Darum habe der Geist keine eigene Substanz. Wenn wir Gedanke um Gedanke entfernen, bleibt nichts übrig.
6. Was ist mit "Licht" gemeint?
Hierfür gibt es ebenfalls verschiedene Deutungen:
- Dr. Steiner: Licht des wahren Selbst
- Sriram, Rainbowbody: das innere Licht
- C. Hartranft: Leuchtkraft des Geistes
- Pradipaka: wahres Wissen
- S. Vivekananda: Licht des Chitta.
Die positive Sicht des Yoga auf den Menschen
Sukadev macht darauf aufmerksam, dass sich an dieser Sutra zeigt, dass Yoga „das positivste aller Menschenbilder“ hat: Wir sind schon lichtvoll, unsere wahre Natur ist Freude, Licht, reines Wissens. Dieser inneren Kern wird nur verhüllt von einem Schleier und Pranayama vertreibt diesen Schleier.
7. Energie durch Pranayama
Ein Ziel von aktivem Pranayama besteht darin, mehr Energie, Kraft, Antrieb zu haben. Dies wirkt sich förderlich auf die Stimmung aus, steigert die Freude. Die Welt strahlt heller – auch das könnte man als ein Licht ansehen, das entschleiert wird und dadurch heller scheint.
So schreibt Sukadev: „Wer regelmäßig pranayama übt, hat ein Gefühl von Licht, von Leichtigkeit, von Erleuchtung, von Energie, fühlt sich sehr licht, leicht und weit.“
8. Sichtweise im Pātañjalayogaśāstra (Kommentar Yogabhāṣya)
Vyasa, ältester bekannter Kommentator des Yogasutras (zitiert aus Roots of Yoga S. 140ff): „Für den Yogi, der [diese] Atemkontrollen praktiziert, wird die Aktivität, die das unterscheidende Wissen verschleiert, vermindert. Diese [Aktivität] wird als Bedeckung der natürlich leuchtenden Essenz des Guten (sattva) mit einem magischen Netz aus der großen Verblendung erklärt, und dann wird dieselbe Essenz des Guten mit dem beschäftigt, was nicht getan werden soll. So wird durch die Praxis der Atemkontrolle die Handlung, die das Licht dieses [Yogis] bedeckt und [ihn] an das Rad der Wiedergeburt bindet, schwach und wird kontinuierlich vermindert.
So wird gesagt: Es gibt keine Entbehrung, die der Atemkontrolle überlegen ist. Sie führt zur Reinigung von Unreinheiten und zur Erleuchtung des Wissens.“
9. Ein Standpunkt: nur wahrnehmen, nicht manipulieren
Wie schon in den Sutras zuvor thematisiert, beharren Kommentatoren wie Rainbowbody darauf, dass Pranayama (lediglich) bewusstes Wahrnehmen des Pranas in uns ist, sie lehnen die Manipulation des Atems durch Atemtechniken ab, zumindest bei unerfahrenen Yogis.
Atembeobachtung ist hierbei der erste Schritt, unsere Empfindungen sollen dabei immer subtilere Strömungen wahrnehmen können, so dass wir irgendwann das Prana, die subtile Energie in uns, wahrnehmen.
Dabei kommt es zu inneren Reinigungsprozessen, zuerst bei den Nadis. Rainbowbody schreibt im Kommentar zu dieser Sutra: „Die Abdeckungen, Knicke und Blockaden der Kanäle, Marmas, Nadis, Fäden und Energie-Lichtbahnen des Yogis müssen geöffnet werden. Pranayama ist also der Prozess der direkten Arbeit mit der Energie (Prana), den Nadis (Kanälen) und der inneren Alchemie (Bindu). Es wird vor den Unwissenden verborgen gehalten, weil ohne direkte reine Wahrnehmung Schaden angerichtet werden kann. Ihre Geheimnisse offenbaren sich von selbst, wenn Vidya (reine Wahrnehmung) Avidya (Verwirrung) ersetzt.“
10. Siehe zum Vergelich die folgende Sutra
Yoga Sutra I-27: Ishvara zeigt sich in dem Wort OM (Pranavah)
11. Übungsvorschlag zu Sutra II-52
Visualisiere die Nadis in dir (zum Beispiel Sushumna-Nadi entlang der Wirbelsäule und die beiden Nadis daneben) und fülle diese geistig mit Licht. Versuche, dieses Licht als fließende Energie zu spüren.
Meine Erkenntnisse/Erfahrungen bei/mit dieser Übung
12. Dein Feedback / deine offene Frage an den Text
Ist etwas unklar geblieben? Kannst du etwas ergänzen oder korrigieren?
Der Stoff der Sutras ist für uns heutige Menschen nicht leicht zu verstehen. Ist im obigen Text irgendetwas nicht ganz klar geworden? Oder kannst du etwas verdeutlichen oder berichtigen? Eine eigene Erfahrung schildern ... Vielen Dank vorab für jeden entsprechenden Hinweis oder eine Anregung:
Hier die bisherigen Antworten anschauen ⇓
Antwort 1
Großartig beschrieben! In knappen Worten.
Wunderbare Arbeit machst du mit diesem Newsletter!
Ein gutes neues Jahr wünsche ich.
MAY SHIVA BLESS YOU!
MAHADEV
13. Videos zu Sutra II-52
Sukadev zur Sutra II-49 bis Sutra II-53
Länge: 21 Minuten
Video von Desikachar zur Sutra
Desikachar Video zu Sutra II-51 bis II-53
Länge: 48 Minuten
Video von Asha Nayaswami zur Sutra
Asha Nayaswami zu Sutra II-46 bis II-55
Länge: 70 Minuten
14. Pranayama auf Yoga-Welten.de
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- Yoga Sutra zum Pranayama (II-49)
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