Advidyâsmita–râga–dveshâbhiniveshah kleshah
अविद्यास्मितारागद्वेषाभिनिवेशः क्लेशाः
Kommen wir zu den leidvollen Zuständen, welche den Yogi an der Befreiung hindern. Patanjali gibt hier eine erste Definition der Hindernisse auf dem Yoga-Pfad. Interessant sind auch die Parallelen im Buddhismus.
Der Mensch leidet. Auch im "Glück". Sagen die Schriften ...
1. Bedeutung und Übersetzung des verwendeten Sanskrits
Zunächst hier die Übersetzungsmöglichkeiten für die einzelnen Worte, damit du die Übersetzung selbst für ein besseres Verständnis variieren kannst:
- Avidya, avidyâ = Unwissenheit; Verwechslung; Ignoranz; die Dinge nicht so sehen, wie sie sind; Fehlen von Weisheit; Mangel an Erkenntnisfähigkeit; Irrung;
- Asmita, asmitâ = „Ich-Sein“, Egoismus; Selbstbezogenheit; der Ich-Sinn; Identifikation mit dem Körper bzw. dem Wandelbaren des Menschen; Ego; Ich-Gefühl;
- Raga, râga = Anziehung, (blinde) Zuneigung; Anhaftung; Begierde; Leidenschaft; Gier; Wunsch; die Meinung, dass uns etwas Äußeres glücklich macht;
- Dvesha, dvesa = (blinde) Abneigung; Ekel; die Meinung bzw. der Glaube, dass uns etwas Äußeres unglücklich macht; Hass;
- Abhiniveshah, abhiniveshâh, Abhinivesha = Am Leben hängen; Anhaften (am Leben), Todesfurcht; tief sitzende Angst; Lebenswille; Wunsch nach Kontinuität; die Wurzel der Angst;
- Kleshah = Schmerzen, Ursachen der Leiden; Bürden auf dem spirituellen Pfad; Belastungen; den Geist trübende Leidenschaften; Befleckungen, welche die Ursachen des Leidens sind;
Zu den Quellen
Buchbesprechungen, Erläuterungen zur Auswahl der Übersetzungsvarianten und allgemeine Hinweise zur Sutraübersetzung findest du im zugehörigen Artikel. Hier nun die Kurzauflistung:
Bücher
- Mircea Eliade: Yoga – Unsterblichkeit und Freiheit
- Iyengar: Der Urquell des Yoga
- Deshpande/Bäumer: Die Wurzeln des Yoga
- Geraldine Coster: Yoga und Tiefenpsychologie
- R. Sriram: Von der Erkenntnis zur Befreiung – Das YogaSutra
- Govindan: Die Kriya Yoga Sutras des Patanjali
- Mallinson/Singleton: Roots of Yoga
- R. Palm: Der Yogaleitfaden des Patañjali
- T.K.V. Desikachar: Über Freiheit und Meditation | Das Yoga Sutra von Patanajali
- Feuerstein, Georg: Die Yoga Tradition (Amazon)
- Skuban, Ralph: Patanjalis Yogasutra (Amazon)
- Sri Swami Satchidananda: The Yoga Sutras of Patanjali (Amazon)
- Trevor Leggett: The complete Commentary by Sankara on the Yoga-Sutras* (Amazon)
Internetseiten
- Internet-Übersetzung des Yogasutras auf Yoga-Vidya.de
- Zu den Sutras auf ashtangayoga.info
- Zu den Sutras auf 12koerebe.de
- Zu den Sutras auf vedanta-yoga.de
- Openland.de (mittlerweile offline)
- Zu www.bodhi.sofiatopia.org (buddhistische Kommentare zum Yogasutra nur noch als Buch)
- sanskrit-sanscrito.com (Sutras anscheinend entfernt)
- Zur Übersetzung von Chip Hartranft (PDF)
- Die Übersetzung von Hariharananda Aranya, I. K. Taimni, Vasa Houston, Barbara Miller, Swami Satchidananda, Swami Prabhavananda, Swami Vivekananda finden sich auf dieser Seite.
- Übersetzung von James Haughton Woods
- Rainbowbody.com (ausführliche und eigene Kommentierung)
Dein Übersetzungsvorschlag
Du findest die bisherigen LeserInnen-Übersetzungen und -Ergänzungen unten.
Hast du einen eigenen Übersetzungsvorschlag?
Wie würdest du diese Sutra übersetzen? Manchmal ergeben schon kleine Wortveränderungen ganz neue Aspekte. Trau dich ... :-)
3. Wo wir stehen
Die erste Sutra von Kapitel zwei des Yogasutra nennt die drei Bestandteile des Kriya-Yoga: Selbstdisziplin, Selbststudium und Hingabe an das Höchste bzw. Gott.
Sutra II-2 verspricht, dass der Kriya-Yoga die Kleshas, die Bürden des Yogapfades verringert und der Yogi so zu klarer Wahrnehmung gelangt. Sutra II-3 nennt nun die fünf Kleshas, die für das Leid (hauptsächlich) verantwortlich zeichnen.
Tiefe und erkenntnisreiche erreichst du nur in Abwesenheit von Gier, Zorn, Geltungsdrang - sprich: in Abwesenheit der Kleshas
4. Warum sollte der Yogi die Kleshas vermindern?
Als Ziel des Kriya-Yoga wurde in Sutra II-2 die Abschwächung der Kleshas, der Bedrängnisse oder "Bürden" auf dem spirituellen Weg, genannt. Die Folge: Sobald sich die hier genannten fünf Kleshas abschwächen, erlang die/der Yogini/Yogi subtile Weisheit und Unterscheidungsfähigkeit. Wünschenswerte Yoga-Zustände entstehen nur in Abwesenheit der Kleshas.
In dieser und den folgenden Sutras erläutert Patanjali die Kleshas, in den darauf folgenden Versen ab Yogasutra II-10 zeigt er Praktiken auf, welche diese Kleshas vermindern.
5. Die fünf Kleshas
5.1. I) Avidya – Unwissenheit oder Verwechslung
Sie gilt als Mutter aller Kleshas und wird in den folgenden zwei Sutras näher erläutert.
5.2. II) Asmita – der klassische Egoismus
Hierbei geht es um den nach yogischer Lehre irrigen Glauben, ein individuelles, begrenztes und sterbendes Wesen zu sein. Mehr dazu in Sutra II-6.
Avidya und Asmita werden von Iyengar als Leiden intellektueller Natur angesehen.
5.3. III) Raga – die Gier
Das Streben nach sinnlichen Erlebnissen: Wunsch, Verlangen, Begierde oder Sehnsucht etc. Siehe Sutra II-7.
5.4. IV) Dvesha – Abneigung
Unsere geistige Abwehr gegen für unschön eingestufte Erlebnisse und Erfahrungen. Näher erläutert in Sutra II-8.
Raga und Dvesha ordnet Iyengar als Leiden emotionaler Natur ein.
5.5. V) Abhiniveshah – die Wurzel der Angst / das Anhaften am Leben
Hiervon soll selbst große Yogameister kaum lassen können. Abhinivesha gehört zu unseren Instinkten. Mehr dazu in Sutra II-9.
R. Palm sieht Avidya als das Unbewusste an, in dem die Triebe wurzeln: Asmita als Ichtrieb, Raga als Sexualtrieb, Dvesa als Aggressionstrieb und Abhiniveshah als Selbsterhaltungstrieb.
Govindan und Swami Satchidananda sehen dabei eine Ursache-Wirkungskette innerhalb der Kleshas:
- Unwissenheit über das wahre Selbst führt zur Vorstellung des Egos,
- daraus resultieren Wünsche und Abneigungen
- und diese führen wiederum zur Angst vor dem Tod.
6. Kleshas = Missverständnisse?
In gewissen Sinne können alle oben aufgeführten fünf Kleshas als Missverständnisse betrachtet werden. Als falsches Verständnis von der Welt, von dem eigenen Wesen und von dem, was uns wirklich erfüllt.
7. Parallelen im Buddhismus
Vergleiche auch die vier edlen Wahrheiten, so wie sie Buddha gelehrt hat:
„Es ist durch Nichtverwirklichen, durch Nichtdurchdringen, der Vier Edelen Wahrheiten, daß dieser lange Kurs von Geburt und Tod weiter getragen und durchlebt von mir, wie auch von Euch, wurde. Was sind diese vier?
Da ist die edle Wahrheit über das Leiden;
die edle Wahrheit über die Entstehung des Leidens;
die edle Wahrheit über die Beendigung von Leiden;
und die edle Wahrheit über den Pfad der Ausübung, der zur Beendigung des Leidens führt.
Aber nun, so diese verwirklicht und durchdrungen wurden, das Verlangen nach Existenz, abgeschnitten ist, zerstört das, was zu neuerlichem Werden führt, und da ist kein frisches Werden mehr.“
DN16
7.1. Die Kleshas im Buddhismus
Im Buddhismus meint Klesha oder Kilesa die „Verunreinigungen“, „die den Geist trübenden Leidenschaften“. Dabei werden einige mehr, insgesamt zehn Geistesverschmutzungen unterschieden (kursiv dahinter der Pali-Begriff):
- Gier, Begierde (lobha)
- Hass (dosa/dves)
- Verblendung (moha, avijjā)
- (Ich-)Dünkel (asmi-mana)
- (falsche) Ansichten (micchādiṭṭhi)
- Zweifel, Zweifelsucht (vicikicchā)
- Starrheit, Trägheit (thīnaṃ)
- Aufgeregtheit, Anmaßung (uddhaccaṃ)
- Schamlosigkeit (ahirikaṃ)
- Gewissenlosigkeit, Rücksichtslosigkeit (anottappaṃ).
Gier, Hass und Verblendung (1-3) werden auch als mula oder die Drei Geistesgifte zusammengefasst.
8. Kleshas und Gunas
Der Begriff Guna (auch Triguna) beschreibt nach dem philosophischen Konzept des indischen Samkhya die Qualitäten jener Kräfte, aus denen die Urmaterie Prakriti und damit auch wir zusammengesetzt sind.
Die drei Gunas sind:
- Tamas (Trägheit, Dunkelheit, Chaos)
- Rajas (Rastlosigkeit, Bewegung, Energie)
- Sattva (Klarheit, Güte, Harmonie)
Was haben die Gunas mit den Kleshas zu tun?
Durch ihre Aktivität stärken die Kleshas laut Ansicht von Yogis die "Autorität" der Guṇas. Verstärkt deren Einfluss auf unser Leben. Da das wahre Selbst aber jenseits aller Gunas liegt, wird jedes Erstarken der Gunas, auch der sattvigen, als Hindernis für die Befreiung gesehen.
Es heißt auch: Die drei Gunas "lassen den Fluss der Wirkung und Ursache anschwellen" und "bringen die Früchte der Handlungen hervor".
Die Gunas sind für den Yogi nicht so einfach zu überwinden. Über das rechte Verhalten gegenüber den Gunas schreibt Krishna in der Bhagavadgita (14.22–14.25):
9. Vom Befrieden der Gunas
"Wer, wo ein ‚Guna‘ ihm erscheint,
Er darum diesen doch nicht hasst,
Nach andern, ‚Gunas‘ nicht begehrt,
im Geiste ruhig und gefasst;Wer gleichsam unbeteiligt bleibt,
Bei eines ‚Guna‘ Gegenwart,
Wer denkt, ‚ein Guna treibt sein Spiel‘,
Und deshalb stets den Gleichmut wahrt;Wer standhaft ist in Freud und Leid,
Wem gleich ist Scholle, Stein und Gold,
Wer gleich sich bleibt, wenn man ihn schmäht
Und wenn man ihm Bewund’rung zollt;Wem gleich ist Ehre oder Schmach,
Ob Freund, ob Gegner unterliegt,
Wer jeder Tat entsagt, der hat
Der ‚Eigenschaften‘ Macht besiegt.“
(Bhagavad Gita 14.22–14.25, Siehe dazu auch Yogasutra II-3)
9.1. Dein Feedback / deine offene Frage an den Text
Ist etwas unklar geblieben? Kannst du etwas ergänzen oder korrigieren?
Der Stoff der Sutras ist für uns heutige Menschen nicht leicht zu verstehen. Ist im obigen Text irgendetwas nicht ganz klar geworden? Oder kannst du etwas verdeutlichen oder berichtigen? Eine eigene Erfahrung schildern ... Vielen Dank vorab für jeden entsprechenden Hinweis oder eine Anregung:
10. Sutras mit ähnlichen Ansätzen wie Sutra II-3
11. Yoga Sutra I-8: Falsche Aufffassung von etwas resultiert aus einer falschen Kenntnis von etwas, die nicht der wahren Natur des Erkannten entspricht
Viparyayo mithyâ–jñânam atad–rûpa–pratishtham
विपर्ययो मिथ्याज्ञानमतद्रूप प्रतिष्ठम्
In dieser Sutra geht es um Fehleinschätzungen. Nicht schön: Viele Yogalehrer betrachten unser Leben als ein Schwimmen im Meer des Irrtums. Doch es gibt bewährte Wege, Viparyaya zu besiegen.
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12. Übung zu Yoga Sutra II-3
Übungsvorschlag für die kommende Woche zu Sutra II-3:
Reflektiere noch einmal konkret über das Auftreten der fünf Kleshas in deinem Leben. Zum Beispiel: Wo triffst du auf dein Ego, welchen Wünschen und Abneigungen hängst du an? Spüre deinem Anklammern an das Leben nach. Denke darüber nach, wo überall Unwissenheit bzw. eine falsche Sicht der Dinge im Spiel sein könnte.
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13. Das Ego im Forum diskutiert
Was ist das Ego? Yoga-Event schreibt: Im Gegensatz zum natürlichen Ego wird das falsche Ego nicht wirklich gebraucht. Außer man ist nicht auf dem Weg der Selbstverwirklichung, sondern auf einem Ego-Trip. Zuerst gilt es Buddhas Lehren zu vertiefen, die die Ichverhaftung als das Leid erkennt...
14. Videos zu Sutra II-3
In den Tabs finden sich Videos zu dieser Sutra.
Yoga-Vidya Videos zu den Sutras II-1 bis II-11:
Desikachar Video zu Sutra II-3:
Nayaswami Asha Video zu den Sutras II-2 und II-3:
15. Beliebt & gut bewertet: Bücher zum Yogasutra
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- Die Hatha-Yoga-Pradipika – kapitelweise zusammengefasst
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