tataḥ tad-vipāka-anugṇānām-eva-abhivyaktiḥ vāsanānām
ततस्तद्विपाकानुगुणानामेवाभिव्यक्तिर्वासनानाम्
Yogasutra 4.8 ist kein frommes Zitat für yogische Postkarten, sondern eine präzise Gebrauchsanweisung für das menschliche Schicksal: Was wir denken und tun, kehrt zu uns zurück – nicht als Strafe, sondern als Spiegel unserer eigenen Neigungen. Aber nur dann, wenn passende Bedingungen herrschen. Dieser Artikel zeigt, wie klassische Kommentatoren und moderne Forschung denselben Nerv treffen, und warum es sich lohnt, in Meditation und Alltag die eigenen „Früchte“ einmal genauer zu kosten.
Kurz zusammengefasst
- Sutra 4.8: Jede Handlung (Karma) trägt eine Frucht, die exakt den zugrunde liegenden Neigungen (Vāsanās) entspricht.
- Karma-Arten: Es gibt weiße (heilsame), schwarze (unheilsame) und gemischte Handlungen, die jeweils passende Ergebnisse hervorbringen.
- Vyāsa & klassische Kommentare: Nur die Eindrücke, die zur „Klima- und Bodenlage“ einer Existenz passen, treten hervor. Andere bleiben ungenutzt im Speicher.
- Moderne Meister: Vivekananda, Iyengar und andere veranschaulichen, wie Karma-Früchte nur dort reifen, wo die Umgebung sie erlaubt – ein himmlisches Leben bringt keine höllischen Neigungen hervor.
- Psychologie & Neurowissenschaft: Gewohnheiten (Duhiggs Habit Loop), Libets Experimente und Brewers Forschung zeigen, dass Handlungen unbewusst vorbereitet werden – aber durch Bewusstsein und Achtsamkeit veränderbar sind.
- Praxis: Meditation und Alltagssituationen (z. B. im Stau, im Konflikt, beim Sport) bieten Räume, alte Neigungen zu erkennen und bewusst zu unterbrechen.
Details und Erläuterungen zu allen Punkten im weiteren Artikel.
Bedeutung und Übersetzung des verwendeten Sanskrits
Hier sind zunächst die Übersetzungsmöglichkeiten für die einzelnen Wörter, damit du die Übersetzung selbst für ein besseres Verständnis anpassen kannst:
- Tatah, tataḥ = von da; daher; hiervon;
- Tad = dessen; dies oder das;
- Vipaka, vipāka, vipakah = Ergebnis; Früchte; Reife; Heranreifen; Verwirklichung; Erfüllung; Reifung;
- Anugunamam, anugunânâm, anu-guṇānam = entsprechend; gleichartig; qualitative Bedingungen; sich einer bestimmten oder geeigneten Qualität hingeben; Resonanz; günstige Bedingungen finden;
- Eva = nur; so; daher;
- Abhi = zur;
- Vyakti = Erscheinungsform; Manifestation;
- Ab-hivyaktih, abhi-vyakti, abhivyaktiḥ, abhivyaktir = Manifestierung; auftauchen; entstehen; zur Unterscheidung führend; Hervortreten; Eigenart;
- Vasananam, vâsanânâm, vāsana = Wünsche; Neigungen; (subtile) Triebe; alte gewohnheitsmäßige Tendenzen; unbewusste oder zwanghafte Neigungen; gewohnheitsmäßige Muster; Restneigungen; Charakterzüge; Denkgewohnheiten; Verhaltensweisen; unterbewusste Prägungen; der Eindruck von irgendetwas, der sich im Geist festsetzt; Wissen aus Erinnerung;
Zu den Quellen
Buchbesprechungen, Erläuterungen zur Auswahl der Übersetzungsvarianten und allgemeine Hinweise zur Sutraübersetzung findest du im zugehörigen Artikel. Hier nun die Kurzauflistung:
Bücher
- Mircea Eliade: Yoga – Unsterblichkeit und Freiheit
- Iyengar: Der Urquell des Yoga
- Deshpande/Bäumer: Die Wurzeln des Yoga
- Geraldine Coster: Yoga und Tiefenpsychologie
- R. Sriram: Von der Erkenntnis zur Befreiung – Das YogaSutra
- Govindan: Die Kriya Yoga Sutras des Patanjali
- Mallinson/Singleton: Roots of Yoga
- R. Palm: Der Yogaleitfaden des Patañjali
- T.K.V. Desikachar: Über Freiheit und Meditation | Das Yoga Sutra von Patanajali
- Feuerstein, Georg: Die Yoga Tradition (Amazon)
- Skuban, Ralph: Patanjalis Yogasutra (Amazon)
- Sri Swami Satchidananda: The Yoga Sutras of Patanjali (Amazon)
- Trevor Leggett: The complete Commentary by Sankara on the Yoga-Sutras* (Amazon)
Internetseiten
- Internet-Übersetzung des Yogasutras auf Yoga-Vidya.de
- Zu den Sutras auf ashtangayoga.info
- Zu den Sutras auf 12koerebe.de
- Zu den Sutras auf vedanta-yoga.de
- Openland.de (mittlerweile offline)
- Zu www.bodhi.sofiatopia.org (buddhistische Kommentare zum Yogasutra nur noch als Buch)
- sanskrit-sanscrito.com (Sutras anscheinend entfernt)
- Zur Übersetzung von Chip Hartranft (PDF)
- Die Übersetzung von Hariharananda Aranya, I. K. Taimni, Vasa Houston, Barbara Miller, Swami Satchidananda, Swami Prabhavananda, Swami Vivekananda finden sich auf dieser Seite.
- Übersetzung von James Haughton Woods
- Rainbowbody.com (ausführliche und eigene Kommentierung)
- Wisdom Library
Weitere Quellen, z. B. zu aktuellen Studien, sind direkt im Text verlinkt.
Dein Übersetzungsvorschlag
Du findest die bisherigen LeserInnen-Übersetzungen und -Ergänzungen unten.
Hast du einen eigenen Übersetzungsvorschlag?
Wie würdest du diese Sutra übersetzen? Manchmal ergeben schon kleine Wortveränderungen ganz neue Aspekte. Trau dich ... :-)
Einordnung dieser Sutra im Yogasutra
Kurze Zusammenfassung der vier Kapitel des Yogasutras
- 1. Samādhi Pāda – Über die Versenkung
Beschreibt das Ziel des Yoga: das zur Ruhe bringen der Gedanken im Geist. Erläutert, was Yoga ist, die Arten von Samādhi (meditativer Versenkung) und wie der Geist durch Übung (abhyāsa) und Loslösung (vairāgya) zur Ruhe gebracht werden kann. - 2. Sādhana Pāda – Über die Praxis
Behandelt die konkrete Praxis des Yoga. Führt die acht Glieder des Yoga (Ashtanga Yoga) ein: Yama, Niyama, Asana, Pranayama, Pratyahara, Dharana, Dhyana, Samadhi. Schwerpunkt liegt auf der ethischen Vorbereitung und inneren Reinigung. - 3. Vibhūti Pāda – Über die übernatürlichen Kräfte
Beschreibt die fortgeschrittenen Stufen der Praxis (Dharana, Dhyana, Samadhi = Samyama) und die daraus entstehenden übernatürlichen Kräfte (Siddhis). Warnt davor, sich von diesen Kräften ablenken zu lassen. - 4. Kaivalya Pāda – Über die Befreiung
Erklärt das Ziel des Yoga: Kaivalya (vollkommene Befreiung des Selbst von der Materie). Diskutiert die Natur des Geistes, Karma, Wiedergeburt und wie durch Erkenntnis die endgültige Freiheit erlangt wird.
Yoga-Sutra 4.8 wird oft sinngemäß übersetzt als: „Aus diesen drei Arten des Handelns entspringen Früchte, die den zugrunde liegenden Neigungen entsprechen.“ Patanjali fasst hier in knapper Form ein zentrales Karmagesetz zusammen: Unsere Taten (Karma) hinterlassen Spuren im Inneren und führen zu Ergebnissen („Früchten“), die genau zu den ursprünglichen Absichten und Tendenzen passen. Mit anderen Worten – gute Handlungen führen zu entsprechend „guten“ Konsequenzen, schlechte zu „schlechten“, und gemischte Handlungen tragen gemischte Ergebnisse in sich. Dieses Sutra knüpft an 4.7 an, wo Patanjali erläutert, dass die Handlungen eines vollkommenen Yogis „weder weiß noch schwarz“ (also karmisch neutral) sind, wohingegen die Handlungen aller anderen Menschen drei verschiedene Färbungen haben. Sutra 4.8 präzisiert nun: Nur die Eindrücke und Resultate, die zu der jeweiligen Qualität der Tat passen, gelangen schließlich zur Auswirkung.
Schlüsselbegriffe und ihre Bedeutung
Um Sutra 4.8 im Detail zu verstehen, lohnt es sich, die wichtigsten Begriffe zu klären:
- „Drei Arten des Handelns“ (aus der Sutra zuvor): Patanjali und die Kommentatoren teilen Karma (Handlung und die damit verbundene Absicht) in drei Qualitäten ein: weiße (gute, heilsame), schwarze (schlechte, unheilsame) und gemischte Handlungen. Weiß steht hier für altruistisches, ethisches Handeln – man könnte auch sagen: für positives Karma mit nützlichen Folgen. Schwarz meint egoistisches oder schädliches Handeln – also negatives Karma, das Leid nach sich zieht. Gemischt ist all das dazwischen: Handlungen, die teils gute, teils schlechte Wirkungen mit sich bringen (die meisten alltäglichen Taten fallen wohl in diese graue Kategorie). Wichtig ist: Jede dieser Handlungsarten “färbt” den Geist entsprechend und hinterlässt verschiedenartige Eindrücke im Unterbewusstsein. Diese Eindrücke heißen im Yoga Saṁskāras – geistige Prägungen, die durch Wiederholung entstehen. Je nach Färbung der Handlung ist auch der Eindruck positiv, negativ oder gemischt gefärbt.
- „Früchte“ (Ergebnisse) des Karma: In der Yoga-Philosophie wird das Resultat einer Handlung oft als Karma-Phala (wörtlich „Frucht der Tat“) oder – wie hier – als Vipāka („Ausreifen“) bezeichnet. Gemeint sind konkrete Auswirkungen, die sich aus unseren Handlungen ergeben. Diese Früchte zeigen sich laut den klassischen Kommentaren vor allem in drei Bereichen: Geburtszustand, Lebenserfahrungen und Lebensspanne. So bestimmen unsere Taten und ihre moralische Qualität beispielsweise, in welcher Existenz wir uns wiederfinden (eine leidvolle, tierische, menschliche oder göttliche Erfahrung), wie unsere grundlegenden Lebensumstände und Erfahrungen ausfallen (angenehm oder schmerzhaft) und sogar, wie lange ein solches Leben dauert. Gute (weiße) Taten mögen etwa zu einer „höheren“ Geburt und glücklicheren Umständen führen, schlechte (schwarze) Taten zu einer leidvollen Existenz – und gemischtes Karma bringt eine Mischung aus Freude und Leid. Das Entscheidende an Sutra 4.8 ist nun: Die Früchte, die reifen, entsprechen genau der Art des gesäten Karmas. Es kommen also nur jene Resultate zur Entfaltung, die zur Grundqualität der Handlung passen und/oder – je nach Interpretation dieser Sutra – für die aktuell günstige Bedingungen herrschen.
- „Zugrunde liegende Neigungen“: Damit sind die Vāsanās gemeint – ein zentrales Konzept im Yoga. Wörtlich bedeutet Vāsanā „Duft“ oder „Geruch“ – im übertragenen Sinne die „Duftspur“ früherer Handlungen, die in unserem Geist zurückbleibt. Man kann Vāsanās als latente Neigungen oder tiefe Veranlagungen beschreiben, die unser Verhalten unbewusst steuern. Sie entstehen aus sich wiederholenden Eindrücken (Saṁskāras) und verdichten sich zu festen Charaktertendenzen. In moderner Sprache könnte man sagen: Eine Vāsanā ist eine eingeprägte Gewohnheitsschleife im Gehirn. Neurowissenschaftler bestätigen heute, dass unser Unterbewusstsein ein „Archiv“ aller gelernten Erfahrungen bildet – inkl. unserer Glaubenssätze und Gewohnheiten. Haben wir etwas oft genug gedacht oder getan, wird es zur zweiten Natur. Yoga nennt das einen Samskāra (Eindruck); und die stärksten dieser Eindrücke – diejenigen, die unsere Wahrnehmung und Persönlichkeit am meisten färben – heißen Vāsanā. Sie wirken wie eine gefärbte Brille, durch die wir die Welt sehen. So erklärt sich, warum zwei Menschen in derselben Situation völlig Unterschiedliches empfinden können: Jeder sieht durch die Linse seiner eigenen Vasanas. Patanjali will uns eventuell mit Sutra 4.8 bewusst machen, dass unsere Handlungen und Vasanas sich gegenseitig formen. Reagieren wir immer wieder wütend (eine „schwarze“ Handlung), verstärkt das die innere Neigung zu Ärger – es bildet sich ein entsprechender Samskāra und schließlich eine Vāsanā des Ärgers. Diese latente Neigung führt später erneut zu wütenden Reaktionen, wenn eine passende Situation auftaucht. Das Ergebnis – z. B. ein Konflikt oder schlechter Ausgang einer Sache – passt dann genau zu dieser Neigung und bestätigt sie weiter. Wir geraten in einen selbst-verstärkenden Zyklus.
Das Verhältnis von Vasanana, Samskara, Karmasaya
Zum genaueren Verständnis will ich die Begriffe Vasana, Samskara und Karmasaya voneinander abgrenzen, da diese bei Patanjali ähnliche Bedeutung haben:
- Vasanana [wörtlich auch: Gewand, Kleid, Tuch, Behältnis] = Im Allgemeinen wird hiermit im Raja Yoga ein Wunsch oder ein Verlangen bezeichnet. Konkreter sind latente Tendenzen und Neigungen in Form von unterbewussten Zwängen gemeint. Also auch etwas, das sich in negativen Gewohnheiten, reflexiven Mustern usw. zeigt.
- Samskaras = Dieser Begriff hat mehrere Bedeutungen, steht z. B. auch für Übungsrituale. Im Karma-Zusammenhang steht Samskara aber für Prägung, unbewusster Eindruck oder Nachwirkung vergangener Handlungen/Gedanken, als karmisches Erbe. Manche Kommentatoren stellen sich Wellen von Gedanken in unserem Bewusstsein vor, die in das Unterbewusste hinabsinken und dort einen Eindruck bewirken. So sind Samskaras auch für die Erinnerungen zuständig, alles wird in den Samskaras abgespeichert. “Nichts geht verloren”. In yogischen Erläuterungen lesen wir, dass ohne Samskaras keine Erinnerung möglich wäre.
Psychologisch könnte man es als Muster oder geistige Tendenz bezeichnen. Diese können dann auch ungünstigerweise für den Yogi in Form von Hass, Eifersucht, Ehrgefühl, Schamgefühl oder Furcht Gestalt annehmen. - Karmasaya = So wird es bei Swami Sivananda erläutert: „Die Gesamtheit aller Samskaras ist als Karmasaya (Behälter der Werke) bekannt und dies wird Sancita Karma (angesammelte Werke) genannt. Wenn ein Mensch den physischen Körper verlässt, trägt er seinen Astralkörper … und das Karmasaya mit sich. …Karmasaya wird komplett durch das höchste Wissen verbrannt, das durch Asamprajnata Samadhi … erlangt wird."
Aus dem dreifachen Karma (weiß = förderlich für die eigene Entwicklung, schwarz = schlecht und gemischt) aus der Sutra zuvor ergeben sich ebensolche vasana - also förderliche Neigungen/Eigenschaften unsererseits, schlechte und durchmischte - die Grautöne unserer Persönlichkeit.
Folgende Erläuterung habe ich mir noch notiert, jedoch leider ohne Quelle dazu: „Vorsicht hier mit den Fachbegriffen: Vāsanā-s sind latente Eindrücke von „Gefühlen“, die durch Geburt, Lebensspanne und Erfahrung von Freude und Schmerz entstehen. Beachten Sie auch, dass Vāsanā nicht gleichbedeutend mit Karmāśaya ist, obwohl es sich bei beiden um latente Eindrücke handelt, da letztere aus „Handlungen“ oder Karma entstehen und nicht aus Gefühlen wie erstere. Es gibt einen großen Unterschied zwischen diesen beiden Arten von latenten Eindrücken. Im Gegenzug wird das Wort „saṁskāra“ üblicherweise verwendet, um „latente Eindrücke“ im Allgemeinen zu bezeichnen. Verwenden Sie diese Begriffe bitte richtig.”
Skuban (S. 247): “Samskaras finden sich zu Bündeln zusammen und formen so die prägenden Merkmale unserer Persönlichkeit: Dann heißen sie vasanas …” Skuban übersetzt vasana mit Charakterzüge, Denkgewohnheiten, Verhaltensweisen. Er verweist darauf, dass sich die vasanas erst zeigen, wenn die Gesamtbedingungen reif für ihre Entfaltung sind.
Rainbowbody: „Vasana, Samskaras, vergangenes negatives Karma und die Kleshas sind wie verborgene Geister, Schatten oder innere Dämonen, die von den Menschen wie dunkle Wolken in ihrer Aura herumgetragen werden und sie daran hindern, ein kreatives und glückliches, spontanes und offenes Leben zu führen.”
Bei Eliade lesen wir auf Seite 50: "Die Vasana haben ihren Ursprung im Gedächtnis, meint, sie stammen aus dem Unterbewussten. [Kommentar von Vyasa}´] ... Das Leben ist eine fortwährende Entladuzng von vasana, welche sich durch vritti [Gedankenbewegungen/Gefühle etc.] manifestieren." Und weiter unten schreibt er zu den vasanas "... Diese unterbewussten Kräfte sind für das Leben der meisten Menschen bestimmend; nur durch den Yoga ist es möglich, sie zu erkennen, zu beherrschen und zu <<verbrennen>>".
Wünsche werden wahr
Was will uns Patanjali mit dieser Sutra sagen? Sukadev leitet ein mit
„Was wir wünschen, das tritt ein.”
Irgendwann jedenfalls.
Sukadev verweist auf frühere Sutras, in denen Patanjali erläutert, dass Prakriti (die Natur/das Universum) für den Purusha (unser Wahres Selbst/Seele/Bewusstsein) aus zweierlei Gründen geschaffen wurde: Zum einen, damit Purusha Erfahrungen gemäß seinen Neigungen machen kann (wie auch hier in der Sutra thematisiert). Aber auch, damit wir Erleuchtung erlangen und Purusha erkennen und leben. Siehe
Yoga Sutra II-12: Die Kleshas sind [somit] die Wurzel für das gespeicherte Karma. Es wird im sichtbaren [gegenwärtigen] oder in nicht sichtbaren [zukünftigen Leben] erfahren werden.
Yoga Sutra II-13: Solange die Wurzeln [der Kleshas, der leidbringenden Hindernisse] verbleiben, muss es [das Karma] erfüllt werden, und erschafft die allgemeine Lebenssituation, die Lebensspanne und das Maß an freudvollen Erfahrungen in unserem Leben
Diese Sutra behauptet (wie andere zuvor), dass nichts, was wir denken oder tun, wirklich spurlos bleibt. Jede Handlung – ob bewusst oder unbewusst – pflanzt einen Samen in unser mentales Feld. Wenn die Bedingungen stimmen, wird genau die Art von Samen keimen, die wir gesät haben. Ein einfaches Bild: Du kannst keine Lotosblume ernten, wenn du Kaktussamen gesät hast. Genauso bringt eine selbstlose Handlung keine selbstsüchtigen Folgen hervor (und umgekehrt) – zumindest nicht, solange die entsprechenden inneren Neigungen vorherrschen. Diese Idee zieht sich durch die Yogaphilosophie und legt den Grundstein dafür, wie Yogis ihr eigenes Verhalten und Denken kultivieren.
Klassische Kommentare zur Sutra
Die alten Meister der Yogaphilosophie haben Sutra 4.8 natürlich auch ausführlich kommentiert. Vyāsa (vermutlich 5. Jh. n. Chr.), dessen Yoga-Bhāṣya der maßgebliche früheste Kommentar zum Yoga-Sutra ist, erläutert hier prägnant, was Patanjali meint. Er schreibt: „‘Von dort aus’ bedeutet aus dem dreifachen Karma (weiß, schwarz, gemischt). […] Welche Früchte aus welcher Klasse von Handlungen auch entstehen mögen – nur diejenigen latenten Potenziale (Vāsanās), die fähig sind, genau diese Früchte hervorzubringen, gelangen zur Manifestation.“.
Vyāsa veranschaulicht das mit einer drastischen Vorstellung: Angenommen, jemandes gutes Karma „reift“ und beschert ihm als Folge eine Existenz als Gott (eine himmlische, freudvolle Daseinsform). In solch einem Leben werden ausschließlich die Eindrücke und Neigungen wirksam, die zu einem Götterleben passen – z. B. Neigungen zu Freude, Genuss und Wohlwollen. Dunklere Tendenzen, die vielleicht ebenfalls in der Seele schlummern (etwa grausame oder tierische Instinkte), können in jener Umgebung gar nicht auftauchen; sie „schlummern“ weiter im Hintergrund. Genauso umgekehrt: Wenn das Karma einer Seele sie in eine leidvolle Existenz – etwa in die Hölle oder ins Dasein eines Tieres – führt, dann kommen dort nur die niedrigeren, leidvollen Vasanas zum Vorschein, während die edleren Aspirationen an die Oberfläche dieser Lebenswirklichkeit gar nicht erst vordringen. Die Spielregeln bleiben also immer konsistent: In himmlischen Gefilden manifestieren sich nur himmlische Neigungen, in höllischen nur höllische, im Menschendasein diejenigen, die zum Menschsein passen.
Späterer Kommentatoren wie Vācaspatimiśra (9. Jh.) bestätigen Vyāsas Interpretation und formulieren sie noch einmal philosophisch präzise. Vācaspatimiśra betont, Sutra 4.8 beschreibe, wie die „Vehikel der Affliktionen“ (die Triebfedern unseres Tuns, sprich die Kleśas) sich entfalten. Wenn bestimmtes Karma ausreift, bringt es nur die entsprechenden Vāsanās hervor, welche die gleiche Klasse von Erfahrung ermöglichen. Er schreibt sinngemäß:
Die latenten Eindrücke, die durch eine karmische Frucht hervorgerufen werden, gehören stets zur selben Kategorie wie eben diese Frucht.
Mit anderen Worten: Karma und Vāsanā müssen zusammenpassen wie Schlüssel und Schloss. Eine himmlische Geburt kann nicht durch infernale Neigungen „aufgeschlossen“ werden – und umgekehrt.
Diese klassische Sichtweise macht deutlich, dass das Universum von Patanjali als gerechtes, sinnvolles Gefüge gedacht ist. Nichts „Fremdes“ kann sich manifestieren, nur weil zufällig Gelegenheit besteht – es braucht immer die innere Anlage dazu.
Ein moderner Kommentator, Swami Vivekananda (19. Jh.), hat dieses Prinzip bildhaft erläutert. Er schrieb in seiner Rāja Yoga-Auslegung zu Sutra 4.8 ähnlich wie Vyasa: „Angenommen, ein Mensch hat gutes, schlechtes und gemischtes Karma angehäuft. Stirbt er nun und wird als Gott im Himmel wiedergeboren, so werden in einem Götterkörper nur die göttlichen Wünsche aufsteigen, während die schlechten Neigungen warten. […] Nimmt die Seele hingegen einen Tierkörper an, treten nur die tierischen Begierden hervor und die guten Neigungen warten.“
Seine Schlussfolgerung: „Nur das Karma, das zur jeweiligen Umgebung passt, kommt zur Wirkung. Die Macht der Umgebung ist ein großer Filter, der sogar das Karma kontrolliert.“. Anschaulicher kann man Sutra 4.8 kaum beschreiben: Die „Umwelt“ oder der Kontext, in den uns unser Karma stellt – ob Himmel, Menschsein oder Tierreich – wirkt als Siebschicht, durch die nur passende Samen hindurchkeimen.
Moderne Auslegungen und passende Erkenntnisse der Wissenschaft
Obwohl Patanjalis Yoga-Sutras rund 2000 Jahre alt sind, bieten sie erstaunliche Anknüpfungspunkte zu modernen Lehren und Wissenschaften. Viele zeitgenössische Yogalehrer und Philosophen interpretieren Sutra 4.8 als Hinweis auf psychologische Gesetzmäßigkeiten, die wir heute besser denn je verstehen.
So betonen moderne Kommentatoren, dass „gleiches wieder Gleiches hervorbringt“. Swami Satchidananda etwa schreibt, gute Taten hinterlassen positive Spuren im Geist, die künftig wieder Gutes begünstigen, während negative Taten negative Spuren hinterlassen – und beide Arten von Eindrücken neigen dazu, sich zu wiederholen, bis sie bewusst verändert werden. In diesem Sinne beschreibt Patanjali einen selbstverstärkenden Kreislauf von Handlung → Eindruck → neue Handlung in gleicher Tendenz. Praktisch gesehen bedeutet das: Gewohnheiten verfestigen sich. Haben wir einmal eine bestimmte mentale Neigung (etwa zur Ungeduld oder Geduld) entwickelt, dann handeln wir immer wieder entsprechend – und jede Wiederholung verstärkt diese Neigung weiter. Ein bekanntes Sprichwort fasst es ähnlich: „Was du säst, wirst du ernten.“ Neu ist hier bei Patanjali der Hinweis, dass die Ernte wiederum nur die gleichen Samen weiterwachsen lässt – nichts völlig Neues.
Viele Yogalehrende heute übersetzen das Sutra daher in die Alltagssprache. So heißt es, wir seien oft „im Hamsterrad unserer Muster“ gefangen. Kennst du zum Beispiel das Gefühl, in bestimmten Situationen immer wieder gleich zu reagieren – selbst wenn du es dir anders vorgenommen hattest? Genau das beschreibt Sutra 4.8: Die alten Vasanas springen an und ziehen die gleichen Resultate nach sich, wodurch sie erneut bestätigt werden. Man fühlt sich förmlich “in einer Spur festgefahren” (englisch sagt man treffend „stuck in a rut“). Ohne bewusste Intervention scheint es, als liefen viele unserer Entscheidungen auf Autopilot. Unbewusst greifen wir auf unsere angesammelten Neigungen zurück – die komfortable, aber oft unheilsame Routine. Das klingt zunächst etwas deprimierend: Sind wir bloß die Marionetten unserer vergangenen Konditionierungen? Doch hier kommt die gute Nachricht, sowohl bei Patanjali als auch in der modernen Psychologie:
Diese Muster sind veränderbar.
Neurowissenschaftliche Forschungen der letzten Jahrzehnte stützen Patanjalis Sicht in verblüffender Weise – und zeigen gleichzeitig Wege auf, aus negativen Kreisläufen auszubrechen. Experimente des Neuropsychologen Benjamin Libet und Nachfolger haben gezeigt, dass viele unserer Handlungen tatsächlich schon vom Unterbewusstsein vorbereitet werden, bevor wir bewusst eine Entscheidung treffen. Messungen der Hirnaktivität ergaben, dass das Gehirn z. B. eine Entscheidung, den Arm zu bewegen, bereits Bruchteile von Sekunden früher einleitet, als der Proband sich der Entscheidung bewusst wird. Bei komplexeren Entscheidungen können es sogar mehrere Sekunden sein, in denen unser Unbewusstes die Richtung vorgibt. Das wirft natürlich Fragen nach dem freien Willen auf.
Interessanterweise ziehen einige Wissenschaftler hier Parallelen zur Yogaphilosophie: Sie vergleichen Libets entdeckte unterbewusste Handlungsimpulse mit den Saṁskāras und Vāsanās des Yoga – jenen latenten Tendenzen, die unsere Entscheidungen unbemerkt beeinflussen. Wenn Patanjali sagt, nur „passende“ Neigungen kämen zur Wirkung, klingt das aus heutiger Sicht so: Die neuronalen Muster, die wir durch Gewohnheit aufgebaut haben, feuern bevorzugt und lenken unser Verhalten, solange wir sie nicht umlenken.
Glücklicherweise zeigt sowohl der Yogaweg als auch die Neurowissenschaft einen Ausweg: Neuroplastizität. Unser Gehirn ist formbar – und ebenso unsere Vasanas. In Libets Experimenten zeigte sich, dass Probanden trotz unbewusst initiierter Handlungsimpulse eine Veto-Macht haben: Das bewusste Ich kann in letzter Millisekunde eingreifen und eine Aktion doch noch stoppen. Übertragen auf unser Thema heißt das: Auch wenn alte Gewohnheiten in uns „anspringen“, haben wir die Möglichkeit, bewusst anders zu handeln. Je öfter wir das tun, desto mehr durchbrechen wir die alten Neigungen. Yogis würden sagen: Wir überschreiben negative Samskaras mit positiven, wir transzendieren unsere versteckte mentale Erbschaft. Moderne Neuroforschung bestätigt, dass durch neue Gewohnheiten und Gedanken tatsächlich neue neuronale Verknüpfungen entstehen, während ungenutzte Verbindungen schwächer werden – man löscht also im Idealfall unheilsame Vasanas, indem man sie aushungert, und stärkt heilsame Tendenzen durch ständige Übung.
Auch Neurowissenschaftler und Psychologen erkennen Parallelen: Das sogenannte „habit loop“-Modell in der Psychologie beschreibt, wie ein Reiz eine gewohnheitsmäßige Routine auslöst, die dann eine Belohnung liefert – und dieser Kreislauf prägt das Hirn und verstärkt die Gewohnheit. Vasanas funktionieren sehr ähnlich. Die Yogis haben gewissermaßen vorweggenommen, was heute als Mechanismus von Konditionierung und Habits bekannt ist.
Noch konkreter wird der Psychiater und Neurowissenschaftler Judson Brewer. In seinem Werk The Craving Mind (2017) untersucht er, wie Gewohnheiten und Süchte im Gehirn entstehen – und wie Achtsamkeit helfen kann, diese Muster zu durchbrechen. Seine Forschung zeigt, dass meditierende Menschen ihre automatische Reaktivität tatsächlich verringern und neue Handlungsspielräume gewinnen (Brewer 2017, Yale University Press). Damit belegt die moderne Wissenschaft genau das, was Patanjali vor über 2000 Jahren formulierte: Der Kreislauf von Neigung und Handlung lässt sich beobachten – und durch bewusstes Training verändern.
Das heißt, durch Yoga- und Meditationspraxis steigt die Fähigkeit, einen automatischen Impuls zu bemerken und zu stoppen, bevor er in die alte Reaktion mündet – genau das, was nötig ist, um aus dem Vasana-Karrussell auszusteigen. So finden uralte Lehren und moderne Wissenschaft in der Praxis zusammen.
Der Weg: aus Gewohnheiten ausbrechen
Für Yoga-Praktizierende und Lehrende ist Sutra 4.8 darum mehr als nur theoretische Spielerei – es hat einen handfesten Wert im Alltag auf der Matte und daneben. Im Grunde ruft uns Patanjali auf, verantwortungsbewusst und achtsam mit unseren Handlungen umzugehen, weil wir damit buchstäblich unser zukünftiges Selbst erschaffen. Gleichzeitig macht er Mut: Wenn du heute beginnst, andere Samen zu säen, wirst du morgen andere Früchte ernten. Kein Mensch ist in Stein gemeißelt – selbst festgefahrene Gewohnheiten können sich ändern, sobald man sie erkennt und bewusst gegensteuert.
Vasana überwinden
Die yogischen Lehren nennen folgende Möglichkeiten, Vasanas aufzulösen:
- Sich der eigenen Vasanas bewusst werden, Selbstbeobachtung
- Spirituelle Praxis (Sadhana)
- Mit sattvischen/spirituellen Menschen verkehren
- Positive sattvische Bedingungen im Umfeld erschafen bzw. in solche einem leben
- An heiligen Stätten leben
- In der Nähe von erleuchteten Meistern leben
- Mitgefühl/liebende Güte kultivieren
- Gleichmut und Weisheit pflegen
Eigennutz reduzieren
R. Sriram schreibt, zu dieser Sutra, dass Taten, welche eigenen Interessen (Eigennutz) entspringen, “uralte, für überwunden gehaltene” Verhaltenstendenzen von neuem im Übenden erwecken.
Wie du die Welt siehst
Sukadev erläutert, dass man diese Sutra auch dahingehend interpretieren kann, dass die Früchte des Karmas abhängig von unserer Einstellung zur Welt und unseren Mitmenschen ganz unterschiedlich ausfallen kann.
Dafür lassen sich viele Beispiele bringen: Für die eine ist Regen ein Segen für die Pflanzen, ein anderer sieht nur den Matsch auf dem Bürgersteig, der ihm die Schuhe verdreckt. Das gleiche Karma (Regen), unterschiedlich erlebt. Noch entscheidender ist die eigene Einstellung in der Begegnung mit Menschen. Ist man tendenziell vertrauensvoll eingestellt und geht davon aus, dass einem das Gegenüber wohlgesonnen ist, wird man oft unterschiedliche Erfahrungen mit demselben Karma (der Begegnung) machen.
„Karma ist die grundlegende Ursache, die Einsicht & Erleuchtung verhindert. Aufgrund von falschen Handlungen bleibt der Geist an die Natur gekettet.”
Wim van den Dungen
Welcher Typ bist du?
„An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“
Jesus, Mathäus 7.16
Absichtslos handeln
Weitere Kommentatoren verweisen im Zuge dieser Sutra darauf, dass unser Karma, welches aus unseren Wünschen, Neigungen und Abneigungen resultiert, unseren Geist davon abhält, zu Kaivalya zu gelangen, zur Freiheit. Anders ausgedrückt: unsere mentalen Verstrickungen mit unseren illusionären Vorstellungen von der Welt verhindern, dass wir Purusha, unser Wahres Selbst erkennen. Und schon vorher:
Wenn wir viel wollen oder nicht mögen oder wenn viele Früchte unseres Karmas in unser Leben treten, fällt es uns schwer, in tiefe Meditation zu gelangen oder gar Samadhi zu erreichen.
Darauf aufbauend wird empfohlen, als Yogi innerlicher und leidenschaftsloser zu werden. Nicht auf die Früchte unserer Taten abzielen – Karma Yoga zu pflegen. Oder alles Geschehen und alle Handlungen Gott zu überantworten.
Rainbowbody erläutert hierzu: „Kurz gesagt, durch die Beschäftigung mit den Gewahrseins-Prozessen selbst (Selbst-Gewahrsein) kann der yogisch Praktizierende Verdienst und Weisheit erlangen, die ausreichen, um zuvor geschaffene karmische Neigungen zu überwinden, so dass Befreiung möglich wird, weil der Yogi sich entschieden hat, wirksame Handlungen/Praktiken einzuführen, die die gewünschten heilenden Ergebnisse bringen, die alte karmische Muster aufbrechen. Dies führt zur Befreiung.”
Weitere Möglichkeiten, Karma und Neigungen zu überwinden
Manche meinen: Svādhyāya (Selbstbeobachtung) und Mindfulness (Achtsamkeit) sind entscheidend. Zunächst gilt es, die eigenen wiederkehrenden Muster wahrzunehmen. Vielleicht bemerkst du beim Meditieren, wie gewisse Gedanken oder Emotionen immer wieder hochkommen – zum Beispiel Selbstkritik, Ungeduld oder Ängste. Das sind wahrscheinlich Vāsanās, die sich zeigen. Patanjali würde sagen: Sie manifestieren sich, weil in deinem Geist früher Handlungen/Samskaras angelegt wurden, die diese Tendenz nähren. Der zweite Schritt ist, nicht automatisch auf diese innere Regung aufzuspringen. Hier helfen die im Yoga Sutra bereits in Kapitel 1 eingeführten Prinzipien: Abhyāsa (beständiges Üben) und Vairāgya (Nicht-Anhaftung). Durch kontinuierliche Meditation und Achtsamkeit üben wir uns darin, Gedanken oder Impulse einfach kommen und gehen zu lassen, ohne sie gleich in Tat oder Aufregung umzusetzen. Diese Nicht-Anhaftung schwächt auf Dauer die alten Prägungen ab – man entzieht ihnen die Energie.
Gleichzeitig empfiehlt die yogische Tradition, positive Gewohnheiten aktiv zu kultivieren (das Prinzip Pratipakṣa Bhāvana aus Sutra 2.33: entwickle das Gegenteil), siehe auch obige Beispiele. Hast du z. B. die Tendenz zu Ungeduld, übe dich bewusst in Geduld – immer wieder, in kleinen Schritten. Jede solche Handlung erzeugt eine neue, weiße Samskāra, und mit der Zeit bildet sich eine Vāsanā der Gelassenheit heraus. Patanjali deutet an, dass so der Einfluss „gefärbter“ Karmas allmählich schwindet: Wir verlernen die alten Reaktionsmuster. Das ist ein zentrales Ziel des Yogaweges – letztlich sollen alle Handlungen ungefärbt und spontan im Einklang mit dem Selbst erfolgen, frei von zwanghaften Mustern.
Der Yogi soll zum Herrn seiner Neigungen werden, nicht zu ihrem Diener.
Frage: Was würdest du gerne zuerst verändern?
Wenn du eine „alte Reaktion“ durch eine yogische Alternative ersetzen könntest – welche wäre das?
Übungsvorschläge zu Sutra IV-8
In der Meditation: den Samen beobachten
Stell dir vor, du sitzt in Stille, Atem fließt, du willst zur Ruhe kommen. Plötzlich taucht ein Gedanke auf: „Ich muss unbedingt noch XY erledigen.“ Der Körper reagiert: eine leichte Unruhe, vielleicht ein Zucken im Bein. Hier hast du dein kleines Labor für Sutra 4.8.
Du kannst dir innerlich sagen: „Aha – ein Samen, ein altes Muster will keimen.“ Statt dich in die Gedankenflut hineinziehen zu lassen, beobachtest du, was das Muster will: Es drängt dich zum Tun, zum „schnell noch machen“. Wenn du jetzt nicht aufspringst, sondern bewusst bei der Atmung bleibst, erfährst du praktisch, was Patanjali meinte: Das Muster braucht Futter, damit es stark bleibt. Gibst du ihm nichts, wird es kleiner und verschwindet, zumindest zeitweise.
👉 Übung: Wenn ein Gedanke oder Impuls auftaucht, benenne ihn leise: „Ungeduld“, „Begierde“, „Angst“. Dann sitz still da und schau, wie er sich anfühlt im Körper. Spür die Energie, ohne sie auszuleben. Das ist Meditation nach Sutra 4.8: Du lernst, die Frucht zu erkennen, aber nicht automatisch zu pflücken.
Meine Erkenntnisse/Erfahrungen bei/mit dieser Übung
Im Alltag: die Schleifen erkennen
Hand aufs Herz – die besten Trainingsfelder sind nicht die Meditationskissen, sondern die ganz normalen Tage. Hier drei Beispiele:
- Stau im Straßenverkehr
Du sitzt fest, nix geht voran. Normalerweise kommt Ärger: „Immer diese Idioten…“ – ein typisches schwarzes Samen-Muster. Probiere, den Moment zu drehen: Statt dich in Ärger hineinfallen zu lassen, beobachte: „Da ist Ärger, der will wachsen.“ Und dann – warum nicht mal lächeln? Du durchbrichst die automatische Frucht. Ein kleiner Sieg, ein neuer Samen. - Kaffee am Morgen
Routine pur: Die Hand geht automatisch zur Kaffeemaschine, bevor du überhaupt richtig wach bist. Hier steckt die Übung: Frag dich einen Moment: „Will ich jetzt wirklich Kaffee – oder ist es nur Gewohnheit?“ Manchmal wirst du weiter Kaffee trinken (kein Drama), aber allein das Innehalten ändert schon etwas. Du hast das Muster gesehen, nicht nur blind gelebt. - Konfliktgespräch
Jemand kritisiert dich. Spontan willst du dich verteidigen, vielleicht scharf zurückschießen. Stopp. Atme. Erinnere dich: „Das ist ein alter Samen, der Wut-Same.“ Wenn du jetzt einen Herzschlag länger wartest und anders antwortest – ruhiger, vielleicht sogar mit Humor – dann hast du die Spirale gebrochen. Genau hier, mitten im Gespräch, erfährst du die Lehre: Früchte wachsen nur, wenn du sie pflückst.
Das Prinzip dahinter: Übe, in jeder aufwühlenden Situation deinen Geist erst einmal völlig zur Ruhe kommen zu lassen, bevor du handelst oder urteilst.
Das Gefühl dahinter
Es fühlt sich anfangs unbequem an. Wie ein Muskelkater im Geist: Man merkt, wie tief diese Neigungen sitzen. Aber genau das ist spannend. Irgendwann gibt es die ersten Aha-Momente: „Wow – ich habe gerade nicht automatisch reagiert. Ich habe Raum geschaffen.“ Und dieser Raum – das ist Freiheit.
Kleiner Trick zum Schluss
Mach dir keine Illusion: Du wirst (wahrscheinlich) nicht plötzlich zum heiligen Buddha im Stau. Aber jedes Mal, wenn du eine alte Spur nicht bedienst, entsteht eine kleine neue Spur. Denk an Waldwege: Je öfter du den neuen Weg gehst, desto breiter wird er, desto mehr wächst der alte zu. Genau so arbeiten Sutra 4.8 und dein Alltag Hand in Hand.
Kommentar von Vyasa zu Sutra 4.8
Erläuterungen zu Vyasa
Vyasa war ein indischer Philosoph des 5. bzw. 6. Jahrhunderts nach Christi, der den ältesten überlieferten Kommentar zum Yogasutra des Patanjali schrieb. Der Text wird Yogabhashya (wörtlich "Kommentar (Bhashya) zur Yogaphilosophie") genannt und um 600 nach Christi datiert. Vyasas Kommentare zu den Sutras sind oftmals recht kurz.
Ohne Vyasas Kommentar wären viele Sutras heute fast unverständlich. Manche Gelehrte sagen, der Text ist erst durch den Kommentar wirklich „lesbar“.
Vyāsa war vielleicht/wahrscheinlich kein einzelner Autor, sondern ein Titel, der mehrere Kommentatoren der indischen Tradition umfasst. Die Stimme, die wir im Yogasutra-Kommentar hören, ist also vielleicht ein Chor.
Vyasas Yogabhashya wurde im 8./9. Jh. von Shankara (788–820 n. Chr, indischer Gelehrter, Vedanta-Philosoph, Begründer der Advaitavedānta-Tradition) kommentiert. Sein Kommentar nennt sich Yogabhashyavivarana, Vivarana ist ein Unterkommentar.
Auch Vachaspati Mishra hat einen frühen, berühmten Kommentar zum Yogasutra geschrieben. (Meine Quellen für diese Kommentare waren unterschiedliche Bücher und Webseiten, zum Beispiel Legget (siehe Literatur) und wisdomlib.org/hinduism/book/yoga-sutras-with-commentaries/). Ich gebe hier diese Kommentare in für mich relevanten Auszügen in Worten wieder, die für mich den Sinn in heutigen Worten am besten wiedergeben. Dies ist explizit kein Bemühen, die Originalkommentare wortgetreu wiederzugeben. Fehlinterpretationen sind natürlich in meiner Verantwortung.
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Die Kommentare von Vyasa, Mishra und Shankara sind oft wörtlich übersetzt worden, zum Beispiel bei den oben angegebenen Quellen.
Gehen wir nun noch einmal näher auf den wichtigsten Kommentar zu dieser Sutra ein. Vyāsa schreibt, wenn Patanjali von „daher“ oder „von dort aus" spricht, dann meint er damit das dreifache Karma:
- „weißes“ Karma (heilsame Handlungen),
- „schwarzes“ Karma (unheilsame Handlungen)
- und „gemischtes“ Karma.
Jede dieser Handlungsarten bringt ihre eigene Frucht hervor. Entscheidend ist: Nur jene Eindrücke (saṃskāras und vāsanās), die imstande sind, genau diese Frucht hervorzubringen, treten auch tatsächlich hervor.
Beispielhaft erklärt
Wenn also ein Karma, das zu einem Leben im Götterzustand führt, „reift“, dann zeigen sich nur jene inneren Neigungen, die zu diesem himmlischen Dasein passen. Alle anderen Tendenzen – etwa solche, die eher zu einem tierischen oder menschlichen Leben gehören – bleiben inaktiv, gleichsam im Speicher, bis sie an der Reihe sind.
Umgekehrt gilt dasselbe:
-
In einem höllischen Zustand treten nur jene Eindrücke hervor, die zu Leid, Härte und Dunkelheit passen.
-
In einem menschlichen Dasein erscheinen genau die Tendenzen, die zum Menschsein gehören – ein buntes Gemisch aus allem.
-
In einem Tierkörper entfalten sich tierische Neigungen: Instinkt, Trieb, Überleben.
Alles, was „nicht passt“, bleibt still, verborgen, wartet auf ein anderes Umfeld.
Die Regel dahinter
Vyāsa (und mit ihm Śaṅkara) betont: Das Universum funktioniert hier nicht willkürlich. Es herrscht eine Regelhaftigkeit, fast wie ein Naturgesetz. Nur die Samen, die im passenden Boden liegen, beginnen zu keimen.
Man könnte sagen: In jedem Wesen steckt eine ganze Samenbank an Eindrücken. Doch welche Samen wirklich austreiben, hängt davon ab, in welcher „Klima- und Bodenlage“ das Wesen gerade lebt. Ein Samen der Mitfreude wird in einem höllischen Dasein nicht aufgehen, ebenso wenig wird blanker Hass in einer göttlichen Welt Fuß fassen.
Was das für die Praxis bedeutet
Klingt abstrakt? Stell dir dein eigenes Leben vor. In dir gibt es sicher Neigungen, die in manchen Situationen wie von selbst aufspringen – etwa Ärger am Steuer oder Eifersucht in einer Beziehung. In anderen Kontexten dagegen zeigen sie sich gar nicht.
-
Beim Meditieren auf einem stillen Berggipfel wird es dir schwerfallen, denselben Zorn hervorzubringen wie im Stau.
-
Umgekehrt: Die Gelassenheit, die du nach einer Yogastunde spürst, lässt sich im hektischen Büroalltag nur schwer abrufen.
Genau darauf weisen Vyāsa und Śaṅkara hin: Kontext und Karma wirken wie ein Filter. Nur bestimmte Neigungen gelangen an die Oberfläche, während andere „ruhen“.
Fazit mit einem Augenzwinkern
Die Lehre ist nüchtern, beinahe streng – und zugleich erhellend: Wir sind nicht frei von unseren Eindrücken, aber sie sind auch nicht alle gleichzeitig aktiv. Ein bisschen Entlastung steckt darin: Nicht jeder dunkle Same in dir muss dich jederzeit bedrohen. Viele bleiben verborgen, solange der passende Boden fehlt.
Und gleichzeitig liegt die Verantwortung bei dir: Wo immer du dich bewegst, welchen Boden du wählst, genau dort werden bestimmte Samen wachsen.

Siehe auch folgende Sutras
Yoga Sutra I-12: Die bewusste Kontrolle der Bewegungen im Geist wird durch Übung und Verhaftungslosigkeit erlangt
Yoga Sutra I-43: Stufe 2 von Samapatti: Wenn die Erinnerungen und Prägungen völlig gereinigt sind, als ob dessen eigene Form schwindet, nur noch das (Meditations-)Objekt erstrahlt, ist Nirvitarka (Samapatti/Samadhi) erreicht.
Yoga Sutra II-18: Die wahrgenommenen Objekte haben die Eigenschaften Klarheit, Aktivität und Trägheit und bestehen aus Elementen und Wahrnehmungskräften. Alles Wahrgenommene dient der (genussvollen) Erfahrung und der Befreiung.
Yoga Sutra II-23: Der Sinn der Vereinigung unseres Wahren Selbstes mit der äußeren Welt besteht darin, dass wir unsere Wahre Natur und deren Kräfte erkennen.
Yoga Sutra II-28: Indem wir die [acht] Glieder des Yoga praktizieren, verschwinden die Unreinheiten, das Licht des Wissens erstrahlt und führt zur Entwicklung von Unterscheidungskraft
Yoga Sutra II-38: Wenn Enthaltsamkeit (Brahmacharya wörtlich: Wandel in Brahma) [im Wesen eines Menschen] fest verwurzelt ist, erlangt er große Vitalität
Fazit
Zum Abschluss kann man sagen: Sutra 4.8 erinnert uns daran, dass jede unserer Handlungen wie ein Bumerang in unseren Geist zurückkehrt. Es liegt eine gewisse Ernüchterung, aber auch Ermächtigung darin. Ernüchternd ist die Erkenntnis, dass wir viel weniger spontan sind, als wir denken – ein großer Teil unseres Lebens folgt eingefahrenen Spuren. Ermächtigend ist jedoch die yogische Botschaft: Durch Bewusstheit und Übung können wir diese Spuren umschreiben. Alte Neigungen mögen zäh sein, aber sie sind nicht unabänderliches Schicksal. Indem wir verstehen, dass Früchte stets den Samen entsprechen, gewinnen wir den Schlüssel in die Hand, die richtigen Samen zu pflanzen – nämlich die der Qualitäten, die wir in uns und der Welt sehen wollen. Genau darin liegt die zeitlose Weisheit des Yoga-Sutra 4.8, die heute ebenso relevant ist wie vor zwei Jahrtausenden. Unsere Zukunft wird aus den Taten und mentalen Mustern gebaut, die wir im Jetzt wählen – eine Einladung, achtsam zu säen.
Ergänzungen und Fragen von dir zur Sutra
Ist etwas unklar geblieben? Kannst du etwas ergänzen oder korrigieren?
Der Stoff der Sutras ist für uns heutige Menschen nicht leicht zu verstehen. Ist im obigen Text irgendetwas nicht ganz klar geworden? Oder kannst du etwas verdeutlichen oder berichtigen? Eine eigene Erfahrung schildern ... Vielen Dank vorab für jeden entsprechenden Hinweis oder eine Anregung:
Videos zu Sutra VI-8
Wünsche und Karma – Kommentar von Sukadev zu Yoga Sutra – Kap. 4, Vers 7-11
Länge: 16 Minuten
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Was ist yogisches Vasana? – Kommentar von Anvita Dixit zu Yogasutra 4.8
Länge: 11 Minuten
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Video von Ahnand Krishna zur Sutra
Freiheit von allem vergangenem Karma: Asha Nayaswami (Class 64) zu Sutra 4.7 bis 4.11
Länge: 76 Minuten
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