Und erneut sprach die Priesterin:
"Sprich zu uns von der Vernunft und der Leidenschaft."
Und er antwortete und sagte:
[er=der Prophet Almustafa, der 12 Jahre auf sein Schiff gewartet hatte, das ihn jetzt endlich in seine Heimat zurückbringen sollte. Vor seiner Abreise baten ihn einzelne Einwohner der Stadt Orphalese, ihnen ein letztes Mal seine Einsichten zu einem bestimmten Thema zu erläutern]
Eure Seele ist oftmals ein Schlachtfeld, auf dem eure Vernunft und eure Urteilsfähigkeit Krieg gegen eure Leidenschaft und euer Verlangen führen.
Könnte ich doch ein Friedensstifter für eure Seele sein, so dass ich die Zwietracht und die Rivalität eurer Geistesbestrebungen [wörtlich: Elemente] in Einheit und Harmonie [wörtlich: Melodie] verwandeln könnte.
Doch wie könnte ich, solange ihr nicht auch Friedensstifter seid, ja, solange ihr nicht all eure Bestandteile liebt?
Eure Vernunft und eure Leidenschaft sind das Ruder und die Segel eurer seefahrenden Seele.
Wenn entweder eure Segel oder euer Ruder brechen, könnt ihr nur hin und her schwenken oder dahintreiben oder inmitten der See stillstehen.
Denn die Vernunft ist eine einengende Kraft, wenn allein sie [euch] führt; und Leidenschaft [hingegen] ist ohne Kontrolle eine Flamme, die bis zu ihrer eigenen Zerstörung brennt.
Darum lasst eure Seele eure Vernunft bis zur Höhe der Leidenschaft erheben; damit sie [dort oben] singen kann;
Und lasst sie [die Seele] eure Leidenschaft mit Vernunft lenken, damit eure Leidenschaft durch ihre eigene tägliche Auferstehung leben kann und wie der Phönix sich über ihre eigene Asche erhebt.
Ich wünschte, dass ihr euer Urteilsvermögen und eurer Verlangen so betrachten würdet, wie ihr zwei geliebte Gäste in euerem Haus betrachten würdet.
Sicherlich würdet ihr nicht einen Gast mehr als den anderen ehren; denn wer einem von beiden mehr Aufmerksamkeit schenken würde, verlöre die Liebe und das Vertrauen von beiden.
Wenn ihr zwischen Hügeln im kühlen Schatten von weißen Pappeln sitzt und den Frieden und die Gelassenheit ferner Felder und Wiesen teilt – dann lasst euer Herz in Stille sagen: "Gott ruht in der Vernunft".
Und wenn der Sturm kommt und der mächtige Wind den Wald schüttelt und Donner und Blitze die Herrschaft des Himmels verkünden – dann lasst euer Herz in Ehrfurcht sagen: "Gott bewegt sich in Leidenschaft".
Und da ihr ein Atemzug in Gottes Sphäre und und ein Blatt in Gottes Wald seid, solltet ihr auch in der Vernunft ruhen und euch in der Leidenschaft bewegen.
Aus: Khalil Gibran "Der Prophet"; Übersetzung mit Anmerkungen: Peter Bödeker (2018)
[...] = Einfügungen von Peter Bödeker
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Yoga-Welten-Beiträge zu Vernunft und Leidenschaft
Die Leidenschaft oder auch Stimme des Herzens ist in den Yoga-Weisen nicht unbekannt:
Wie kann ich die Stimme des Herzens erkennen?
Wie kann ich die Stimme des Herzens erkennen?
In spirituellen Texten, in religiösen Schriften, in Romanen und Lebensberatern liest man oft die Forderung: Höre auf die Stimme deines Herzens. Oder kenne sie zumindest. Die meisten stehen recht ratlos vor dieser Aufgabe und fragen: Wie bitteschön soll ich das bewerkstelligen? Was ist überhaupt die Stimme des Herzens?
Es folgt eine Annäherung an eine Antwort in Zitaten und Übungen.
Auch der Verstand - Buddhi - wurde genau analysiert:
Buddhi
Buddhi meint im Sanskrit Verstand, die Intelligenz, Erkenntnisvermögen oder Unterscheidungskraft.
Glaube mit Verstand
Der Gott, den ich anbete, ist nicht ein Gott der Finsternis; er hat mir den Verstand nicht gegeben, um mir den Gebrauch desselben zu untersagen. Von mir verlangen, meine Vernunft gefangen zu geben, heißt ihren Schöpfer beleidigen.
aus: Émile IV, Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars
von: Jean-Jacques Rousseau, * 28.06.1712, † 02.07.1778, schweizer Philosoph, Schriftsteller und Staatstheoretiker.
Tendenziell geht es aber mehr dahin, das Verlangen und die eigene Leidenschaft zu zügeln. Siehe zum Beispiel:
Yoga Sutra I-30: Diese Hindernisse lauten körperliche Einschränkung, geistige Stumpfheit, Zweifel, Gleichgültigkeit, Faulheit, Haften an Dingen, falsche Anschauung und die Nichterreichung einer geistigen Stufe
... bzw. die Unfähigkeit, darin beständig zu bleiben. Diese Hindernisse zerstreuen den Geist.
yâdhi–styâna–samshaya pramâdâlasyâ–virati–bhrânti–darshanâ–labdhabhûmi–katvânavasthitatvâni chitta–vikshepâs te’ntaraayaaH
व्याधिस्त्यानसंशयप्रमादालस्याविरतिभ्रान्तिदर्शनालब्धभूमिकत्वानवस्थितत्वानि चित्तविक्षेपास्तेऽन्तरायाः
Ziel des Yoga ist Erleuchtung, Erkennen des wahren Selbstes, des Purushas. Der Weg dorthin führt über die Ruhigstellung des Geistes, siehe Sutra I-2. Doch vor den Erfolg hat der liebe Gott ... Hindernisse gestellt.
In dieser Sutra I-30 nennt Patanjali nun neun solcher Hindernisse. Die Kommentatoren nehmen schon einmal die kommenden Sutras vorweg und besprechen Yoga-Wege zu deren Überwindung:
Yoga Sutra I-15: Verhaftungslosigkeit ist erreicht, wenn das Verlangen nach sichtbaren und unsichtbaren Dingen erloschen ist
dṛṣṭa-anuśravika-viṣaya-vitṛṣṇasya vaśīkāra-saṁjṇā vairāgyam
दृष्टानुश्रविकविषयवितृष्णस्य वशीकारसञ्ज्ञा वैराग्यम्
In dieser Sutra beschreibt Patanjali den Endzustand des Übens der Nicht-Anhaftung. Interessant ist, dass viele Kommentatoren diese Sutra dahingehend auslegen, dass Patanjali hierbei auch das Begehren rein spiritueller Wonnezustände im Auge hatte. Sivananda hält (ein wenig) dagegen.
Müssen wir unseren Willen bemühen oder kommt die Freiheit durch das Yoga-Praktizieren quasi "von alleine"?
Yoga Sutra II-15: Für jemanden mit Unterscheidungsfähigkeit ist alles in dieser Welt leidvoll; das liegt an der Vergänglichkeit, unserem Verlangen, den unbewussten Prägungen und an der Wechselhaftigkeit der Natur
Parinâma-tâpa-samskâra-duhkhair guna-vritti-virodhâch cha duhkham eva sarvam vi-vekinah
परिणाम ताप संस्कार दुःखैः गुणवृत्तिविरोधाच्च दुःखमेव सर्वं विवेकिनः
Dieser Aspekt der Karmalehre trifft oft auf taube Ohren, obwohl es sich um eine ganz entscheidende Grundlage aller indischen Philosophien handelt. Wir hören einfach nicht gerne, dass wir letztendlich – wenn wir nur weise genug sind – alles in dieser Welt als unattraktiv und sogar leidvoll ansehen (sollten). Doch obgleich die Konsequenz aus dieser Sutra unangenehm scheint, lohnt es sich, die Auslegungen hierüber zu kennen. Denn auch dieses Postulat aus der Yogaphilosophie können wir positiv für uns nutzen.