Yoga Sutra II-15: Für einen Menschen, der Unterscheidungsfähigkeit entwickelt hat, ist alles in dieser Welt leidvoll; das liegt an der Vergänglichkeit von allem, an unserem Verlangen und an unseren unbewussten Prägungen (samskaras) sowie an der Wechselhaftigkeit der Grundeigenschaften der Natur (gunas).
Parinâma-tâpa-samskâra-duhkhair guna-vritti-virodhâch cha duhkham eva sarvam vi-vekinah
परिणाम ताप संस्कार दुःखैः गुणवृत्तिविरोधाच्च दुःखमेव सर्वं विवेकिनः
Dieser Aspekt der Karmalehre trifft oft auf taube Ohren, obwohl es sich um eine ganz entscheidende Grundlage aller indischen Philosophien handelt. Wir hören einfach nicht gerne, dass wir letztendlich – wenn wir nur weise genug sind – alles in dieser Welt als unattraktiv und sogar leidvoll ansehen (sollten). Doch obgleich die Konsequenz aus dieser Sutra unangenehm scheint, lohnt es sich, die Auslegungen hierüber zu kennen. Denn auch dieses Postulat aus der Yogaphilosophie können wir positiv für uns nutzen.
1. Bedeutung und Übersetzung des verwendeten Sanskrits
Zunächst hier die Übersetzungsmöglichkeiten für die einzelnen Worte, damit du die Übersetzung selbst für ein besseres Verständnis variieren kannst:
- Parinama, parinâma, pariñâma = Veränderung; Wandel; Anhaften an Veränderung; Transformation;
- Tapa, tâpa, tāpas = Leiden; Sehnsucht; Verlangen; Angst; Qual; Unruhe;
- Samskara, samskâra, saäskâra = (verborgener) Eindruck; Neigung; Prägung; Eindrücke früherer Handlungen;
- Dukha, Duhkham, duḥkha, Duhkhaih, duïkhaiï = Schmerzen; Leiden; Not;
- Guna = drei Eigenschaften der Natur/Materie; Grundqualitäten der Natur;
- Vritti, vrtti, vëtti = Gedankenwellen; Modifikationen der Psyche; Trübungen des Geistes; Muster; Drehungen; Bewegungen;
- Virodhat, virodhât = Widerspruch, Konflikt; Opposition;
- Cha, ca = und;
- Eva = nur; also; in der Tat; daher;
- Sarvam, sarvaṁ = alles; überall; immer;
- Vivekinah, vivekina = für den Erleuchteten; wer Unterscheidungsvermögen entwickelt hat; jemand mit Unterscheidungskraft; jemand mit Urteilsvermögen;
Zu den Quellen
Buchbesprechungen, Erläuterungen zur Auswahl der Übersetzungsvarianten und allgemeine Hinweise zur Sutraübersetzung findest du im zugehörigen Artikel. Hier nun die Kurzauflistung:
Bücher
- Mircea Eliade: Yoga – Unsterblichkeit und Freiheit
- Iyengar: Der Urquell des Yoga
- Deshpande/Bäumer: Die Wurzeln des Yoga
- Geraldine Coster: Yoga und Tiefenpsychologie
- R. Sriram: Von der Erkenntnis zur Befreiung – Das YogaSutra
- Govindan: Die Kriya Yoga Sutras des Patanjali
- Mallinson/Singleton: Roots of Yoga
- R. Palm: Der Yogaleitfaden des Patañjali
- T.K.V. Desikachar: Über Freiheit und Meditation | Das Yoga Sutra von Patanajali
- Feuerstein, Georg: Die Yoga Tradition (Amazon)
- Skuban, Ralph: Patanjalis Yogasutra (Amazon)
- Sri Swami Satchidananda: The Yoga Sutras of Patanjali (Amazon)
Internetseiten
- Internet-Übersetzung des Yogasutras auf Yoga-Vidya.de
- Zu den Sutras auf ashtangayoga.info
- Zu den Sutras auf 12koerebe.de
- Zu den Sutras auf vedanta-yoga.de
- Openland.de (mittlerweile offline)
- Zu www.bodhi.sofiatopia.org (buddhistische Kommentare zum Yogasutra nur noch als Buch)
- sanskrit-sanscrito.com (Sutras anscheinend entfernt)
- Zur Übersetzung von Chip Hartranft (PDF)
- Die Übersetzung von Hariharananda Aranya, I. K. Taimni, Vasa Houston, Barbara Miller, Swami Satchidananda, Swami Prabhavananda, Swami Vivekananda finden sich auf dieser Seite.
- Übersetzung von James Haughton Woods
- Rainbowbody.com (ausführliche und eigene Kommentierung)
Dein Übersetzungsvorschlag
Du findest die bisherigen LeserInnen-Übersetzungen und -Ergänzungen unten.
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Der Mensch leidet. Auch im "Glück". Eine Ursache sind die Kleshas
3. Wo wir stehen
Patanjali beginnt das zweite Kapitel im Yogasutra mit der Auflistung und (knappen) Erläuterung der Kleshas, der leidvollen Spannungen bzw. -Zustände – den Hindernissen auf dem Pfad des Yoga. Diese Kleshas sind (Sutra II-3):
- Unwissenheit [Avidya],
- Identifikation mit dem Ego [Asmita],
- Begierde [Raga],
- Abneigung [Dvesha] und
- (Todes-)Furcht [Abhiniveshah]
Unwissenheit wurde (Sutra II-4) als die Wurzel aller übrigen leidvollen Zustände gebrandmarkt.
In Sutra II-10 und II-11 nennt er Methoden zur Überwindung der Kleshas (u. a. Meditation und Selbsterkenntnis), ab Sutra II-12 geht es um das Karma, das aus Klesha-basierten Handlungen folgt.In Sutra II-10 und II-11 nennt er Methoden zur Überwindung der Kleshas (u. a. Meditation und Selbsterkenntnis), ab Sutra II-12 geht es um das Karma, das aus Klesha-basierten Handlungen folgt.
4. Kurzfassungen dieser Sutra
„Alles Leben ist leidvoll.“
oder:
„Für einen Weisen ist alles Leid.“
5. Warum sollte alles leidvoll sein?
5.1. a) Die Angst vor dem Verlust
Ein Hauptargument für die These vom inhärenten Leid aller Erfahrungen hier in dieser Welt lautet, dass selbst gute Erfahrungen die Angst vor deren Ende bzw. Verlust in sich tragen. Wir ahnen den Verlust und empfinden entsprechend schon in der Freude – subtil – das Leid. Das trifft nicht nur den Normalsterblichen, sondern auch – wenn nicht sogar ganz besonders – Menschen mit großem Reichtum oder Stars von Ruhm und riesiger Fanschar.
Feuerstein schreibt (S. 366): „Das Konzept der Wandlungen und Transformationen charakterisiert die Yoga Philosophie ganz entscheidend.“ Und weiter: „... Veränderung bedeutet unvermeidlichen Verlust des Gewünschten und Gewinn des Unerwünschten ...“
Kannst du dem ohne Ausnahme zustimmen?
Oder hast du Erfahrungen gemacht, an denen du kein Leid erkennen kannst? Bitte schicke uns diese (und sieh dir die anderen Antworten gleich an):
5.2. b) Die Launenhaftigkeit der Natur
Ein weiterer Grund für die Leidbefleckung allen Lebens ist die grundlegende Launenhaftigkeit bzw. Wechselhaftigkeit der Natur. Die Einflüsse der Gunas (heut bin ich so müde) und daraus resultierende Konflikte mit dem äußeren Geschehen (heute muss das Getreide geernet werden) sind niemals dauerhaft zu vermeiden. Nie stimmt alles zu 100 Prozent. Nie oder nur höchst selten gäbe es einen Augenblick, zu dem man sagen möchte „Oh verweile doch, denn du bist so schön.“ Und dann bliebe ja auch auch für solche Ereignisse noch das Leid durch Anhaften an der schönen Erfahrung.
Mit Buddhas Worten: Das Leiden in dieser Welt liegt in ihrem ständigen Wandel begründet. Wir wollen an freudvollen Zuständen (z. B. an unserem jugendlichen Körper oder dem Gefühl des Verliebsteins) anhaften, werden aber ständig wieder daraus vertrieben.
6. Die Weisen in dieser Sutra
Wer sind die Menschen „mit Unterscheidungskraft“ – Vivekin(a) – eigentlich? Wer ist mit solcher Urteilskraft gesegnet, dass sie/er die wahre Natur der Dinge erkennt?
Deshpande/Bäumer schreiben (S. 99): „... führt zu der Einsicht, dass die Ichverhaftung aufhören muss, damit die reine Anschauung möglich wird. Es ist diese reine Anschauung oder Erkenntnis, die den Menschen zu einem Weisen, einem vivekin, macht.“
Dies müssen keine indischen Heiligen, sondern können natürlich auch christliche Mystikerinnen sein:
„Ich wohne in einem Lande, dass heißt Verbannung, und dies ist die Welt. Denn alles, was in ihr ist, kann mich nicht trösten und erfreuen, ohne mir Pein zu bereiten ...“
Mechthild von Magdeburg, 1207 – 1282, christliche Mystikerin, zitiert aus „Fließendes Licht“ von Luise Rinser
7. Das Gute an der Lehre all-inhärenten Leides
Was kann am inhärenten Leid allen Daseins positiv sein? An der Erkenntnis, dass wir in dieser Welt – Prakriti – kein dauerhaftes Glück oder gar Erfüllung finden?
Ganz einfach: Wenn ohnehin alles leidvoll sein wird, können wir leichter auf die Früchte unserer Handlungen verzichten. Müssen nicht mehr angespannt und erwartungsfroh durch unser Leben reisen, sondern können allem leichter gelassen entgegenblicken. Nach dem Motto: Nützt ja doch alles nix. Es kommt wie es kommt. Das kann sehr entspannend wirken.
Mit anderen Worten: Wir suchen unser Glück dann nicht mehr in äußeren Dingen und Erfahrungen. R. Sriram: „Der erste Schritt, um aus diesem Kreislauf herauszukommen, ist zu erkennen, was das Problem ist.“
„Leid adelt den Menschen. Nur wer Leid erträgt, wird Glück erfahren.“
Dalai Lama (*1935)
Sukadev formuliert sogar so: „Derjenige, der weiß, es gibt kein äußeres Glück, ist glücklich.“ In Swami Satchidanandas Worten: „Wahre Freude kommt bei uns auf, wenn wir uns völlig von der Welt ablösen.“ Die Welt wird dann zu einem Trainingsplatz, wo du lernen kannst, in der Welt zu sein, ohne an ihr zu haften. Statt zu sagen: „Für jemanden mit Unterscheidungskraft ist alles leidvoll“ würde man dann zu „Für jemanden mit Unterscheidungskraft ist alles angenehm“ kommen. Man hätte mit dieser Erkenntnis „einen Zauberstab“ an die Hand bekommen, der alles Geschehen in Glück verwandeln könne.
Deshpande/Bäumer (S. 104): „Erst wenn man erkennt, dass ›alles leidvoll ist‹ ... wird eine neue Einsicht geboren. ... weil sie den Menschen befähigt, zwischen einer aus Spannungen entsprungenen Weltanschauung einerseits und einer von Spannungen freien Weltanschauung andererseits zu unterscheiden. Diese Einsicht löst eine Gegenbewegung aus ...“ Die gesamte Psyche werde offen gelegt. Die Autoren schreiben zudem, dass sich der Yogi nach einer solchen Erkenntnis entscheiden müsse: Will er sich weiter in die Welt verstricken, im normalen Strom mitschwimmen, oder wird er sich für die „Bewegungslosigkeit“ entscheiden? Im letzten Fall würde „... die ganz neue Bewegung des pratiprasava (siehe Sutra II-10)“ entstehen.
Iyengar ergänzt (S. 160): „Dieses Sutra sagt, dass reiner innerer Friede zu erreichen ist, wenn wir uns das richtige Wissen aneignen“, so dass wir Freude und Leid an der Wurzel „ausreißen“ können. Alle selbstsüchtigen Motive aufgeben, alles los- und geschehen lassen.
Satchidananda vergleicht diesen Erkenntnisvorgang mit „Schwimmen lernen“ – zuerst ist es furchteinflößend, später aber, wenn man schwimmen kann, wird baden herrlich sein. Die Welt wäre auch so. Du musst zum Meisterschwimmer im Ozean des Samsaras werden.
Außerdem, so Skuban, beanspruche Yogaphilosophie (genau wie Buddha) nicht, eine metaphysische Deutung des Komoses zu geben. Vielmehr sei Yoga ein praktischer Weg, der vom Leiden befreie. Immerhin ;-)
7.1. Die vier edlen Wahrheiten gemäß Buddha
Alles Bedingte ist Leid
Leid hat eine Ursache
Es gibt ein Ende des Leids
Es gibt einen Weg zum Ende des Leids (den achtfachen Pfad)
8. Der Ausweg aus dem Leiden
Deshpande/Bäumer Seite 99: „Aber die wenigen, die stehenbleiben und es wagen, dem Leid als der Grundbedingung des Daseins standzuhalten, begeben sich von neuem au den Weg, auf die Suche nach Identität (svarupa)“.
„Nur wenn man diese Welt aufgibt, wird man die andere Welt gewinnen, niemals durch festhalten.“
Swami Vivekananda, 1863 in Kolkata; † 4. Juli 1902 in Haora; bürgerlicher Name: Narendranath Datta) hinduistischer Mönch und Gelehrter
Nicht nur Buddha hat einen Pfad zum Beenden des Leidens beschrieben. Auch Patanjali sagt in den folgenden Sutras, wie das Leiden beendet werden kann.
8.1. Dein Feedback / deine offene Frage an den Text
Ist etwas unklar geblieben? Kannst du etwas ergänzen oder korrigieren?
Der Stoff der Sutras ist für uns heutige Menschen nicht leicht zu verstehen. Ist im obigen Text irgendetwas nicht ganz klar geworden? Oder kannst du etwas verdeutlichen oder berichtigen? Eine eigene Erfahrung schildern ... Vielen Dank vorab für jeden entsprechenden Hinweis oder eine Anregung:
9. Siehe auch (Sutra mit ähnlichen bzw. ergänzenden Aussagen)
Zu „guna-vritti-virodhâch“ in dieser Sutra siehe die Paralle zu „citta–vritti–nirodhah“ in Sutra I-2:
Yoga Sutra I-2: Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Bewegungen im Geist
Yogash citta–vritti–nirodhah
योगश्चित्तवृत्तिनिरोधः
Wenn ich festlegen müsste, welche Sutra die Bedeutsamste ist, dann würde ich diese wählen. Hier wird der Yogaweg in einem Satz zusammengefasst. Alle weiteren Sutras erläutern den Weg.
Auslegung und Deutung dieser Sutra erfolgt unterschiedlich. Lies hier, welche Prioritäten du gemäß der Sutras-Deuter bei deiner täglichen Praxis setzen solltest.
Passend dazu die Sutras zu "Anhaften" und "Ablehnen":
Yoga Sutra II-8: ›Nicht-Haben-Wollen‹ (Dvesha) resultiert aus Leid
Duhkhânushayî dweshah
दुःखानुशयी द्वेषः
Der kurze Text dieser Sutra „Dvesha kommt vom Leid“ ist scheinbar der Ausdruck einer Selbstverständlichkeit. Wenn wir aber bedenken, dass dieses Dvesha – das ›Will-ich-nicht-haben‹ – laut Patanjali zumeist auf Avidya – Unwissenheit – beruht, ergeben sich wichtige Konsequenzen. So öffnet sich ein Weg, freier und gelassener – leidfreier – durch das Leben zu gehen.
Yoga Sutra II-7: ›Haben-Wollen‹ (Raga) resultiert aus Genuss
Sukhânushayî râgah
सुखानुशयी रागः
Wenn mich etwas erfreut, will ich mehr davon. Wo ist das Problem? Ist das nicht eine gute Leitlinie im Leben? "Meistens nicht!", sagt Patanjali, und zwar immer dann nicht, wenn dieser Genuss aus einer Illusion resultiert. Auf Avidya basiert – auf Unwissenheit. Doch wo finde ich stattdessen eine bessere, DIE richtige Richtschnur?