Kein Ich, kein Problem – Buchkritik & Zusammenfassung | von Dr. Chris Niebauer
Das Ich bzw. das Ego ist in spirituellen Kreisen als Problemquelle Nummer 1 verschrien. Gleichzeitig fungiert es – zumindest im westlichen Kulturkreis – als Identifikationskern eines Menschen.
Dr. Chris Neubauer hat in seinem Buch „Kein Ich, kein Problem“ den aktuellen Forschungsstand zum Ego zusammengefasst und vergleicht die Erkenntnisse mit den Lehren Buddhas. Dabei haben sich erstaunliche Übereinstimmungen ergeben. Durch die Schilderung aktueller Studien zum Thema ergeben sich neue Wege, das mysteriöse Ding namens Ego zu verstehen und zu entlarven.
Zusammenfassung der Kerninhalte aus dem Buch ► Übungen, um dem Ego auf die Schliche zu kommen ► anschauliche Beispiele aus der modernen Neurologie-Forschung ► Auswege auch dem Ich-Verhaftetsein ► Zitate aus dem Buch

1. Das Ich und unsere Probleme damit
Niebauer start sein Buch mit der Einführung in die Ego-Thematik, sowohl von Seiten der Hindu-, Buddhismus-, als auch Taoismus-Lehre und vergleicht diese mit der Warte der aktuellen Neuropsychologie. Heutzutage, so Niebauer, habe man erkannt, dass unser Ego in der interpretierenden Instanz unserer linken Gehirnhälfte seinen Ursprung hat.
1.1. Die Zufallsentdeckung des Übeltäters „Ich“
Niebauer schildert, wie Dr. Michael Gazzaniga in den 1960er-Jahren mit neuen experimentellen Ansätzen dem Ego auf die Spur kam. Hierbei kam zum ersten Mal der Gedanke auf, dass das Ich nicht in der Form existiert, wie wir es annehmen. Gazzaniga sprach später vom „fiktiven Ich“.
Unser Gehirn ist in zwei Hälften geteilt, die über einen dicken Faserstrang miteinander verbunden sind und auf diesem Wege ständig miteinander kommunizieren. Bei einigen schweren Epileptikern hatten Gazzaniga und andere damals diese Verbindung aus 800 Millionen Nervenfasern gekappt. Man erhoffte sich davon eine Linderung der Krankheit. Gleichzeitig konnte man nun leichter der jeweiligen Gehirnhälfte Aufgaben und Funktionen zuordnen.
Hierbei fand Gazzaniga heraus, dass unsere linke Gehirnhälfte (ständig) Erklärungen und Gründe für das Geschehen um uns herum „erschafft“. Sie interpretiert unsere Erlebnisse, deutet die Wirklichkeit. Leider liegt sie damit nicht selten vollkommen falsch, unter anderem bei der Erschaffung dieses Dings namens „Ich“.
1.2. Wir verwechseln Speisekarte und Speise
Die interpretierende Instanz in uns bedient sich dabei zweier Hilfsmittel: Sprache (auch innere Rede) und Kategorisierung. Der innere Dialog, der bei uns allen ständig stattfindet, „spielt eine zentrale Rolle beider Erschaffung des Trugbilds, das wir Ich nennen“. Weiter schreibt Niebauer:
„Sprache erschafft eine Geschichte, und in Verbindung mit unseren Erinnerungen und dem Gefühl, hinter unserer Stirn befände sich eine Kommandozentrale, erzeugt diese Geschichte die Illusion eines Ichs.“
Und mit dem würde sich praktisch jeder Mensch auf Erden identifizieren.
Das Problem mit der Sprache sei unter anderem, dass diese – wie die Landkarte gegenüber dem realen Gebiet – nur ein vereinfachendes Abbild der Wirklichkeit ausdrückt, nicht die Wirklichkeit selbst. Sie ist die Speisekarte, nicht die Speise.
1.3. Leit und Zeitverlust
Ein Hauptproblem der Interpretationen der linken Gehirnhälfte liegt darin, dass wir die Illusion haben, dass wir dabei Regie führen und nicht an der Nase herumgeführt werden. Zusätzlich wird ein Bild von uns geschaffen, dass wir auf Teufel komm raus verteidigen und dabei viel Energie und Zeit aufwenden. Und natürlich leiden, wenn wir dieses Ego verletzt oder in Gefahr sehen.
Niebauer verweist darauf, dass eine „verletzende“ Äußerung eines Menschen mir gegenüber nur als „verletzend“ empfunden wird, weil ich diese Worte so interpretiere. Weil ich ein Ich gebildet habe, dass verletzt werden kann. Hätte ich dieses nicht ausgebildet, fragt Niebauer weiter, könnten dann Worte über dieses Ich verletzend wirken?
1.4. Unnötige Sorgen und Ängste
Fehlzuschreibung von Erregung: Immer, wenn unser Nervensystem von irgendetwas erregt wird, erfindet die linke Gehirnhälfte eine Geschichte zu diesem Signal, die auch völlig falsch sein kann. Zum Beispiel, dass ein Absinken des Flugzeugs in einem Luftloch auf ein schwerwiegendes Problem hindeutet und deshalb Panik in uns aufsteigt. Ein aufmerksames Beobachten unserer alltäglichen Gedanken würde viele weitere Beispiele zutage fördern.
„Hör auf zu denken – und beende deine Probleme.“
Laotse
2. Auswege aus dem Ich-Verhaftetsein
Zwar ist die linke Hirnhälfte – so Niebauer – stets „eingeschaltet“, aber wenn man sich derer ständiger Interpretationen bewusst werde, würde eine neue Wahrnehmung der Welt und seiner selbst eintreten (S. 37). Was können wir darüber hinaus tun?
Niebauer schildert im Buch den Fall der Neuroanatomin Dr. Jill Bolte Taylor. Sie hatte einen Schlaganfall erlitten, der praktisch die gesamte linke Hirnhälfte ausschaltete. Die Folge war, dass Taylor in einen Zustand geriet, den sie als „Nirwana“-Erfahrung bezeichnete:
- Sie erlebte sich nicht mehr als abgegrenzt, ihre eigenen Grenzen gegenüber der Umwelt wurden fließend.
- Sie sah sich einem wachsenden „Gefühl von Gnade“ gegenüber.
- Sie war vollständig im gegenwärtigen Moment.
- Sie erlebte tiefe Ruhe.
- Sie empfand sich als mitfühlend, fürsorglich und „ewig optimistisch“.
Dennoch hat Dr. Taylor jahrelange Reha-Maßnahmen durchgeführt, um ihre linke Hirnhälfte wieder zu regenerieren. Denn ohne diese ist Arbeit, Orientierung im Leben usw. nicht möglich. Dennoch hat sie sich die Fähigkeit erhalten, sich bewusst in die Glückseligkeit der linken Gehirnhälfte einzuschalten.
Die rechte Hirnhälfte denkt nicht verbal und kann leicht als „stumm“ gesehen werden, aber sie verfügt über ihre eigene Intelligenz und ihre eigenen Mitteilungswege (Gefühle, Intuition, Kreativität ...). Die rechte Hirnhälfte agiert nach dem Motto der Firma Nike „Just do it!“.
Niebauer plädiert nicht dafür, der rechten Hirnhälfte stets die Dominanz zu gewähren oder gar die linke Hirnhälfte dauerhaft „auszuschalten“. Vielmehr wäre es zielführend, die ständige Dominanz der linken Hirnhälfte bei Bedarf herunterzuregeln und – parallel dazu – die vernachlässigte rechte Hirnhälfte zu stärken.
2.1. Übungen zur Förderung der rechten Hirnhälfte
Folgende Ideen hat Niebauer, damit wir das Bewusstsein der rechten Hirnhälfte erleben:
- Yoga (ohne zu denken)
- Meditation
- Achtsamkeitspraxis
- Tai-Chi und Qigong
- Atemtechniken bzw. bewusstes Atmen
- Arbeiten im Flow (in der „Zone“)
- Musik machen, malen, schreiben
- Generell die linke Hirnhälfte aus Tätigkeiten auszuschließen, z. B. indem man etwas grundlos tut, ohne (Gewinn-)Absicht oder Ziel.
- Die eigenen Gefühle beobachten, sobald sie sich regen.
- Das Gefühl der Dankbarkeit hegen, pflegen und stimulieren.
3. Zitate aus dem Buch
„Die meisten Menschen wissen nicht, dass wir eine Vorliebe für die rechte Seite haben; das heißt, wenn mehrere ähnliche Dinge vor uns liegen, bevorzugen wir tendenziell das Objekt auf der rechten Seite.“ S. 29
„.... zeigte sich auch in diesen Studien, dass der interpretierende Teil unseres Denkens Geschehnisse oder Tatsachen einfach irgendwie erklärt, obwohl er gar nicht weiß, wie sie wirklich zustande gekommen sind. Auch hier muss die Erklärung nichts mit der Realität zu tun haben.“ S. 35
„Einer der Grundsätze östlicher Philosophien und insbesondere des Buddhismus lautet, dass wir nicht unsere Gedanken und Überzeugungen sind.“ S. 57
„In der rechten Hirnhälfte gibt es eine Intelligenzquelle, die das Verständnisvermögen der interpretierenden Instanz in der linken Hirnhälfte übersteigt.“ S. 128
Im Buddhismus wird Mitgefühl oft beschrieben als „die Fähigkeit, einen anderen Menschen so zu sehen, als wäre er ich“ oder „die Verbundenheit von allem mit allem zu erkennen“. S. 141
„... weil die interpretierende Instanz in der linken Hirnhälfte nicht nur sehr überzeugend ist in ihrer illusionären Natur, sondern auch alles daransetzt, dass ihre Fiktionalität nicht bemerkt wird.“ S. 149
4. Weitere Themen: von Raum, Sinn, Leere und Verständnis
Niebauer streift im Buch noch zahlreiche weitere Themen, schildert spannende Beispiele dazu oder gibt Übungen zur Selbstüberprüfung an die Hand. Diese Inhalte in Stichworten:
- Metaphern und wie wir sie nutzen
- Verständnis beim Lesen von Texten erhöhen
- Raum, Leere und räumliche Verarbeitung (und philosophische Gedanken dazu)
- Übung: sich auf den Raum zwischen den Dingen zu konzentrieren.
- Übung: sich auf die Stille zwischen zwei Tönen zu konzentrieren.
- Intuition ist eine Form der Intelligenz, die dem Wissen der linken Hirnhälfte in gewisser Weise (aber nicht immer) überlegen ist.
- Eventuell entsteht Bewusstsein (auch) dadurch, dass unser Gehirn ein „größeres Bewusstseinsfeld anzapft“.
- Entsteht Materie durch Bewusstsein?
- Agieren wir alle nur in einem großen „Spiel des Lebens“? Niebauer schlägt einen Mittelweg vor, wie wir ohne viel Leid im Spiel mitmachen können, aber dennoch an unserer Erleuchtung arbeiten: dem Freisein von den Beschränkungen und dem Leid durch unser Ich-Gebilde. Ein zentraler Baustein hierfür liegt darin, sich immer wieder die Frage zu stellen:
Wer bin ich?
5. Zusammenfassung / Buchkritik
Dr. Chris Neubauer hat ein hochinteressantes Buch zum Thema Ego-Ausbildung, dessen leidvolle Folgen und Auswege aus diesem Dilemma geschrieben. Dabei bedient er sich spannender Erkenntnisse der modernen Neuropsychologie und verdeutlicht diese mit anschaulichen Beispielen. Allen, aber nicht nur denen, die mit dem schwammigen Begriff „Ego“ bisher nicht viel anzufangen wissen, sei dieses Buch ans Herz gelegt.
Das Buch steckt voller interessanter Fakten, Ideen, Geschichten und Übungen. Diese plätschern aber alle in durchgehenden Fließtexte dahin. Hervorhebungen, Listen, Zeichen für wichtige Stellen, auflockernde Kästen oder knappe Zusammenfassungen sucht der Leser meist vergebens. Diese wären der praktischen Nutzbarkeit des Buches sehr zugutegekommen. Dem Leser bleibt nichts anderes übrig, als für ihn wichtige Punkte herauszuschreiben oder zumindest im Buch deutlich zu markieren, um den Lesestoff selbst für sich nutzbar zu machen. Ansonsten bleibt es vermutlich bei einem „interessant“ und „weiter wie bisher“.
6. Über den Autor
Dr. Chris Niebauer studierte kognitive Neuropsychologie an der University of Toledo in Ohio, USA. In seiner Forschung konzentriert er sich auf die linke Gehirnhälfte. Themen seiner Studien sind u.a. Bewusstseinsforschung, Rechts- und Linkshändigkeit, Glaube und Selbstbewusstsein. Er arbeitet als Privatdozent für Bewusstseinspsychologie an der Slippery Rock University of Pennsylvania und spielt privat gern Gitarre. Im folgenden Video gibt Niebauer ein Interview (auf englisch) zu diesem Buch:
Länge: 65 Minuten
7. Bibliografische Angaben / das Buch kaufen
- Titel: Kein Ich, kein Problem
- Autor: Dr. Chris Niebauer
- Herausgeber: VAK; 1. Edition (26. Oktober 2020)
- Sprache : Deutsch
- Broschiert : 192 Seiten
- ISBN-10 : 3867312400
- ISBN-13 : 978-3867312400
- Originaltitel : No Self, No Problem
- Abmessungen : 13.6 x 1.5 x 21.6 cm
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Zur Freude derer, die an der Buteyko-Methode interessiert sind, kann gesagt werden: Inhalt und Buchqualität werden einem hohen Anspruch gerecht.
Licht und Schatten von Yoga - Rezension "The Science of Yoga" von William J. Broad
Dem Pulitzerpreisträger William J. Broad waren schon mehrere Bestseller vergönnt. So wundert es nicht, dass auch sein Yoga-Buch "The Science of Yoga" ein Verkaufserfolg ist.
Broads Buch basiert auf seinen jahrelangen Nachforschungen zur Wirkungsweise von Yoga. Er recherchierte in indischen Ashrams und versuchte gleichzeitig, alle wichtigen wissenschaftlichen Untersuchungen über Yoga-Übungen auszuwerten. Herausgekommen ist ein spannende (zumindest wenn man sich für Yoga interessiert) literarische Reise durch die Geschichte des Yoga, seine Entwicklung, die unterschiedlichen Stile und Schulen. Die breite Herangehensweise verhindert einen Anspruch auf Vollständigkeit, trotzdem kann dem Autor nicht mangelnder Fleiß vorgeworfen werden, Broad liefert ein breites Spektrum an Erlebnissen, Studien und Einzelschicksalen.
Dass es jedoch derartige Wellen schlug, liegt vor allem am Kapitel "Das Verletzungsrisiko". Dabei praktiziert Broad seit über 40 Jahren Yoga und tut es weiterhin. Nur mit kleinen Änderungen.