svarasvāhi viduṣo-i samārūḍho-bhiniveśaḥ
स्वरसवाही विदुषोऽपि तथारूढो भिनिवेशः
Der Selbsterhaltungstrieb Abhinivesa, die (panische) Angst vor dem Tod, ist eigentlich nur eine Form von Raga (›Haben-Wollen‹). Der Mensch wünscht sich, weiter zu leben. Doch Patanjali widmet diesem Klesha (= leidvolles Hindernis) eine eigene Sutra. Und das aus guten Gründen.
Irrige Ängste verkleinern unsere Welt unnötig
1. Bedeutung und Übersetzung des verwendeten Sanskrits
Zunächst hier die Übersetzungsmöglichkeiten für die einzelnen Worte, damit du die Übersetzung selbst für ein besseres Verständnis variieren kannst:
- Sva = eigene;
- Rasa = Natur; Essenz; Geschmack; Saft; Stimmung. Zentraler Begriff der klassischen indischen Ästhetik.
- Vahi, vāhī = Träger;
- Swarasawahi, swarasawâhî = gestützt auf seine eigenen Kräfte, automatisch fliessend;
- Vidusha, Vidushah, viduṣa = Gelehrter; Weise;
- Api = sogar; auch;
- Sama, samā = sehr, völlig
- Tatha, tathâ = auf diese Weise;
- Rudhah, rûdhah, rūdhaḥ = reitend; beherrschend; verwurzelt;
- Abhiniveshah, abhiniveśa = Todesfurcht; tiefe Angst in uns; starker Wunsch nach Leben; (Über-)Lebenswille; Selbsterhaltungstrieb; Liebe zum Leben; das Festhalten an etwas (hier: dem Leben); Todesangst; Wunsch nach Kontinuität;
Zu den Quellen
Buchbesprechungen, Erläuterungen zur Auswahl der Übersetzungsvarianten und allgemeine Hinweise zur Sutraübersetzung findest du im zugehörigen Artikel. Hier nun die Kurzauflistung:
Bücher
- Mircea Eliade: Yoga – Unsterblichkeit und Freiheit
- Iyengar: Der Urquell des Yoga
- Deshpande/Bäumer: Die Wurzeln des Yoga
- Geraldine Coster: Yoga und Tiefenpsychologie
- R. Sriram: Von der Erkenntnis zur Befreiung – Das YogaSutra
- Govindan: Die Kriya Yoga Sutras des Patanjali
- Mallinson/Singleton: Roots of Yoga
- R. Palm: Der Yogaleitfaden des Patañjali
- T.K.V. Desikachar: Über Freiheit und Meditation | Das Yoga Sutra von Patanajali
- Feuerstein, Georg: Die Yoga Tradition (Amazon)
- Skuban, Ralph: Patanjalis Yogasutra (Amazon)
- Sri Swami Satchidananda: The Yoga Sutras of Patanjali (Amazon)
Internetseiten
- Internet-Übersetzung des Yogasutras auf Yoga-Vidya.de
- Zu den Sutras auf ashtangayoga.info
- Zu den Sutras auf 12koerebe.de
- Zu den Sutras auf vedanta-yoga.de
- Openland.de (mittlerweile offline)
- Zu www.bodhi.sofiatopia.org (buddhistische Kommentare zum Yogasutra nur noch als Buch)
- sanskrit-sanscrito.com (Sutras anscheinend entfernt)
- Zur Übersetzung von Chip Hartranft (PDF)
- Die Übersetzung von Hariharananda Aranya, I. K. Taimni, Vasa Houston, Barbara Miller, Swami Satchidananda, Swami Prabhavananda, Swami Vivekananda finden sich auf dieser Seite.
- Übersetzung von James Haughton Woods
- Rainbowbody.com (ausführliche und eigene Kommentierung)
Dein Übersetzungsvorschlag
Du findest die bisherigen LeserInnen-Übersetzungen und -Ergänzungen unten.
Hast du einen eigenen Übersetzungsvorschlag?
Wie würdest du diese Sutra übersetzen? Manchmal ergeben schon kleine Wortveränderungen ganz neue Aspekte. Trau dich ... :-)
3. Wo wir stehen
Patanjali beginnt das zweite Kapitel im Yogasutra mit der Auflistung und (knappen) Erläuterung der Kleshas, der leidvollen Spannungen bzw. -Zustände – den Hindernissen auf dem Pfad des Yoga. Diese Kleshas sind (Sutra II-3):
- Unwissenheit [Avidya],
- Identifikation mit dem Ego [Asmita],
- Begierde [Raga],
- Abneigung [Dvesha] und
- (Todes-)Furcht [Abhiniveshah]
Unwissenheit wurde (Sutra II-4) als die Wurzel aller übrigen leidvollen Zustände gebrandmarkt.
In dieser Sutra geht es um Abhiniveshah: der Todesfurcht bzw. der tiefen Angst in uns gegenüber allem, was unser Leben (und unser Ansehen) zu gefährden scheint.
4. Eine Spur zur Wiedergeburt
Schon ein Baby klammert sich an das Leben - ein Beweis für Reinkarnation?
Swami Satchidananda weist darauf hin, dass schon Babys Todesfurcht empfinden und dies auch erkennbar zeigen. Für ihn ist das ein klarer Hinweis darauf, dass diese Todesfurcht vom Erlebnis des Todes aus vergangenen Existenzen stamme.
Aber kann es sich nicht einfach um einen Instinkt handeln? Nein, denn Yoga lehrt uns, so Satchidananda weiter, dass Instinkt die Spur zu einer alten Erfahrung sei, welcher der Mensch viele Male wiederholt habe, so dass deren mentaler Eindruck bis zum Grunde unseres Bewusstseins gesunken sei. Also muss dieser Todesfurcht-Instinkt von vielen früheren Todeserlebnissen stammen.
Dabei sei unsere Todesfurcht völlig unbegründet. „Gottes Gesetze schreiben vor, dass wenn dir dein alter Körper genommen wird, du einen neuen bekommen musst.“, so Satchidananda weiter. No problem also! ;-)
5. Der Lebenswille ist allem Leben eng verbunden
In den Kommentaren zu dieser Sutra findet sich oft die Beschreibung, dass vom Lebenswillen „kein Wurm und kein Weiser“ frei sei. Sogar der unbeseelten Natur (siehe Costers Übersetzung oben) wird dieser Selbsterhaltungstrieb zugesprochen. Abhiniveshah ist „dem Dasein eingeboren“.
6. Ich bin wichtig!
„Jede Bedrohung unseres Gefühls der eigenen Wichtigkeit scheint so vernichtend zu sein wie der Tod.“
Deshpande/Bäumer (S. 95/96)
Deshpande/Bäumer schließen das Selbstwertgefühl und die Wichtigkeit der eigenen Bedeutung in dieses Klesha mit ein (S. 96): „Das Interesse an der Steigerung des Selbstgefühls wird vom Menschen als die eigentliche Quintessenz des Lebnes angesehen.“ Wofür solle man den sonst „leben oder sterben“?
Das Gefühl der eigenen Wichtigkeit übersteige manchmal sogar die Bedrohung durch den Tod, viele Menschen würden ihr Leben zur Förderung ihrer eigenen Bedeutsamkeit „verschleudern“, so die beiden Autoren weiter.
So langsam wird verständlich, warum Patanjali dem Klesha Abhinivesha eine eigene Sutra gewidmet hat ;-)
7. Sollen wir unseren Selbsterhaltungstrieb wirklich aufgeben?
Nun ja, Patanjali definiert den Selbsterhaltungstrieb als Klesha, und damit als Hindernis sowie als Ursache von Leid. Darum sollte man Abhiniveshah ablegen.
Patanjali nennt in den ab hier folgenden Sutras Methoden, die Kleshas zu überwinden. Es scheint also möglich, Abhiniveshah aufzugeben. Aber in dieser Sutra mahnt er eindeutig: Leicht wird das nicht, auch große Weise sind vor Abhiniveshah nicht gefeit.
Wenn wir wirklich wiedergeboren werden, dann ist letztendlich auch der Selbsterhaltungstrieb nur eine Folge von Avidya, dem Nichtwissen über unser wahres Selbst, über dessen Unzerstörbarkeit.
Feuerstein formuliert dies so: „Der Wille zum Leben ist der Antrieb zum individuellen Existieren. Solchermaßen verursacht er – in der Hauptsache – das Leid der Existenz und muss aus der Sicht des Yoga transzendiert werden.“ [Definition transzendieren: die Grenzen eines Bereichs überschreiten]
8. Zur Motivation durch Angst
Dr. R. Steiner schreibt, dass es nur zwei Grundmotivationen im Leben eines Menschen gäbe: Angst und Liebe.
Der Weg, auf dem dich die Motivation „Liebe“ trägt, führt zur spirituellen Weiterentwicklung, zur Freude, zum Mitgefühl, zu Vertrauen und damit zum Gemeinsamen.
Angst hingegen führt zu Widerstand, Wut, Kampf, Festhalten am Vorhandenen und Ablehnung des Andersartigen. Auch ohne, dass die angstauslösende Situation zwangsläufig real gefährlich ist. Da der spirituelle Weg aber ein Loslassen erfordert, ein vertrauensvolles Fallenlassen, wird Abhiniveshah, das Anklammern ans Leben, die (Todes-)Angst, zum Klesha, einem Hindernis auf dem Yogaweg.
Wim van den Dungen:
„Der Durst zu leben ist der letzte Grund des Leidens.“
9. Die Überwindung von Abhinivesa
Deshpande/Bäumer: „... muss man mit Abhiniveshah beginnen, wenn man die Notwendigkeit einsieht, seinen eigenen Geist von allen Spannungen zu befreien.“
Dazu sei Asana, Pranayama und Dhyana bestens geeignet. Mit diesen drei Techniken, so Iyengar, dringe der Yogi „... tief in sein Inneres vor.“ Dabei durchlebe er „den Strom der Intelligenz und der Energie des Selbst als Einheit.“ Dadurch erkenne er, dass Leben und Tod „zwei Seiten derstellen Münze“ seien. Der Yogi gebe dann ohne Zwang seinen Wunsch zu Leben auf. So überwindet er seine Todesfurcht. Dann lebe er, so Iyengar weiter, „für immer im Strom der Stille.“
Abschnittsende: Mit dieser Sutra II-9 beendet Patanjali die Auflistung und knappe Erläuterung der Kleshas, der leidbringenden Hindernisse auf dem Yoga-Pfad. Ab hier wendet er sich deren Überwindung zu. Denn der Yogi muss alle Kleshas loswerden, bevor er weiterschreiten könne, schreibt Satchidananda.
An dieser Stelle passt ein Gebet aus den Upanischaden – konkret der Brihadaranyaka Upanishad – das sich ähnlich auch im Maha Mrityunjaya Mantra findet:
Asato Ma Sat Gamaya
Tamaso Ma Jyotir Gamaya
Mrityor Maamritam Gamaya
Übersetzt [eigene Interpretation]:
Führe uns vom Irrtum zur Erkenntnis der Wahrheit
Führe uns von der Dunkelheit ins Licht
Führe uns von [der Identifikation mit] dem Vergänglichen zur Unsterblichkeit
9.1. Dein Feedback / deine offene Frage an den Text
Ist etwas unklar geblieben? Kannst du etwas ergänzen oder korrigieren?
Der Stoff der Sutras ist für uns heutige Menschen nicht leicht zu verstehen. Ist im obigen Text irgendetwas nicht ganz klar geworden? Oder kannst du etwas verdeutlichen oder berichtigen? Eine eigene Erfahrung schildern ... Vielen Dank vorab für jeden entsprechenden Hinweis oder eine Anregung:
10. Siehe auch (Sutra mit ähnlichen bzw. ergänzenden Aussagen)
11. Yoga Sutra IV-10: Die Wünsche und Neigungen haben keinen Anfang im Wesen, denn allein schon der Wille zu leben besteht seit ewig
Tâsâm anâditvam châshisho nityatvât
तासामनादित्वं चाशिषो नित्यत्वात्
12. Yoga Sutra III-10: Die innere Stille (Nirodha–Parinâma) wird durch Wiederholung zu einem ungestörten Fluß
Tasya prashânta–vâhitâ samskârât
तस्य प्रशान्तवाहिता संस्कारत्
13. Übung zu Yoga Sutra II-9
Übungsvorschlag für die kommende Woche zu Sutra II-9:
Wenn du dich geistig gut und gefestigt fühlst, dann reflektiere in der kommenden Woche über dein Verständnis vom und dein Verhältnis zum Tod.
Denke darüber nach, lese, meditiere mindestens einmal pro Tag über den Tod.
Wie fühlt sich das für dich an? Erfährst du vielleicht sogar eine höhere Freude am Leben? Mehr Motivation zu deinen spirituellen Übungen?
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14. Videos zu Sutra II-9
In den Tabs finden sich Videos zu dieser Sutra.
{tab Sukadev}
Yoga-Vidya Videos zu den Sutras II-1 bis II-11:
Desikachar Video zu Sutra II-9:
{tab Nayaswami Asha}
Nayaswami Asha Video zu den Sutras II-7 bis II-10:
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