hand kerze umschlossen 250Tâsâm anâditvam châshisho nityatvât
तासामनादित्वं चाशिषो नित्यत्वात्

Dieser Beitrag führt in die Kommentare zu Yogasūtra 4.10 ein. Er ordnet die großen Wörter (āśiṣaḥ, saṃskāra, abhiniveśa) mit klassischen Kommentaren und legt dann die Kabel zur Gegenwart: Was sagt die Gehirnforschung, was die Evolutionsbiologie, und – wichtiger – wie übst du das in Meditation und Alltag?

Kurz zusammengefasst

  • Yogasūtra 4.10 (tāsām anāditvaṃ cāśiṣo nityatvāt): Saṃskāra/Vāsanā sind anfangslos, weil der Lebenswille (āśiṣaḥ) als Grundimpuls dauerhaft wirkt. Der Satz erklärt, warum Impulse wie „weiterleben, vermeiden, begehren“ so zäh sind – sie haben tiefe, alte Wurzeln.
  • Vyāsas Kommentar: Der Geist trägt Eindrücke und Neigungen (Residuen) „seit jeher“; äußere (Handlungen/Rituale) und innere (Glauben, Sammlung) Anlässe aktivieren sie. Innere Mittel seien stärker – Praxis am Geist verschiebt Muster nachhaltiger als reines Außenverhalten.
  • Begriffe sortiert: Āśiṣaḥ = Lebenswille (neutral, tragend). Saṃskāra/Vāsanā = Eindruck/Neigung (wie „Duft“, der bleibt). Abhiniveśa = Festhalten/Todesangst, die selbst Weise berührt (vgl. Yogasutra 2.9).
  • Praxis: Beobachten → Raum → Wahl. Hebel: Abhyāsa (Regelmäßigkeit), Vairāgya (Loslösung), Atemarbeit, Mitgefühl. Erst Impuls sehen, dann lenken – statt reflexhaft zu reagieren.
  • Klassische & moderne Brücke: Alte Kommentare erklären den Rohimpuls vor einer Wahrnehmung; Neurowissenschaft (Amygdala, SEEKING-System) und Evolutionspsychologie (Preparedness) liefern dazu passende Gegenstücke. Achtsamkeit/Meditation kann die Reaktivität dieses Systems messbar modulieren.
  • Alltag: Mikrorituale im Alltag übersetzen Philosophie in handfeste Gewohnheiten. Der Lebenswille bleibt; deine Steuerung wird feiner.

Details und Erläuterungen zu allen Punkten im weiteren Artikel.

Bedeutung und Übersetzung des verwendeten Sanskrits

Hier sind zunächst die Übersetzungsmöglichkeiten für die einzelnen Wörter, damit du die Übersetzung selbst für ein besseres Verständnis anpassen kannst:

  • Tasam, tâsâm = sie; von denen; von diesen;
  • Anaditvam, anâditvam, anāditvaṁ = kein Anfang; anfanglos; nicht kausal; nicht erhaben; nicht dem Ursprünglichen zugehörig; ohne Ursprung;
  • Cha, ca = und; auch;
  • Ashisha, âshishah, āśiṣaḥ = der Wille (Wunsch) zu leben; Wunsch; Bitte; Impuls; Motivation für Erfüllung; Wunsch nach dem Sein; bitten um; Gebet; Verlangen; Wunsch; sichere Erfüllung;
  • Ni-tyatvat, ni-tyatvât, nityatvat = (von) Ewigkeit; (von) Dauer; Ewigkeit; Beständigkeit; endlos; Dauerhaftigkeit; ewig; aufgrund der Ewigkeit; Kontinuität;

Übersetzungsvarianten und -hinweise (Quellen)

Hervorhebungen weisen auf Besonderheiten der jeweiligen Übersetzung hin. Übertragungen aus dem Englischen sind Eigenübersetzungen.

  • Sukadev: „... Wünsche ... haben keinen Anfang ... Wunsch zu leben ... ewig.“
  • Deshpande/Bäumer: „..., weil der Lebenswunsch (dauernd und) unzerstörbar ist.“
  • Dr. R. Steiner: „Diese [Prägungen (saṁskāra) sind] ohne Anfang (anādhva). ...“
  • Paul Deussen (1908): „Sie haben Ewigkeit, denn der Segen ist ewig.”
  • Coster: „Das Gesetz von Ursache und Wirkung ist dem Bewusstsein eingeboren ....“
  • Feuerstein: „Tiefen des Bewusstseins] sind ohne Beginn, ...“
  • R. Palm: „... rührt her von der Eingeborenheit des Wollens.“
  • R. Sriram: „Die Vasanas [die subtilen Triebe] ... sind ursprungslos, so wie der innere Wunsch ... unsterblich zu sein.“
  • Govindan: „..., da Wünsche ewig sind.“
  • Iyengar: „Diese Eindrücke und Erinnerungen existieren schon ewig, ....“
  • Chip Hartranft: „..., denn der Wille zu existieren ist ewig.“
  • R. Skuban: „Die vasana sind anfangslos. ...“
  • T.K.V. Desikachar: „“Der Wunsch nach Unsterblichkeit ist bei allen Menschen schon immer vorhanden. ..."
  • G. Pradīpaka: „Da das Verlangen nach Selbstfürsorge --āśīs-- (āśiṣaḥ) ewig --nitya-- (nityatvāt) ist, sind jene (Vāsanā-s) --tās-- (tāsām) (aus denen es entsteht) auch (ca) anfangslos (anāditvam)“
  • 12koerbe.de: „... deren Anfanglosigkeit ... aus des inneren Wünschens Inständigkeit“
  • Hariharananda Aranya: „Da das Verlangen nach dem eigenen Wohlergehen ewig ist, ...“
  • I. K. Taimni: „Und es gibt keinen Anfang von ihnen, ....“
  • Swami Satchidananda: „..., sind auch die Eindrücke anfangslos.“
  • Swami Prabhavananda: „..., können unsere Tendenzen keinen Anfang gehabt haben.“
  • Swami Vivekananda: „Da das Verlangen nach Glück ewig ist, ....“
  • Wim van den Dungen (buddhistischer Kommentar zum Yogasutra): „... wegen der Ewigkeit des Urwillens.“
  • Rainbowbody: „... diese (Samskaras, Karma und Vasana) ... werden ... zur Ersatzursache für fortwährendes Begehren in einem vergeblichen/kompensatorischen Versuch, Einheit und Ganzheit zu erreichen.”

Zu den Quellen

Buchbesprechungen, Erläuterungen zur Auswahl der Übersetzungsvarianten und allgemeine Hinweise zur Sutraübersetzung findest du im zugehörigen Artikel. Hier nun die Kurzauflistung:

Bücher

Internetseiten

Weitere Quellen, z. B. zu aktuellen Studien, sind direkt im Text verlinkt.

Dein Übersetzungsvorschlag

Du findest die bisherigen LeserInnen-Übersetzungen und -Ergänzungen unten.

Hast du einen eigenen Übersetzungsvorschlag?

Wie würdest du diese Sutra übersetzen? Manchmal ergeben schon kleine Wortveränderungen ganz neue Aspekte. Trau dich ... :-)

 

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Einordnung dieser Sutra im Yogasutra

Kurze Zusammenfassung der vier Kapitel des Yogasutras

  • 1. Samādhi Pāda – Über die Versenkung
    Beschreibt das Ziel des Yoga: das zur Ruhe bringen der Gedanken im Geist. Erläutert, was Yoga ist, die Arten von Samādhi (meditativer Versenkung) und wie der Geist durch Übung (abhyāsa) und Loslösung (vairāgya) zur Ruhe gebracht werden kann.
  • 2. Sādhana Pāda – Über die Praxis
    Behandelt die konkrete Praxis des Yoga. Führt die acht Glieder des Yoga (Ashtanga Yoga) ein: Yama, Niyama, Asana, Pranayama, Pratyahara, Dharana, Dhyana, Samadhi. Schwerpunkt liegt auf der ethischen Vorbereitung und inneren Reinigung.
  • 3. Vibhūti Pāda – Über die übernatürlichen Kräfte
    Beschreibt die fortgeschrittenen Stufen der Praxis (Dharana, Dhyana, Samadhi = Samyama) und die daraus entstehenden übernatürlichen Kräfte (Siddhis). Warnt davor, sich von diesen Kräften ablenken zu lassen.
  • 4. Kaivalya Pāda – Über die Befreiung
    Erklärt das Ziel des Yoga: Kaivalya (vollkommene Befreiung des Selbst von der Materie). Diskutiert die Natur des Geistes, Karma, Wiedergeburt und wie durch Erkenntnis die endgültige Freiheit erlangt wird.

Yogasutra 4.10 lautet sinngemäß: „Die Wünsche und Neigungen haben keinen Anfang im Wesen, denn allein schon der Wille zu leben besteht seit ewig.“ Diese Aussage wirkt zunächst rätselhaft. Patanjali behauptet hier, dass die tief verwurzelten Antriebe in uns – unsere Begierden, Neigungen und unbewussten Prägungen – nicht auf einen ersten Ursprung zurückgeführt werden können, weil bereits der grundlegende Lebensdrang kein Anfangspunkt kennt. Anders ausgedrückt: Unser Verlangen zu existieren war schon immer da. Selbst wer sein ganzes Leben lang nach dem allerersten Impuls sucht, wird feststellen, dass davor immer schon ein vorheriger Impuls stand – in einem scheinbar endlosen Zyklus

Die Sutras IV-9 bis IV-12 behandeln Samskaras (unterbewusste Prägungen) und Smritis (Erinnerungen). Sie lassen sich am besten im Gesamtzusammenhang verstehen, auch mit den beiden Sutras IV-7 und IV-8 zuvor.

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Überall findet sich der Wille zu leben

Schlüsselbegriffe und ihre Bedeutung

Um Patanjalis Aussage besser zu verstehen, lohnt ein Blick auf die Schlüsselbegriffe in diesem Sutra und verwandten Versen. Der Originaltext in Sanskrit lautet: tāsām anāditvaṃ cāśiṣo nityatvāt. Hier sind einige wichtige Begriffe erklärt:

  • Saṃskāras – oft übersetzt als Eindrücke oder latente Prägungen: Damit sind die feinstofflichen Spuren gemeint, die unsere Erfahrungen im Geist hinterlassen. Jeder Gedanke, jede Handlung formt einen Abdruck im Unterbewusstsein, der zukünftige Gedanken und Taten beeinflusst. Im Sutra 4.10 spricht Patanjali genau von diesen latenten Eindrücken und Gewohnheitsmustern, die unsere Neigungen formen. Sie werden als anfangslos bezeichnet – es gibt keine erste Prägung, denn jede Prägung resultiert aus vorausgegangenen Impulsen.
  • Vāsanās – ein verwandter Begriff, der Verlangen oder Neigungen bezeichnet: Vāsanās sind die tief verwurzelten Wünsche und Triebe, die aus den saṃskāras hervorgehen. Man kann sie sich als die duftenden (denn vāsanā heißt auch Duft) Spuren vorstellen, die frühere Handlungen in unserem Wesen hinterlassen haben. Auch sie gelten als ohne Anfang, da sie seit jeher aus dem fortbestehenden Drang zu leben gespeist werden.
  • Āśiṣaḥ – das bedeutet Wille zu leben oder Wunsch zu existieren: Genau dieses Wort steht im Sutra 4.10 (im Original āśiṣo nityatvāt). Kommentatoren erklären āśiṣaḥ als das elementare Lebensstreben, den Wunsch "zu sein" und nicht aufhören zu sein. Swami Hariharananda Āraṇya beschreibt āśiṣaḥ als das ewig übertragene Verlangen zu leben und nicht nicht zu sein, aus dem letztlich sogar die Todesfurcht entsteht. Dieses Ur-Verlangen ist laut Patanjali nityaewig und stetig vorhanden.
  • Abhiniveśa – wörtlich Festhalten am Leben, oft übersetzt als Lebensangst oder Furcht vor dem Tod: Dieser Begriff taucht zwar in Sutra 4.10 selbst nicht auf, ist aber eng verwandt. Patanjali zählt abhiniveśa in einem früheren Vers (Sutra 2.9) zu den fünf Kleshas, den Ursachen von Leid. Dort heißt es: „Selbst bei dem Weisen ist diese tief verwurzelte, angeborene Angst vor dem Verstummen der Existenz (Tod) vorhanden“. Mit anderen Worten: Das Festhalten am Leben ist ein Urinstinkt, der sogar in denen fortbesteht, die es besser wissen müssten. Klassische Kommentatoren wie Vyāsa und Vācaspati Miśra erklären, dass diese Todesangst aus der Erinnerung an zahllose frühere Tode in früheren Leben stammt. Jeder von uns trägt also die unterschwellige Erfahrung mit, schon unzählige Male gestorben zu sein – was uns instinktiv an unserem Leben klammern lässt. Im Yoga wird abhiniveśa als leidvoller Affekt angesehen, als Ausdruck von Unwissenheit (Avidyā) und Ich-Verhaftung (Asmita).
  • „Anfangslos“ (anādi) ist ein Grundbegriff indischer Philosophie – er markiert Zustände oder Ketten ohne ersten Auslöser. Das erklärt, warum Saṃskāra nicht „wegtherapiert“, sondern transponiert werden: von Zwang zu Wahl.

Es ist wichtig, āśiṣaḥ (Lebenswille) und abhiniveśa (Angstgesteuertes Festhalten) zu unterscheiden. Die alten Lehrer betonen, dass der Wille zu leben an sich ein neutrales, ja sogar lebensnotwendiges Prinzip ist – eine Art Selbsterhaltungs-Trieb, ohne den kein Leben fortbestehen könnte. Diese Lebenskraft treibt jeden Atemzug und jede Nahrungsaufnahme an und steckt sogar hinter dem positiven Bestreben, durch Yoga das volle Potenzial des Lebens auszuschöpfen. Erst wenn dieser natürliche Lebenswille von Unwissenheit und Ego verzerrt wird, schlägt er in angstbesetztes Klammern um – das ist dann abhiniveśa, ein Quell von Leiden. Kurz gesagt: Āśiṣaḥ ist der neutrale Lebensdrang, abhiniveśa dessen Schattenseite, die sich als tiefsitzende Todesfurcht äußert. Dieses Verständnis hilft uns Praktizierenden, unseren eigenen Antrieb zum Leben weder blind zu verteufeln noch naiv zu glorifizieren. Wir können anerkennen, dass er einfach da ist – und gleichzeitig achtsam beobachten, wo er in uns zu Anhaftung oder Angst wird.

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Gedanken zu Yogasutra 4.10 – Kein Anfang und ein ewiger Lebenswille

Patanjali greift in dieser Sutra eine uralte indische Vorstellung auf: die Anfangslosigkeit (Sanskrit anādi) des Lebens und des Bewusstseins. Es gibt demnach keine erste Geburt und keinen ersten Wunsch, denn allem Leben wohnt dieser ewige Lebenswille inne.

Diese Idee mag ungewohnt klingen, insbesondere für Denkweisen, die einen klaren Anfang der Seele oder des Universums annehmen. Doch im Kontext der Yoga-Philosophie ist sie schlüssig: Wenn die Seele (Purusha) zeitlos ist und das Lebensprinzip ewig, dann haben auch die daraus entspringenden Impulse kein Entstehungsdatum. Das Sutra stützt so die Vorstellung von der Reinkarnation und einem zyklischen Daseinslauf, in dem jeder Impuls auf früheren Erfahrungen aus unzähligen Leben beruht. Das klingt theoretisch – doch es hat praktische Konsequenzen für uns als Yoga-Praktizierende: Anstatt vergeblich den allerersten Auslöser unserer inneren Triebe zu suchen, können wir akzeptieren, dass sie tief in der Existenz verwurzelt sind, und uns darauf konzentrieren, wie wir mit ihnen umgehen und sie letztlich überwinden können.

Wünsche und Neigungen in den Lebewesen

Was war der erste Wunsch?

Der erste Wunsch eines Bewusstseins müsste darin bestanden haben, zu inkarnieren. Sich in die (Schein-)Welt zu begeben.

Wann ist das geschehen? Patanjali sagt hier: Es gab für das Wünschen keinen Anfang. Der Wunsch zu leben (asiah, der Lebenswille) ist ewig.

Warum wünschen wir immer mehr

Letztendlich, so kommentiert Rainbowbody, leiden wir an dem Verlust der Verbundenheit an das große Ganze, der Eingebundenheit in das kosmische Bewusstsein. Was dann “... ein Gefühl des Mangels, der Abwesenheit, der Sehnsucht, des Verlangens oder der Begierde erzeugt, was zu einem eingefrorenen Zustand des unerfüllten, aber vertrauten Unbehagens führt (asiso nityatvat).” Was wäre die Lösung?

Stille beendet das Wünschen

Wann endet das Wünschen? Iyengar betont immer wieder, dass das wunschlose Handeln die Wünsche und irgendwann auch das Karma zum Erliegen bringt. Ein Geist in Stille, der “Grundzustand des Bewusstseins“, hat kein Karma zur Folge. Ein Yogi solle, so Iyengar weiter, in diesem Zustand der Stille handeln.

Rainbowbody schreibt: „Die Rückführung in die Ganzheit erfolgt dadurch, dass wir in der Lage sind, all unseren Erfahrungen in Kontinuität zu begegnen und sie zuzugeben. So wird santosha (vollständige Erfüllung) in jedem Moment erfahren. Um dieses ziellose Ziel – die vollständige Heilung – zu verwirklichen, wird Meditation (Sadhana in Form von Dhyana) praktiziert.”

In dieser Welt endet das Wünschen nie, so könnte man die Yogaphilosophie deuten. Aber mit Erreichen von Kaivalya befreien wir uns von dieser Welt. Dann endet auch das Wünschen. Die Schein-Welt des Maya hat keine Macht mehr über uns bzw. über das, was wir uns wünschen. Das Kapitel IV im Yogasutra - Kaivalya Pada - ist ganz dem Erreichen von Freiheit gewidmet.

Andere Deutung: Wunsch nach ewigem Leben

Desikachar und andere übersetzen anders: “Der Wunsch nach Unsterblichkeit” sei allen Menschen schon immer zueigen gewesen. Hierin sähe Patanjali die Ursache “für die Anfangslosigkeit unserer inneren Struktur”.

Klassische Kommentare zu Yogasutra 4.10

Die klassischen Kommentare bieten erhellende Einsichten, wie Sutra 4.10 in der Tradition verstanden wurde. Ein zentraler Punkt ist die philosophische Diskussion um den ersten Ursprung von Instinkten und Neigungen. Manche Yogis sehen in diesem Sutra eine Antwort auf ein uraltes Rätsel: Wenn jede Neigung aus einer früheren entsteht – was war die allererste Neigung? Kritiker könnten fragen, ob es nicht irgendwo einen Anfang gegeben haben muss. Der mittelalterliche Kommentator Bhoja (11. Jh.) etwa formuliert das Problem so: Wenn unsere Instinkte das Ergebnis früherer Handlungen aus vergangenen Leben sind, wie die Lehre vom Karma sagt, was ist dann mit dem ersten Leben? Hätte ein allererstes Wesen überhaupt Instinkte haben können, ohne vorherige Erfahrungen? Müsste der erste Impuls dann nicht ohne Ursache entstanden sein?

Patanjali beantwortet diese Frage laut Bhojas Rājamārtaṇḍa-Kommentar genau mit Sutra 4.10: Desire is eternal, and therefore there is no necessity for a beginning„Begierde ist ewig, daher braucht man keinen Anfang anzusetzen“. Mit anderen Worten, der Wunsch zu leben ist ein so grundlegendes Prinzip, dass er immer schon da war. Bhoja erläutert, dass Begierde wesentlich für die Existenz ist – ohne Verlangen gäbe es keine Existenz –, und dass dieses Verlangen ständig neue Eindrücke (saṃskāras) hervorbringt. Dadurch gibt es keine Unterbrechung im ewigen Kreislauf der Impulse und Wiedergeburten. Anstatt verzweifelt nach einem absoluten Anfang zu suchen, akzeptiert Patanjali einen regressus ad infinitum, einen unendlichen Rückgang ohne ersten Ursprung. Denn in seinem Weltbild hatte selbst das Universum keinen ersten Schöpfungsmoment und wird auch kein endgültiges Ende haben – es ist ein ewiger Zyklus. Sutra 4.10 untermauert genau diese Sicht: Die Kette von Leben, Verlangen, Eindrücken, erneutem Leben hatte nie einen Startpunkt, sondern dreht sich seit jeher.

Auch Vyāsa, der wichtigste altindische Kommentator der Yogasutra, betont in seinem Yoga-Bhāṣya die Anfangslosigkeit unserer mentalen Prägungen. Er verknüpft Sutra 4.10 mit der Klesha abhiniveśa: Selbst der Weiseste trägt die subtile Angst vorm Nicht-Existieren in sich, eben weil die Erinnerung an den Tod aus unzähligen früheren Existenzen unauslöschlich im Unterbewusstsein sitzt. Damit wird verständlich, warum unsere Neigungen so hartnäckig sind – sie sind buchstäblich uralt. Jeder Drang, den wir heute in uns spüren, hat eine lange Ahnenreihe. So heißt es in den Kommentaren, alle Wesen seien "von Instinkt und Überlebenswille durchdrungen, seit unvordenklicher Zeit". Diese Sichtweise unterstützt auch die Ethik im Yoga: Wir begegnen unseren hartnäckigen Mustern mit etwas mehr Verständnis, wissend, dass sie kein persönliches Versagen sind, sondern Teil der menschlichen Grundausstattung. Mehr zu Vyasas Kommentar findest du unten.

Interessant ist, dass die klassischen Interpretationen dem Lebenswillen nicht nur negative Seiten abgewinnen. Wie oben erwähnt, sahen Kommentatoren wie Āraṇya in āśiṣaḥ auch eine notwendige Triebkraft. Ohne den Wunsch zu existieren gäbe es keinen Impuls zur Selbsterhaltung – und auch keinen Antrieb, Erleuchtung zu erlangen. In diesem Sinne ist der Lebensdrang sogar der Motor der spirituellen Suche: Nur wer leben will, kann überhaupt den Weg des Yoga gehen, um die höchste Erkenntnis zu erreichen. Der Trick besteht also nicht darin, den Lebenswillen zu zerstören, sondern die mit ihm verbundene Angst, Anhaftgung und Gier zu überwinden. Genau darauf zielt Patanjalis Lehre ab.

Moderne Auslegungen und wissenschaftliche Perspektiven

Neben den klassischen Deutungen gibt es auch zahlreiche moderne Kommentare zu Yogasutra 4.10, die es in unsere Zeit übersetzen und teils mit Erkenntnissen der Wissenschaft untermauern. So betonen viele heutige Yogalehrer, dass Patanjali hier auf den universellen Überlebensinstinkt hinweist – etwas, das moderne Biologie und Psychologie bestätigen.

In der Evolution gilt der Wille zu leben als grundlegendes Prinzip: Jedes Lebewesen ist das Produkt einer ununterbrochenen Linie von Vorfahren, die überleben wollten (oder zumindest erfolgreich überlebt haben). Wer keinen Drang hatte, Gefahren zu meiden oder Ressourcen zu suchen, hat nicht lange genug gelebt, um Nachkommen zu zeugen – und somit hat die Natur diesen Zug gnadenlos aussortiert.

So gesehen, trägt jedes Lebewesen den jahrmillionenalten Überlebenswille seiner Ahnen in sich. Biologen sprechen vom Selbsterhaltungstrieb, der in verschiedenen Verhaltensweisen zum Ausdruck kommt: Nahrungsaufnahme, Fluchtreflex, Kampf ums Revier, Fortpflanzung etc.. Interessanterweise entdeckte man in der Verhaltensforschung, dass manche Ängste quasi angeboren sind – offenbar als Ergebnis evolutionärer Prägung. Ein Beispiel: Schon sechs Monate alte Babys zeigen messbaren Stress, wenn sie Bilder von Spinnen oder Schlangen sehen, lange bevor sie das von ihren Eltern gelernt haben könnten. Ihre Pupillen weiten sich, ein Zeichen für die Aktivierung des Hirnareals, das für Angst und Fluchtreflex zuständig ist. Forscher schließen daraus, dass eine vorsichtige Abneigung gegen potenziell gefährliche Tiere wie Schlangen oder Spinnen evolutionär verankert ist – ein kleiner Teil des großen Überlebensprogramms, das uns allen innewohnt. Diese wissenschaftlichen Befunde spiegeln in gewissem Sinne Patanjalis Kernidee wider: Da ist ein uralter Antrieb in uns, der vor unserer individuellen Lernerfahrung liegt und uns am Leben hält.

Auch die Psychologie kennt Konzepte, die an Yogasutra 4.10 erinnern. Sigmund Freud zum Beispiel postulierte neben dem berüchtigten Todestrieb auch einen fundamentalen Lebenstrieb. Er nannte ihn Eros, den Zusammenschluss aus Selbsterhaltung und Sexualität – die Kraft, die das Leben erhalten und fortpflanzen will. Dieser Lebensinstinkt ist nach Freud tief im Unbewussten verankert und steuert viele unserer Handlungen, ohne dass wir es merken. So entspricht Freuds Lebenstrieb im Wesentlichen dem, was Patanjali den angeborenen Drang zu existieren nennt. Der Todestrieb (Thanatos) wiederum – die Tendenz zur Auflösung, Aggression oder Selbstvernichtung – könnte man als das Gegenprinzip sehen. In Patanjalis Kategorisierung wäre das eventuell vergleichbar mit den zerstörerischen Auswirkungen der Kleshas (wie Raga, Dvesha und Abhinivesha), die letztlich ins Leid führen. Freud entwickelte seine Theorie zwar unabhängig, aber bemerkenswerterweise auf Grundlage der Evolutionstheorie Darwins. Auch er ging davon aus, dass unsere Psyche von Ur-Instinkten geformt wird, die keine einzelnen „Startpunkte“ in unserem Leben haben, sondern Ergebnis eines langen Erbes sind.

Ein moderner spiritueller Lehrer, der Yogasutra 4.10 kommentiert hat, ist Osho. Seine Interpretation sprüht vor paradoxen Bildern und kann uns inspirieren, über das Verhältnis von Begehren und Loslassen nachzudenken. Osho meint: „Es gibt keinen Anfang des Verlangens, aber es gibt ein Ende. Wunschlosigkeit hat einen Anfang, aber kein Ende.“. Was will er damit sagen? Das Begehren begleitet uns seit jeher, doch es ist nicht endlos – man kann es beenden. Wunschlosigkeit (also ein Geist frei von Begierde) hingegen hat irgendwann einen Anfang – nämlich in dem Moment, wo man ernsthaft den Yoga-Weg beschreitet oder echte innere Loslösung erfährt – und wenn sie einmal erwacht ist, muss sie nie wieder enden. Osho beschreibt die Dynamik so: Wir alle haben Millionen von einzelnen Wünschen, die unsere Energie zerstreuen. Lösen wir diese Wünsche jedoch auf, wird die freiwerdende Energie zu einem immensen Strom, der nach oben fließt – sinnbildlich durch das Kronenchakra – und schließlich zur Befreiung führt. Dieses farbenreiche Bild entspricht der yogischen Vorstellung, dass beim Überwinden aller Samskaras und Vasanas eine gewaltige Lebenskraft frei wird, die uns ins höchste Bewusstsein tragen kann. Osho greift damit im Grunde Patanjalis nachfolgende Sutras vorweg: Nachdem Sutra 4.10 die Anfangslosigkeit der Prägungen feststellt, zeigt Sutra 4.11 den Ausweg – nämlich dass diese Prägungen verschwinden, wenn ihre Ursachen verschwinden. Und der Yogaweg liefert die Mittel, genau das zu bewirken.

Nicht zuletzt kann man Yogasutra 4.10 auch als Ermutigung verstehen, die modernen Neurowissenschaften bestätigen: Viele unserer Reaktionen entspringen uralten Hirnarealen – dem „Reptiliengehirn“ und limbischen System, die für Kampf, Flucht, Hunger, Fortpflanzung zuständig sind. Das ist nichts, wofür wir uns schämen müssten; es ist Teil unseres Bauplans. Praxisnah heißt das: Wenn wir im Alltag oder in der Meditation plötzlich einen unerklärlichen Impuls verspüren – sei es Angst in einer ungefährlichen Situation, sei es ein plötzliches Verlangen nach Sinneserfüllung – können wir uns bewusst machen, dass hier ein sehr alter Teil von uns spricht. Ein Teil, der seit Urzeiten darauf programmiert ist, unser Überleben zu sichern. Indem wir diesen Impuls beobachten, ohne sofort von ihm mitgerissen zu werden, beginnen wir schon, seinen Griff zu lockern. Patanjali würde sagen: Durch Achtsamkeit und Unterscheidungskraft (Viveka) können wir die Kleshas nach und nach abbauen und so den Kreislauf der anfangslosen Neigungen durchbrechen.

Weitere ausgewählte Forschungsergebnisse passend zu Yogasutra 4.10

  • Joseph LeDoux (Neurowissenschaft):
    Der New Yorker Neurowissenschaftler Joseph LeDoux hat die moderne Furchtforschung geprägt: In Pavlovschen Furcht-Konditionierungsparadigmen zeigt sich die Amygdala als Knotenpunkt für Aufnahme, Speicherung und Ausdruck von Furchtgedächtnis — ein neurobiologisches Echo auf Patanjalis Idee eines Rohimpulses vor der Wahrnehmung. Bildgebungs- und Läsionsstudien untermauern, dass die Amygdala selbst bei subliminalen (unterschwelligen) Reizen anspringt und Verhalten steuert, bevor „der Verstand“ ausführlich kommentiert. PubMed
  • Arne Öhman & Susan Mineka (Evolutionspsychologie der Furcht):
    Die Psycholog*innen Arne Öhman und Susan Mineka formulierten die Theorie der „Preparedness“: Der Mensch ist evolutionär vorbereitet, bestimmte Reize (etwa Schlangen, Spinnen) schnell zu fürchten; diese Furcht wird rasch gelernt, ist schwer zu löschen und funktioniert relativ kognitionsarm (man muss nicht viel wahrnehmen) — passend zum uralten Charakter des Impulses in Yogasutra 4.10. Ihre Arbeiten beschreiben eine „Fear-Module“-Architektur, die selektiv, automatisch und gegenüber bewusster Kontrolle erstaunlich widerständig sein kann. PubMed
  • Jaak Panksepp (Affective Neuroscience, SEEKING-System):
    Der Neurowissenschaftler Jaak Panksepp beschrieb primäre Emotionssysteme des Säugerhirns; zentral ist das SEEKING-System — ein dopaminerg getriebener Annäherungs- und Erkundungs-Motor, der Organismen in Richtung Nahrung, Sicherheit, Erkenntnis und Neugier zieht. Das passt zur yogischen Idee eines neutralen Lebenswillens (āśiṣaḥ): Energie, die an sich weder gut noch schlecht ist, sondern gerichtet werden will. Moderne Reviews verbinden das SEEKING-Netzwerk mit mesolimbischer Motivation und zeigen zugleich, wie Fixierungen (z. B. Sucht) diese Grundbewegung verengen können. Frontiers

Zusammengenommen zeichnen diese Linien ein kohärentes Bild: Ein vor-kognitiver, alter Antriebs- und Schutzapparat (Amygdala, Preparedness, SEEKING) reagiert schnell; unsere Arbeit im Yoga besteht darin, früh zu bemerken, Raum zu schaffen und die Energie bewusst zu lenken (Abhyāsa, Vairāgya, Atem, Mitgefühl) — der Übergang von Rohimpuls zu gewählter Handlung.

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Übungsvorschläge zu Sutra IV-10

Meditation: So erfährst du 4.10 auf dem Kissen

„Lebensimpuls“-Labeln in der Meditation (10–15 Min.)

Wozu: Du lernst den Wille-zu-leben-Impuls als neutrale Kraft zu spüren – getrennt von Wunsch und Angst.

So geht’s:

  1. Setz dich, Atem natürlich.
  2. Jedes Mini-Signal (Schlucken, Kratzen, Nach-vorn-Fallen) wird innerlich gelabelt: „Leben will.“
  3. Wenn Lust auftaucht (z. B. „Jetzt Handy!“) → „Neigung“.
  4. Wenn Enge/Abwehr auftaucht („Bloß nicht!“) → „Anhaften/abhiniveśa“.
  5. 30 Sek. beim Körpergefühl bleiben: Wo sitzt es? Druck? Wärme? Zittern?

Wie es sich anfühlt: Du merkst, dass „Leben will“ warm, neutral, basal ist. „Neigung“ hat Zug. „Anhaften“ hat Zähne. Drei Geschmacksrichtungen, ein Ursprung.

Alternativ: Das Aufgeben des Lebenswillens

Wie könntest du deinen Wunsch zu leben verlieren? Was müsste eintreten, damit du das Ablegen bzw. Verlieren deines Körpers (und deines Verstandes) nicht mehr fürchtest.

Meine Erkenntnisse/Erfahrungen bei/mit dieser Übung

 

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4.10 im Alltag erfahren

1) Drei-Atemzüge-Regel

Wann: Vor einer Entscheidung, einem Klick, dem Geben einer Antwort.
So geht’s: Stoppe 3 Atemzüge vor deiner Aktion. Flüstere innerlich: „Welche Neigung in mir kommt hier zum Ausdruck?“
Nutzen: Einige Sekunden Abstand zwischen Impuls und Reaktion. Da wohnt Freiheit.

2) Zwei-Hände-Check (30 Sek.)

Wann: Bei Angst oder Vermeidung.
So geht’s: Eine Hand auf Herz (Wille zu leben), eine auf Bauch (Anhaften). Sag: „Danke, dass du mich schützen willst.“ Dann: „Ich wähle sanften Mut.“
Dann setze eine kleine Handlung.

Warum’s wirkt? Du integrierst den Lebensdrang statt ihn zu bekämpfen.

3) Der höfliche Kaffee

Wann: Morgenlust auf Kaffee Nummer 2.
So geht’s: Frag: „Dient dieser Kaffee dem Leben oder drückt sich hier Klammern aus?“
Wenn „Dient“ → genieße langsam. Wenn „Klammern“ → trink Wasser, warte 10 Min., entscheide neu.
Lernpunkt: Neigung ≠ Befehl, du musst nicht jedem Drang nachkommen.

4) Feierabend-Debrief (3 Fragen)

Wann: Immer abends für 5 Minuten. Frage dich:

  1. Wo habe ich das rohe Leben gespürt?
  2. Wo habe ich geklammert?
  3. Was hat gelockert? (Atem? Humor? Bewegung?)

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Kommentar von Vyasa zu Sutra 4.10

Erläuterungen zu Vyasa

Vyasa war ein indischer Philosoph des 5. bzw. 6. Jahrhunderts nach Christi, der den ältesten überlieferten Kommentar zum Yogasutra des Patanjali schrieb. Der Text wird Yogabhashya (wörtlich "Kommentar (Bhashya) zur Yogaphilosophie") genannt und um 600 nach Christi datiert. Vyasas Kommentare zu den Sutras sind oftmals recht kurz.

Ohne Vyasas Kommentar wären viele Sutras heute fast unverständlich. Manche Gelehrte sagen, der Text ist erst durch den Kommentar wirklich „lesbar“.

Vyāsa war vielleicht/wahrscheinlich kein einzelner Autor, sondern ein Titel, der mehrere Kommentatoren der indischen Tradition umfasst. Die Stimme, die wir im Yogasutra-Kommentar hören, ist also vielleicht ein Chor.

Vyasas Yogabhashya wurde im 8./9. Jh. von Shankara (788–820 n. Chr, indischer Gelehrter, Vedanta-Philosoph, Begründer der Advaitavedānta-Tradition) kommentiert. Sein Kommentar nennt sich Yogabhashyavivarana, Vivarana ist ein Unterkommentar.

Auch Vachaspati Mishra hat einen frühen, berühmten Kommentar zum Yogasutra geschrieben. (Meine Quellen für diese Kommentare waren unterschiedliche Bücher und Webseiten, zum Beispiel Legget (siehe Literatur) und wisdomlib.org/hinduism/book/yoga-sutras-with-commentaries/). Ich gebe hier diese Kommentare in für mich relevanten Auszügen in Worten wieder, die für mich den Sinn in heutigen Worten am besten wiedergeben. Dies ist explizit kein Bemühen, die Originalkommentare wortgetreu wiederzugeben. Fehlinterpretationen sind natürlich in meiner Verantwortung.

Du siehst etwas anders, hast einen Fehler gefunden oder möchtest etwas ergänzen? Bitte schreibe dies unten bei "Ergänzungen von dir".

Die Kommentare von Vyasa, Mishra und Shankara sind oft wörtlich übersetzt worden, zum Beispiel bei den oben angegebenen Quellen.

(Erläuternde Paraphrase eines englischen Übersetzungstextes, behutsam erweitert und in Klartext gebracht.)

Worum es Vyāsa geht

Vyāsa kommentiert, warum Neigungen und Eindrücke (saṃskāra, vāsanā) keinen Anfang haben: Sie werden getragen von einem immerwährenden Wunsch zu sein – der Regung: „Ich will nicht aufhören zu existieren, ich will weiterleben.“ Dieser Lebenswille (āśiṣaḥ) ist ständig präsent und nährt die Residuen, die dann wiederum unser Erleben strukturieren.

Mit Residuen bezeichnet Vyāsa die latenten Eindrücke und Neigungs-Spuren im Geist (citta), die aus früherem Erleben und Handeln stammen. Im Sanskrit sind dafür vor allem die Begriffe saṃskāra (Eindruck/Prägung) und vāsanā (Neigung, „Duft“ der Handlung) maßgeblich. Diese Residuen sind anfangslos (anādi), werden durch äußere oder innere Anlässe „gezündet“ und steuern dann, oft unbemerkt, Wahrnehmung, Gefühl und Verhalten.

1) Residuen sind anfangslos – weil der Wunsch zu leben nie aussetzt

Vyāsa argumentiert: Ein gerade geborener Mensch könnte ohne vorherige Erfahrung weder Furcht vor dem Ende noch Vermeidung von Schmerz entwickeln – denn Vermeidung setzt Erinnerung voraus. Dass wir trotzdem schon früh Instinkte zeigen, erklärt er so: Der Geist (citta) trägt seit jeher Residuen in sich. Äußere Anlässe aktivieren lediglich bestimmte Spuren, damit der Purusha (das reine Gewahrsein) Erfahrung sammeln kann.

Klartext: Was dich heute zieht oder drückt, hat eine lange Vorgeschichte im Geist – nicht nur aus diesem Leben. Die Impulse sind alt, unsere Wahl ist neu.

2) Wie „Form“ der Psyche verstanden wird – und warum Kontinuität plausibel ist

Vyāsa zitiert Gegenpositionen: Manche Philosophen meinen, der Geist nehme immer nur die Form des jeweiligen Körpers an – wie Licht, das sich in einem Gefäß ausbreitet. So ließe sich Wiederholung (ähnlicher Muster) ohne alte Spuren erklären.

Vyāsas eigene Linie ist schärfer: Nicht der Geist wird jedes Mal neu geformt; vielmehr manifestiert sich ein von sich aus bestehender Geist und dehnt sich – je nach Bedingungen – aus oder zieht sich zusammen. Was wir als „Kontinuität“ erleben, beruht darauf, welche Residuen die Situation erregt.

Klartext: Deine Muster sind kein Zufall des Tagesforms; sie sind gezündete Altlasten. Das Außen ist dabei der Zünder, nicht der Ursprung deiner Muster.

3) Zwei Zündquellen – äußerlich und innerlich

Vyāsa unterscheidet äußere und innere „erregende Ursachen“:

  • Äußerlich (körperbezogen): Handlungen, die Instrumente (z. B. unseren Körper) brauchen – Beispiele sind Lob, Spenden von Almosen (dāna), Verehrungsriten

  • Innerlich (geistbezogen): Handlungen, die nur den Geist benötigen – Vertrauen (śraddhā), Erkenntnis, Sammeln des Geists.

Er betont sogar: Innere Mittel sind stärker. Ein geschulter Geist kann Dinge bewegen, zu denen reine Außensteuerung nie fähig wäre. Zur Illustration zitiert er mythische Bilder – etwa den Weisen Agastya, der „den Ozean trinkt“: kein Physikunterricht, sondern Metapher für geistige Bündelung und Durchschlagskraft.

Klartext: Außenübungen sind gut. Geisttraining (Klarheit, Wunschlosigkeit, Sammlung) ist besser.

4) Was das praktisch heißt – heute, hier, auf der Matte und im Alltag

  1. Beobachten statt bekämpfen: Wenn ein Impuls aufschießt (App greifen, im Streit kontern, fliehen), markiere innerlich „Leben will“. Das entgiftet den Rohimpuls. Erst dann entscheide dich zu einer Handlung.

  2. Zünder erkennen: Frage in hitzigen Momenten: „Was hat das gerade erregt – außen oder innen?“ Die Antwort zeigt den Hebel, sich von Mustern zu befreien: Grenze ziehen, Pause machen, ruhiger Atem (außen) oder Reframing, Mitgefühl, Loslösung (innen).

  3. Innere Mittel stärken:

    • Śraddhā (Vertrauen): 3 Sätze, die tragen: „Ich darf warten.“ – „Ich kann wählen.“ – „Es geht vorbei.“

    • Vairāgya (Loslösung): 90-Sekunden-Welle eines Begehrens bewusst spüren: Ziehen fühlen, nicht füttern.

    • Jñāna (Einsicht): Rückwärtsfaden überlegen: „Was war davor?“ – drei Glieder zurück vor dem Impuls, bis Ruhe spürbar wird.

    • Dhyāna (Sammlung): 10 Minuten still beobachten: Geräusch, Körper, Gedanke – alles darf, du musst nichts.

  4. Außen mit Sinn füllen: Kleine Achtsamkeitsrituale setzen neue saṃskāra – bewusst gelebte Spuren.

Über das Leben von Shankara

Śaṅkara – Leben, Werk und Bedeutung für die Yogaphilosophie

Śaṅkara (auch bekannt als Śaṅkarācārya oder Shankara), geboren im 8. Jahrhundert in Südindien (788–820), ist einer der bekanntesten Philosophen und spirituellen Lehrer des Advaita Vedānta. Sein Leben gleicht einem Wanderweg zwischen Legende und Geschichte – mit spirituellem Tiefgang, intellektuellem Feuer und einer Prise mystischer Überhöhung. Doch unabhängig von den genauen Daten und Wundergeschichten bleibt: Seine Ideen wirken bis heute. Auch im Yoga.

🧘‍♂️ Wer war Śaṅkara?

Śaṅkara wurde vermutlich in Kaladi, im heutigen Kerala, geboren. Schon als Kind galt er als außergewöhnlich – hochintelligent, fragend, neugierig auf das Wesentliche. Früh verließ er seine Familie, um Sannyāsin zu werden – also Wandermönch, asketisch, radikal dem Geistigen zugewandt. Ein radikaler Schritt, selbst nach damaligen Maßstäben.

Er reiste quer durch Indien, diskutierte mit Vertretern anderer Schulen (oft wortgewaltig und nicht selten siegreich), gründete Klöster und prägte eine ganze philosophische Bewegung. Sein Ziel: Das Wissen um die Einheit allen Seins wieder in den Mittelpunkt zu rücken – jenseits von Ritualismus, Jenseitsversprechen und dogmatischer Spaltung.

📚 Was hat er geschrieben? Und warum ist das wichtig?

Śaṅkara war kein Vielschreiber im modernen Sinn, aber seine Werke haben Wucht. Besonders wichtig:

  • 🔹 Brahmasūtra-Bhāṣya
    Sein wohl berühmtestes Werk: ein Kommentar zu den Brahmasūtras, dem philosophischen Herzstück des Vedānta. Hier entfaltet er die Kernaussage des Advaita Vedānta: Alles ist eins. Brahman ist das einzig Wirkliche. Die Welt der Formen ist letztlich Illusion (Māyā).
  • 🔹 Upaniṣad-Kommentare
    Śaṅkara kommentierte auch zentrale Upaniṣaden – jene Texte, die die tiefsten Fragen des Selbst, der Wirklichkeit und der Befreiung behandeln. Seine Lesart macht klar: Yoga ist nicht nur Praxis, sondern Erkenntnisweg. Nicht das Tun allein befreit, sondern das Verstehen.
  • 🔹 Bhagavadgītā-Bhāṣya
    Auch hier interpretiert Śaṅkara das Geschehen nicht als moralisches Lehrstück, sondern als spirituellen Weckruf: Handle, aber erkenne, dass du nicht der Handelnde bist. Karma-Yoga, Jñāna-Yoga, Bhakti – für ihn keine Gegensätze, sondern Stufen der Reife.

Shankaras Doppelrolle – Berühmt als Advaita-Vedanta-Philosoph, kommentierte er hier einen Yoga-Text – und brachte so zwei Philosophieströmungen miteinander ins Gespräch.

🧠 Was sagt Śaṅkara, das heute noch trägt?

Für Menschen, die sich mit Yogaphilosophie beschäftigen – und nicht nur schwitzen, sondern auch verstehen wollen – ist Śaṅkara Gold wert. Seine Lehren laden ein, hinter die Oberfläche zu schauen. Meditation? Ja, aber nicht als Methode zur Beruhigung, sondern zur Erkenntnis der wahren Natur.

Er sagt: Du bist nicht dein Körper, deine Gedanken oder dein Yoga-Fortschritt. Du bist Brahman. Schon immer. Nur vergessen.

🔍 Was bedeutet das für dich?

  • Wenn du meditierst, denk daran: Du musst nicht irgendwohin kommen. Du bist schon da.
  • Wenn du philosophierst, lass dich nicht verwirren von intellektueller Gymnastik. Suche das Einfache im Komplexen.
  • Wenn du zweifelst, erinnere dich: Erkenntnis ist kein fernes Ziel, sondern etwas, das du jederzeit berühren kannst – still, wach, jenseits der Worte.

Mehr auf Yoga-Welten.de über Leben und Werk von Shankara.

Siehe auch folgende Sutras

Yoga Sutra I-35: Oder die Meditation über subtile Sinneswahrnehmung führt zur Stabilität des Geistes.

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Yoga Sutra II-1: Strenge Übungspraxis, Selbststudium und Hingabe an den höchsten Herrn – das ist der Kriya Yoga

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Yoga Sutra II-3: Unwissenheit, Identifikation mit dem Ego, Begierde, Abneigung und (Todes-)Furcht sind die fünf leidbringenden Zustände (Kleshas)

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Yoga Sutra II-9: Haften am Leben (Abhinivesa) ist das instinktive Verlangen nach Leben, das man sogar beim Weisen findet

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Yoga Sutra III-51: Wenn ein Yogi auch an diese (Allmacht, Allwissenheit …) nicht anhaftet wird der letzte Samen des Bösen zerstört und vollständige Befreiung (Kaivalya) erlangt

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Fazit: Bedeutung für die Yoga-Praxis

Yogasutra 4.10 bietet uns eine tiefgehende Perspektive auf die menschliche Natur. Die Vorstellung, dass unser innerer Drang zu leben keinen Anfang hat, kann zunächst überwältigend wirken – sie konfrontiert uns mit der scheinbar endlosen Spirale unserer Existenz. Doch gleichzeitig liegt darin eine beruhigende Erkenntnis: Wir alle teilen diesen uralten Lebensimpuls; er ist nichts Persönliches, sondern ein fundamentales Band, das uns mit allen Lebewesen verbindet. Für Yogapraktizierende und -lehrende ist es hilfreich zu verstehen, dass hartnäckige Muster wie Angst vor dem Loslassen oder immer wiederkehrende Wünsche aus dieser tiefen Quelle gespeist werden.

In der Praxis können wir diese Erkenntnis auf zweierlei Weise nutzen. Erstens fördert sie Mitgefühl – mit uns selbst und anderen. Wenn ein Schüler immer wieder von einer bestimmten Angst eingeholt wird oder man selbst trotz aller Meditationsfortschritte an gewissen Wünschen hängt, kann man anerkennen: Das ist der anatolische (anfangslose) Kern des Menschseins, der sich da meldet. Nichts stimmt nicht mit uns – wir arbeiten hier mit jahrmillionenalter Energie.

Zweitens erinnert uns Sutra 4.10 daran, warum der Yogaweg überhaupt nötig ist. Gerade weil die treibenden Kräfte in uns so alt und mächtig sind, braucht es eine ebenso tiefgehende Methode, um sich von ihren begrenzenden Aspekten zu befreien. Patanjali hat diesen Ausweg skizziert: Durch disziplinierte Praxis (Abhyāsa) und Loslösung (Vairāgya), durch das Auflösen der Unwissenheit und schließlich durch die im achten Glied, der Samādhi, vollzogene Entwurzelung der Samskaras kann der Yogi den endlosen Zyklus beenden.

Am Ende steht die Aussicht, dass das, was keinen Anfang hatte, doch ein Ende finden kann – nämlich in der Erfahrung der Kaivalya (Befreiung), wenn der Geist zur Ruhe kommt und keine neuen Eindrücke mehr sät. Bis dahin dürfen wir den ewigen Lebenswillen sogar als Verbündeten sehen: Es ist jene Kraft, die uns überhaupt erst auf die Matte und auf das Meditationskissen gebracht hat. Dieser Lebensfunke, so alt er sein mag, treibt uns an, nach Erkenntnis zu suchen. Patanjalis Yogasutra 4.10 erinnert uns daran, dass dieser Funke zwar anfangslos glimmt, wir ihn aber im Lichte des höheren Bewusstseins zum Erleuchtungsschub entfachen können.

Ergänzungen und Fragen von dir zur Sutra

Ist etwas unklar geblieben? Kannst du etwas ergänzen oder korrigieren?

Der Stoff der Sutras ist für uns heutige Menschen nicht leicht zu verstehen. Ist im obigen Text irgendetwas nicht ganz klar geworden? Oder kannst du etwas verdeutlichen oder berichtigen? Eine eigene Erfahrung schildern ... Vielen Dank vorab für jeden entsprechenden Hinweis oder eine Anregung:

 

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Videos zu Sutra VI-10

Wünsche und Karma – Kommentar von Sukadev zu Yoga Sutra – Kap. 4, Vers 7-11

Länge: 16 Minuten

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Ewiger Wille zum Leben – Kommentar von Anvita Dixit zu Yogasutra 4.10

Länge: 11 Minuten

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Video von Ahnand Krishna zur Sutra

Freiheit von allem vergangenem Karma: Asha Nayaswami (Class 64) zu Sutra 4.7 bis 4.11

Länge: 76 Minuten

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Geschrieben von

Peter Bödeker
Peter Bödeker

Peter hat Volkswirtschaftslehre studiert und arbeitet seit seinem Berufseinstieg im Bereich Internet und Publizistik. Nach seiner Tätigkeit im Agenturbereich und im Finanzsektor ist er seit 2002 selbständig als Autor und Betreiber von Internetseiten. Als Vater von drei Kindern treibt er in seiner Freizeit gerne Sport, meditiert und geht seiner Leidenschaft für spannende Bücher und ebensolche Filme nach. Zum Yoga hat in seiner Studienzeit in Hamburg gefunden, seine ersten Lehrer waren Hubi und Clive Sheridan.

https://www.yoga-welten.de

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