jâti-deåa-kâla vyavahitânâm apyânantaryaä smëti-saäskârayor eka-rûpatvât
जातिदेशकालव्यवहितानामप्यानन्तर्यं स्मृतिसंस्कारयोरेकरूपत्वात्
Wer glaubt, das eigene Leben sei eine Abfolge zufälliger Momente, wird beim Blick in Patañjalis Yogasutra eines Besseren belehrt. Hier entfaltet sich die unbequeme wie tröstliche Idee, dass nichts je verschwindet – kein Gedanke, kein Wunsch, kein Streit, kein liebevoller Blick. Alles legt Spuren, die bleiben und irgendwann wiederkehren, manchmal wie ein Echo, manchmal wie ein Bumerang. Der folgende Text lädt dazu ein, diesen uralten Gedanken aus klassischer und moderner Sicht zu betrachten – und sich selbst darin wiederzufinden.
Behalte dabei im Hinterkopf: Gemäß indischer Philosophie überträgt sich Karma von Geburt zu Geburt. Nur so lassen sich scheinbare Ungerechtigkeiten oder Zufälle in einem jetzigen Leben logisch in die Karmalehre integrieren.
Kurz zusammengefasst
- Sutra 4.9
Erinnerung und Samskara sind untrennbar verbunden, sie überdauern Zeit, Ort und Geburt. Nichts geht verloren, jede Handlung zieht Wirkung nach sich. - Samskara und Smṛti
Samskara sind latente Eindrücke, Smṛti das bewusste Erinnern – beide sind von gleicher Natur. Aus Eindrücken entstehen neue Erinnerungen und umgekehrt. - Vyāsa und klassische Kommentare
Vyāsa erklärt die lückenlose Kette von Karma: Auch nach hundert Leben manifestieren sich die alten Eindrücke wieder. Vācaspati Miśra und andere Kommentatoren betonen die Unmittelbarkeit dieser Übertragung. - Moderne Auslegungen
Zeitgenössische Lehrer vergleichen den Zyklus mit Gewohnheiten: selbst nach Unterbrechung setzt man genau dort fort, wo man aufgehört hat. - Psychologie und Neurowissenschaft
Implizite Erinnerungen, Neuronale Plastizität und sogar epigenetische Studien zeigen Parallelen: Erfahrungen hinterlassen Spuren, die Verhalten und sogar Generationen prägen. - Praxisbezug
Meditation, Selbstreflexion und die yogischen Yamas/Niyamas helfen, alte Muster sichtbar zu machen und Schritt für Schritt zu transformieren. Humor und Geduld sind dabei nützlichere Werkzeuge als reine Strenge.
Details und Erläuterungen zu allen Punkten im weiteren Artikel.
Bedeutung und Übersetzung des verwendeten Sanskrits
Hier sind zunächst die Übersetzungsmöglichkeiten für die einzelnen Wörter, damit du die Übersetzung selbst für ein besseres Verständnis anpassen kannst:
- Jati, jâti = Klasse; soziale Schicht; Qualität; Art; Geburt; Qualität; Kontext; Spezies; Lebensumstände; Wiedergeburt;
- Desha, deśa = Ort; Raum;
- Kala, kâla = Zeit;
- Vyahitanam, vyavahitanam, vyavahitânâm, vyavahita = losgelöst; getrennt; verborgen; tief vergraben; Bruch; getrennt; verschieden;
- Api = sogar; trotzdem; auch wenn; durch; obwohl;
- Anantaryam, ânantaryam, anantaryaṁ = unmittelbare Aufeinanderfolge; Kontinuität; Nähe; Verbindungsglied; direkte Folge;
- Smrti, smr̥ti, Smriti = Gedächtnis; Erinnerung;
- Samskarayoh, saṁskārayoḥ, samskarayor = (psychische) Prägungen oder Eindrücke; unbewusste Einstellungen; Programmierungen; geistige Eindrücke; Gewohnheiten; Anlage des Geistes; erworbene Neigungen, die unser Tun beeinflussen;
- Smriti-Samskarayo, smriti-samskârayoh, smṛti-saṁskārayoḥ = von Erinnerung und Eindrücken;
- Eka = eins;
- Rupa, rūpa, rupatvat = Form; Wesen; Abbild; Form besitzend;
- Ekrupatvat, ekarûpatvât = infolge der Gleichheit der Erscheinung oder Form; Formgleichheit;
Zu den Quellen
Buchbesprechungen, Erläuterungen zur Auswahl der Übersetzungsvarianten und allgemeine Hinweise zur Sutraübersetzung findest du im zugehörigen Artikel. Hier nun die Kurzauflistung:
Bücher
- Mircea Eliade: Yoga – Unsterblichkeit und Freiheit
- Iyengar: Der Urquell des Yoga
- Deshpande/Bäumer: Die Wurzeln des Yoga
- Geraldine Coster: Yoga und Tiefenpsychologie
- R. Sriram: Von der Erkenntnis zur Befreiung – Das YogaSutra
- Govindan: Die Kriya Yoga Sutras des Patanjali
- Mallinson/Singleton: Roots of Yoga
- R. Palm: Der Yogaleitfaden des Patañjali
- T.K.V. Desikachar: Über Freiheit und Meditation | Das Yoga Sutra von Patanajali
- Feuerstein, Georg: Die Yoga Tradition (Amazon)
- Skuban, Ralph: Patanjalis Yogasutra (Amazon)
- Sri Swami Satchidananda: The Yoga Sutras of Patanjali (Amazon)
- Trevor Leggett: The complete Commentary by Sankara on the Yoga-Sutras* (Amazon)
Internetseiten
- Internet-Übersetzung des Yogasutras auf Yoga-Vidya.de
- Zu den Sutras auf ashtangayoga.info
- Zu den Sutras auf 12koerebe.de
- Zu den Sutras auf vedanta-yoga.de
- Openland.de (mittlerweile offline)
- Zu www.bodhi.sofiatopia.org (buddhistische Kommentare zum Yogasutra nur noch als Buch)
- sanskrit-sanscrito.com (Sutras anscheinend entfernt)
- Zur Übersetzung von Chip Hartranft (PDF)
- Die Übersetzung von Hariharananda Aranya, I. K. Taimni, Vasa Houston, Barbara Miller, Swami Satchidananda, Swami Prabhavananda, Swami Vivekananda finden sich auf dieser Seite.
- Übersetzung von James Haughton Woods
- Rainbowbody.com (ausführliche und eigene Kommentierung)
- Wisdom Library
Weitere Quellen, z. B. zu aktuellen Studien, sind direkt im Text verlinkt.
Dein Übersetzungsvorschlag
Du findest die bisherigen LeserInnen-Übersetzungen und -Ergänzungen unten.
Hast du einen eigenen Übersetzungsvorschlag?
Wie würdest du diese Sutra übersetzen? Manchmal ergeben schon kleine Wortveränderungen ganz neue Aspekte. Trau dich ... :-)
Einordnung dieser Sutra im Yogasutra
Kurze Zusammenfassung der vier Kapitel des Yogasutras
- 1. Samādhi Pāda – Über die Versenkung
Beschreibt das Ziel des Yoga: das zur Ruhe bringen der Gedanken im Geist. Erläutert, was Yoga ist, die Arten von Samādhi (meditativer Versenkung) und wie der Geist durch Übung (abhyāsa) und Loslösung (vairāgya) zur Ruhe gebracht werden kann. - 2. Sādhana Pāda – Über die Praxis
Behandelt die konkrete Praxis des Yoga. Führt die acht Glieder des Yoga (Ashtanga Yoga) ein: Yama, Niyama, Asana, Pranayama, Pratyahara, Dharana, Dhyana, Samadhi. Schwerpunkt liegt auf der ethischen Vorbereitung und inneren Reinigung. - 3. Vibhūti Pāda – Über die übernatürlichen Kräfte
Beschreibt die fortgeschrittenen Stufen der Praxis (Dharana, Dhyana, Samadhi = Samyama) und die daraus entstehenden übernatürlichen Kräfte (Siddhis). Warnt davor, sich von diesen Kräften ablenken zu lassen. - 4. Kaivalya Pāda – Über die Befreiung
Erklärt das Ziel des Yoga: Kaivalya (vollkommene Befreiung des Selbst von der Materie). Diskutiert die Natur des Geistes, Karma, Wiedergeburt und wie durch Erkenntnis die endgültige Freiheit erlangt wird.
Yoga-Sutra 4.9 befindet sich also im Kaivalya-Pada, dem Kapitel über die Befreiung, und behandelt die Fortdauer von Eindrücken und Erinnerungen über scheinbare Unterbrechungen hinweg. Im Original heißt es: „jāti deśa kāla vyavahitānām api anantaryaṁ smṛti-saṁskārayor eka-rūpatvāt“ – auf Deutsch etwa: „Es besteht eine ununterbrochene Kontinuität im Wesen von Erinnerung (smṛti) und Samskara (latente Eindrücke), selbst wenn Geburt, Ort oder Zeit dazwischen liegen“. Mit anderen Worten: Erinnerungen und unbewusste Prägungen sind laut Patañjali tief im Wesen verankert und überdauern Wechsel von Lebensformen, Zeiten und Orten. Nichts, was mental „gespeichert” wurde, geht wirklich verloren – jede Handlung und jeder Wunsch zieht irgendwann eine Konsequenz nach sich. Dieses Prinzip bildet die Grundlage des Karmas, des Gesetzes von Ursache und Wirkung im Yoga.
Die Sutras IV-9 bis IV-12 behandeln Samskaras (unterbewusste Prägungen) und Smritis (Erinnerungen). Sie lassen sich am besten im Gesamtzusammenhang verstehen, auch mit den beiden Sutras IV-7 und IV-8 zuvor.
Schlüsselbegriffe definiert
Um die Sutra zu verstehen, hilft es, zunächst die wichtigsten Begriffe und Konzepte aufzuschlüsseln:
- Samskara (संस्कार) – wörtlich Eindruck oder Prägung: Damit sind die latenten Eindrücke gemeint, die jede Erfahrung und bewusste Handlung in unserem Geist hinterlässt. Samskaras liegen im Unterbewusstsein gespeichert und formen tiefe Gewohnheitsmuster. Sie sind vergleichbar mit den impliziten Erinnerungen der modernen Psychologie – also Erinnerungen, die unser Verhalten beeinflussen, ohne dass sie bewusst erinnert werden. Jeder Gedanke und jede Tat erzeugt solche Spuren im „Geist-Stoff“ (Chitta); wiederholte Handlungen graben sie tiefer ein, vergleichbar dem Ausfahren einer immer deutlicheren Spur im Schnee.
- Smṛti (स्मृति) – Gedächtnis bzw. Erinnerung: Die Fähigkeit des Geistes, Erfahrungen bewusst ins Erinnern zu rufen. In diesem Kontext meint smriti nicht nur das alltägliche Erinnern, sondern auch den unbewussten Gedächtnisspeicher. Erinnerung und Samskara sind laut Sutra „von gleicher Form“ oder Natur – das bedeutet, dass Erinnerung im Grunde nichts anderes ist als das erneute Auftauchen einer latenten Prägung. Was wir Erinnerung nennen, ist also die Manifestation eines Samskara im Bewusstsein.
- Vāsana (वासना) – wörtlich u.a. Duft oder Geruch: Dieser Begriff bezeichnet die subtile „Ausdünstung“ oder Atmosphäre, die aus starken Samskaras entsteht. Hat sich ein Samskara oft genug wiederholt und tief verankert, beginnt er das Denken, Fühlen und Handeln wie ein Aroma zu durchziehen. Man kann sagen: Wenn Samskaras unsere unbewussten Eindrücke sind, dann sind Vasanas die daraus resultierenden Neigungen oder Tendenzen, die für andere (und uns selbst) als charakteristischer „Duft“ wahrnehmbar werden – sprich, unsere Persönlichkeit und Wahrnehmung „gefärbt“ von vergangenen Eindrücken.
- Karma (कर्म) – Handlung, hier im Sinn des Karma-Gesetzes: Jede bewusste Handlung zieht Konsequenzen nach sich und hinterlässt einen Samskara. Diese Eindrücke führen irgendwann – wenn die Umstände passen – zu neuen Erfahrungen oder Früchten (Karmaphala). Weil Samskaras nicht vergehen, bildet sich eine Ursache-Wirkungs-Kette, die potenziell über viele Leben hinweg reicht. So erklärt der Yogaphilosoph die Gerechtigkeit und Logik im Universum: Auch wenn zwischen Tat und Ergebnis Jahre oder Leben liegen, bleibt die Kette intakt, das Ergebnis folgt der Ursache unfehlbar nach. Patañjali betont sogar, dass dieser Prozess keinen absoluten Anfang in der Vergangenheit hat – es gab nie einen „ersten“ Samskara, da die Lebensgier (āśiṣaḥ, der Wille zu existieren) selbst ewig ist. Dies beschreibt ein Anfangsloses Kreislaufgeschehen: ein Huhn-und-Ei-Spiel von Verlangen, Handlung, Eindruck und erneutem Verlangen.
Sei vorsichtig, was du dir wünschst ...
Gedanken zur Karmalehre in dieser Sutra
Patanjali erläutert hier, was wir landläufig als Karma verstehen. Aus einem Wunsch oder einer Handlung folgt irgendwann ein Ereignis. Es resultiert ein Ergebnis, eine Frucht, die wir ernten. Auch wenn zwischen Ursache und Wirkung einiges passieren mag und evtl. sogar viel Zeit vergeht.
Vergangene Handlungen wirken sich aus, auch wenn man sich nicht mehr an sie erinnert: Manche “karmische Samen” gehen in diesem Leben auf, andere harren vielleicht der Entfaltung in einem anderen Leben. Ursache und Wirkungen können durch Zeit, Ort und sogar Geburten hinweg getrennt sein.
Karma setzt Wunsch/Handlungen nicht immer eins zu eins um. So kann es sein, dass du dich heute an der Kasse vordrängst und in einem Monat erlebst du, wie du jemand anders für eine Beförderung herangezogen wird, die eigentlich dir zugestanden hätte.
Iyengar schreibt ganz allgemein, dass die Karmalehre dem yogischen Schüler dargelegt werde, damit dieser sich um “neutrales Handeln bemüht”. Die Karmalehre möchte zu “verdienstvollem Wandel anleiten” (S. 297). Diese befreie von Wunschdenken und seinen karmischen Folgen. Wunschloses Handeln verfeinere das menschliche Bewusstsein, so dass man Purusha, das Reich der Seele, erkunden könne.
Nicht nur Handlungen haben Folgen gemäß der Karmalehre, sondern auch Wünsche. Mit deinen Wünschen legst du Tendenzen für dein künftiges Dasein. Du setzt "karmische Samen".
Ob ein karmischer Same sich entfaltet, hängt von den Umgebungsbedingungen im Leben ab, von den Gesamtumständen eines Lebens. Geraldine Coster schreibt (S. 117) dass ein Psychoanalytiker “täglich” in seiner Praxis beobachten könne, wie Erfahrungen aus der Kindheit jahrelang latent (ohne Einfluss) blieben, bis sie, so die “passenden Umstände” eintreten, “plötzlich aktiviert” würden. Dem Inder, so schreibt die Autorin in “Yoga und Tiefenpsychologie” weiter, sage diese Sutra, dass freude- oder leidbringens Karma, das in irgendeinem Leben geschaffen wurde, erst seine Auflösung erfahre, wenn die jeweilige Wiederverkörperung die für das Aufgeben der karmischen Saat notwendigen Bedingungen biete.
Oder du wünschst dir einen dünnen Körper, aber andere Wünsche, wie dem nach Freude durch Essen oder dem Wunsch nach Ruhe, überwiegen und verhindern ein Durchsetzen des Schlankheitswunsches. Gibst du solche entgegengesetzten Tendenzen auf, findet der Ursprungswunsch, der karmische Same, die Umgebungsbedingungen vor, um sich zu entfalten.
Vorsicht bei der Interpretation eines Ereignisses
Wir lesen oft in den Beschreibungen zur Karmalehre, dass die Grundzüge einfach erklärt sind, aber der konkrete Einzelfall sehr komplex sein kann. Sprich: Wenn jemand an einer Krankheit leidet, muss dies nicht bedeuten, dass sie/er etwas Böses getan hat. Krankheit kann auch der Wunsch nach einer Lernerfahrung sein oder ganz andere karmische Ursachen haben. Hier raten die Meister zur Vorsicht bei der Interpretation. Rainbowbody: „Obwohl das Gesetz des Karmas eine Tatsache ist, ist es nahezu unmöglich, seine Feinheiten zu kennen. So bleibt es für den Intellekt größtenteils unergründlich.”
Etwas “vereinfachter” sieht es Feuerstein (S. 378): “So erfährt also niemand sogenannte -karmische Ungerechtigkeiten-, jeder einzelne Mensch erntet, was er (oder sie) in früheren Leben säte.”
Zeit mag vergehen …
Vyasa spricht in seinem Kommentar von einem “Karmischen Residuum”, was auch über viele Inkarnationen erhalten bleiben kann. So bleiben beispielsweise Neigungen laut Sriram über zeitliche und räumliche Veränderung erhalten.
Und das ist auch der Grund für unser Unwissen bezüglich der Karmafolgen: Weil so viel Zeit zwischen Ursache(n) und Wirkung(en) vergehen kann, erkennen wir in der Regel nicht die karmischen Ursachen unseres heutigen Erlebnisses.
Mehr zu diesem Zitat hier.
Wünsche mit Vorsicht ...
Denn es könnte sein, dass dein Wunsch ganz anders in Erfüllung geht bzw. Konsequenzen nach sich zieht, die du nicht bedacht hast. Darum rät Sukadev dazu, nur mit dem Zusatz “Aber nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe” einen Wunsch auszusenden.
Mit Yoga zur Befreiung von Samskaras
Rainbowbody schreibt: „Da Yoga uns lehrt, wie wir diese Muster und tief verankerten Triggerpunkte bis auf die zelluläre Ebene loslassen können, können wir uns von solchen biopsychischen Mustern und Assoziationen befreien.” Und etwas weiter: „Hier empfiehlt Patanjali die Meditation als das wichtigste Heilmittel. “
Yogasutra 4.9 – Erinnerung, Samskara und die ununterbrochene Kette des Karma
Klassische Kommentare zum Sutra
Die klassischen indischen Kommentatoren der Yogasutra haben Sutra 4.9 ausführlich erläutert. Dabei wird deutlich: Patanjali steht in der Denktradition des Sāṃkhya, die Reinkarnation und ein feinstoffliches Fortbestehen der Eindrücke voraussetzt. Vyāsa (ca. 5. Jh.), der Verfasser des grundlegenden Yoga-Bhāṣya Kommentars, unterstreicht, dass Samskaras über den Tod hinaus erhalten bleiben. Er veranschaulicht den Zusammenhang mit einem drastischen Beispiel: Angenommen, ein Mensch wird aufgrund bestimmter karmischer Ursachen als Katze wiedergeboren. Dies geschieht aufgrund vergangener karmischer Ursachen, selbst wenn hunderte von Jahren oder „hundert Leben“ zwischen dem Setzen dieser Ursachen lägen, denn frühere Eindrücke würden zu gegebener Zeit ihre entsprechende Wirkung zeigen.
Es mag so aussehen, als läge eine gewaltige Zäsur zwischen einem menschlichen Dasein und einem tierischen, aber in Wahrheit, so Vyāsa, bleibt die karmische Abfolge ungebrochen. Sobald die Frucht reif ist, manifestiert sich der latente Eindruck wieder, auch wenn Leben, Ort und Zeit völlig verschieden scheinen. Die Beziehung von Ursache und Wirkung, von Samskara und seiner Auswirkung, „bricht nicht ab“ – egal, welche Wandlungen dazwischen stattfinden.
Der spätere Gelehrte Vācaspati Miśra (9. Jh.) greift diese Erklärung im Tattva-Vaiśāradī-Kommentar auf und betont die Unmittelbarkeit der Übertragung: Die letzten Eindrücke im Augenblick des Todes gehen nahtlos in das nächste Dasein ein. Selbst wenn das neue Lebewesen sich nicht bewusst an das vorige erinnern kann, sind die verborgenen Eindrücke aus dem alten Leben noch da und beeinflussen das neue. Vācaspati erklärt, dass Gedächtnis und Samskara nur unterschiedlich erscheinen, in Wahrheit aber „eine Form“ haben – was erlebt wurde, prägt den Geist als Samskara, und dieses Prägen ist letztlich das Erinnern, nur zeitversetzt. So erklärt er, warum es nicht nötig ist, dass wir uns aktiv an unser vorheriges Leben erinnern, damit die Eindrücke daraus wirksam werden: Die Samskaras wirken auch ohne bewusste Erinnerung weiter. Es gibt keine Lücke im inneren Prozess – jeder Impuls setzt sich fort, sobald er die Gelegenheit dazu bekommt.
Auch andere klassische Kommentare stimmen im Wesentlichen überein: Samskaras und Vāsanas durchziehen die vielen Geburten eines individuellen Geistes wie ein fortlaufender Faden. Sie erklären zum Beispiel, warum ein Yogi Phänomene wie angeborene Talente oder instinktive Abneigungen beobachtet: Aus Sicht der Yogaphilosophie bringt die Seele gewisse Neigungen aus früheren Leben mit. So wundert es nicht, wenn manche Menschen schon von klein auf eine besondere Begabung oder auch eine unerklärliche Angst haben – klassische Lehrer führen dies auf starke Eindrücke (samskaras) zurück, die nun wieder zum Vorschein kommen. (Die moderne Wissenschaft würde hier eher Gene, neuronale Verschaltung und Prägungen in der frühen Kindheit anführen, doch dazu gleich mehr.)
Und natürlich liefert die Sutra auch die moralische Erklärung, dass kein guter oder schlechter Impuls je verlorengeht: Jede edle Tat (punya) und jede üble Tat (pāpa) zieht konsequent Ergebnisse nach sich – wenn nicht sofort, dann eben in einem späteren Leben. Dieses rigorose Konzept karmischer Gerechtigkeit war zur Zeit Patañjalis verbreitet und wird in dieser Sutra quasi psychologisch untermauert:
Weil all unsere Erfahrungen im tiefen Speicher bewahrt bleiben, muss das Universum nichts „vergessen“ – was wir säen, das ernten wir, wenn auch nicht unbedingt sofort.
Moderne Auslegungen und Erkenntnisse
In der modernen Yoga-Community wird Sutra 4.9 teilweise unterschiedlich interpretiert, je nachdem ob man die Idee der Wiedergeburt wörtlich nimmt oder eher metaphorisch. Selbst wenn man nicht an Reinkarnation glaubt, lässt sich der Vers als Hinweis lesen, dass Gewohnheiten und innere Prägungen immer wieder an die Oberfläche kommen, sobald die Umstände es erlauben – egal, wie sehr man glaubte, ihnen entkommen zu sein.
So hat es wohl jeder schon erlebt: Man ändert den Wohnort, den Beruf, den Partner – und stellt irgendwann erstaunt fest, dass sich gewisse Muster im neuen Umfeld wiederholen. „Überall, wo du hingehst, nimmst du dich selbst mit“, könnte man sagen.
Patañjali liefert für dieses Déjà-vu des Lebens eine Erklärung: Die alten Samskaras holen dich ein. Es ist, als würde man nach einer Pause einfach dort weitermachen, wo man aufgehört hat. Viele Menschen kennen auch spontane Déjà-vu-Gefühle – das unheimliche Empfinden, eine neue Situation oder einen Ort seltsam vertraut zu finden. Einige Yogis deuten das als Aufblitzen vergangener Eindrücke: Hier spielen möglicherweise Samskara und smriti zusammen und erzeugen den Eindruck, man habe das alles „schon mal erlebt“.
Moderne Kommentatoren bemühen auch anschauliche Vergleiche, um die Idee greifbar zu machen. Swami Jnaneshvara, ein zeitgenössischer Yogalehrer, erklärt: Es ist ein bisschen so, als ob du mitten in einem Projekt eine längere Pause einlegst – zum Beispiel Urlaub machst – und hinterher direkt anknüpfst, als wärst du nie weg gewesen. Du erinnerst dich an den Stand der Dinge und hast noch den Antrieb (den Samskara) in dir, das Begonnene fertigzustellen; also gibt es, abgesehen von ein paar Urlaubsfotos, eigentlich keinen Bruch. Genauso, sagt er, könnte man sich das mit dem Tod und der Wiedergeburt vorstellen: Zwischen zwei Leben liegt eine Lücke – sei es ein Tag oder viele Jahre – doch wenn ein neuer Körper „bezogen” wird, sind die alten Eindrücke und inneren Antriebe wieder da. Man setzt das vorige Leben fort, nur in neuer Umgebung. Diese etwas provokante Analogie holt die kosmische Idee der Wiedergeburt in den Bereich alltäglicher Erfahrungen. Sie zeigt praxisnah, was die alten Texte meinen: Samskaras verschwinden nicht einfach, nur weil Zeit vergeht oder wir den Ort wechseln.
Spannend ist, dass moderne Wissenschaft und Psychologie in manchen Punkten Parallelen zu Patañjalis uralter Lehre ziehen – auch wenn sie natürlich andere Erklärungen anbieten. Das Konzept eines Unterbewusstseins etwa, wie es bei Freud und Jung entwickelt wurde, passt bemerkenswert gut zum Yogakonzept des Chitta (des Geist-Stoffes, in dem Samskaras lagern). Beide Ideen sagen: In uns wirken verborgene Erinnerungen, Triebe und Eindrücke, die unser Verhalten färben, ohne dass wir sie im Wachbewusstsein sehen. Die Psychologie spricht von impliziten Erinnerungen oder unbewussten Glaubenssätzen; Yoga spricht von Samskaras und Vasanas. So beschreibt die Neurowissenschaft z. B. Gewohnheiten als das Resultat sich verstärkender neuronaler Pfade im Gehirn – je öfter wir etwas tun, desto stärker brennen sich die zuständigen synaptischen Verknüpfungen ein, was zukünftiges Verhalten lenkt. Faszinierenderweise ist das nichts anderes als eine andere Beschreibung dessen, was Yogis seit Jahrtausenden unter Samskara verstehen! Auch dass wir stark eingeprägte Gewohnheiten nur schwer durchbrechen können, klingt vertraut: Im Yoga würde man sagen, hier sind die Vasanas – die „duftenden“ Vorlieben und Abneigungen – so kräftig, dass sie unsere Wahrnehmung trüben.
Ein weiterer Schulterschluss von alter Weisheit und moderner Wissenschaft findet sich in der Neuroplastizität. Neurowissenschaftler haben entdeckt, dass das Gehirn sich ein Leben lang verändern kann; durch bewusste neue Erfahrungen lassen sich alte Muster im Gehirn tatsächlich umbauen. Diese Erkenntnis ist hoffnungsvoll: Sie bestätigt aus wissenschaftlicher Sicht, dass tief verankerte „Prägungen“ nicht unveränderlich sind. Yoga sagt im Prinzip dasselbe – nur eben seit 2000 Jahren: Durch Disziplin, Meditation und neue Erfahrungen können wir unsere Samskaras transformieren oder überschreiben. Nichts steht ewig fest in der Psyche. Lies hier weitere spannende Gedanken dazu.
Besonders erstaunlich sind moderne Studien im Feld der Epigenetik, die sogar andeuten, dass gewisse Erfahrungen biologisch an die nächste Generation weitergereicht werden können. Ein oft zitiertes Experiment der Emory University 2013 zeigte: Mäuse, denen man beibrachte, einen bestimmten Geruch (nach Kirschblüten) zu fürchten, gaben diese Angst vererbt an ihre Nachkommen und sogar Enkel weiter. Die Nachkommen reagierten ängstlicher auf diesen Duft, ohne ihn je zuvor gerochen zu haben. Der Auslöser war kein mysteriöses Karma, sondern chemische Markierungen an den Erbgutmolekülen der Eltern – doch das Ergebnis ist verblüffend ähnlich der yogischen Behauptung, dass Eindrücke über Zeiträume hinweg wirksam bleiben. Natürlich handelt es sich hierbei um Vererbung innerhalb einer Blutlinie, nicht um Wiedergeburt einer Seele. Dennoch öffnen solche Befunde unser wissenschaftliches Verständnis dafür, wie tief Erfahrungen ins Leben eingehen. Selbst unsere Gene tragen Spuren dessen, was wir erleben. Eventuell beginnt die Wissenschaft gerade erst zu erforschen, auf welche verborgenen Weisen die Vergangenheit die Zukunft prägt.
Der endlose Kreis (Karma, stetig fortschreitend wie die Schnecke) und das Ziel seiner Überwindung (Buddha als Symbol der Befreiung)
Was bedeutet das für uns?
Beispiele für die Kette aus Ursache -> Wirkung -> neue Ursache
Beispiel | Schritt | Beschreibung |
---|---|---|
Kritik | 1 – Eindruck | Eine Person kritisiert dich. |
2 – Samskara | Früheres „Nicht-genug-sein“ wird aktiviert. | |
3 – Vasana | Neigung zur Gegenwehr (Wut/Abwehr). | |
4 – Handlung | Du konterst hart – die Situation eskaliert. | |
5 – Neuer Eindruck | Erleichterung + Schuld → Spur der Wut/Abwehr vertieft sich. | |
Social-Media | 1 – Eindruck | Leerlauf im Zug, leichte innere Unruhe. |
2 – Samskara | „Ablenkung hilft“ – altbekannte Spur. | |
3 – Vasana | Reflex zum Handy-Greifen. | |
4 – Handlung | Endlos-Scrollen. | |
5 – Neuer Eindruck | Kurze Belohnung → stärkeres Gewohnheitsmuster. | |
Lob | 1 – Eindruck | Du erhältst schmeichelndes Lob. |
2 – Samskara | Spur „Wert kommt von außen“ wird aktiviert. | |
3 – Vasana | Hunger nach Bestätigung. | |
4 – Handlung | Du überarbeitest dich, um mehr Lob zu bekommen. | |
5 – Neuer Eindruck | Mehr Anerkennung – Muster verstärkt sich. | |
Angst | 1 – Eindruck | Aufgabe wirkt groß, Unruhe im Bauch. |
2 – Samskara | „Aufschieben lindert Druck“ – alte Spur. | |
3 – Vasana | Tendenz zur Vermeidung. | |
4 – Handlung | Du schiebst es weg, machst anderes. | |
5 – Neuer Eindruck | Kurz Erleichterung, langfristig mehr Angst/Stress. |
Fesseln und Befreiung
Für Yoga-Praktizierende und Lehrende ist die Erkenntnis um die Samskaras und ihre Kontinuität nicht nur theoretische Philosophie, sondern sehr praktisch: Wir tragen unsere Vergangenheit in uns, ob wir wollen oder nicht. Alles, was wir heute sind, beruht auf früheren Handlungen, Gewohnheiten und Erfahrungen. Diese können als Ballast erscheinen – oder als Schatz, je nachdem.
Wichtig ist aber: Das Yogasutra vermittelt uns keineswegs Fatalismus, sondern Verantwortung und Möglichkeit.
Pandit Rajmani Tigunait betont, dass unsere Samskaras kein unabänderliches Schicksal sind. Im Gegenteil: Unser Geist enthält sowohl positive als auch negative Eindrücke, und es liegt an uns, ob wir die konstruktiven Samskaras stärken und die schädlichen allmählich verblassen lassen. Mit bewusster Anstrengung können wir alte Muster durchbrechen.
Wären wir bloß Opfer unserer Prägungen, bräuchte man keinen Yogaweg – doch gerade weil Veränderung möglich ist, lohnt sich die Praxis.
Patañjali hat bereits zu Beginn der Yogasutra den Zweck des Yoga definiert: „yogaś citta-vṛtti-nirodhaḥ“ – Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der mentalen Fluktuationen. Oder auch:
Yoga Sutra I-2: Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Bewegungen im Geist
Was bedeutet das im Lichte von Sutra 4.9? Nichts Geringeres als das Durchbrechen der beschriebenen Kette. Wenn es gelingt, das unbewusste Drängen, die ständigen Aufwallungen von Erinnerungen und Eindrücken zu beruhigen, erlöschen die Samskaras allmählich. Die alten Prägungen verlieren ihre Macht, neue werden idealerweise gar nicht mehr gebildet. In diesem Zustand, so heißt es, “ruht der Sehende in seiner wahren Natur” – das Selbst erkennt sich selbst:
Yoga Sutra I-3: Dann ruht der Wahrnehmende in seiner wahren Natur
Mit anderen Worten: Der Yogī, der sein Karmakonto abgearbeitet hat und keine neuen Eindrücke mehr ansammelt, erfährt Kaivalya, die Befreiung von den immer weiter treibenden Mustern.
Auf dem Weg dorthin aber ist Geduld gefragt. Yoga liefert verschiedene praktische Werkzeuge, um mit Samskaras zu arbeiten:
- Meditation schafft die nötige Bewusstheit und Innenschau, um subtile Eindrücke überhaupt wahrzunehmen. In der Stille der Meditation können versteckte Muster an die Oberfläche steigen – manchmal konfrontierend, oft heilsam.
- Auch Selbstreflexion (svādhyāya) und
- das Studium philosophischer Lehren helfen, blinde Flecken aufzudecken.
- Die ethischen Übungen – Yamas und Niyamas – dienen ebenfalls dazu, positive Gegenimpulse zu setzen: Wer z. B. Gewalt durch Mitgefühl ersetzt oder Unwahrheit durch Wahrhaftigkeit, der überschreibt nach und nach negative Samskaras mit positiven.
Modern würde man sagen: Dieser Mensch programmiert sein neuronales Netz um. Wichtig ist laut den Weisen, dabei nicht verbissen vorzugehen. Tiefverwurzelte Prägungen lassen sich selten über Nacht auslöschen. „Erwarte nicht zu viel auf einmal“, raten Lehrer – sonst frustriert man sich nur. Besser ist es, Schritt für Schritt an sich zu arbeiten: Zuerst Stabilität und einen klaren Geist kultivieren, dann gezielt die schwierigsten Muster angehen.
Hast du ein Beispiel für uns?
Hattest du schon einmal das Gefühl, dass dein heutiges Verhalten von Prägungen aus früheren Existenzen beeinflusst wird?
Wenn du magst, schildere doch kurz heutiges Verhalten und zugrundeliegende Prägung.
Dieser Sutra in der Praxis nachgehen
In der Meditation: Spuren sehen, ohne sie wegzuwischen
Setz dich hin, wie gewohnt. Atme. Und jetzt beobachte, was kommt. Vielleicht ein Bild aus der Kindheit, vielleicht ein Gespräch von gestern, vielleicht das dringende Bedürfnis nach Kaffee. Normalerweise würdest du sagen: „Unwichtig, weiteratmen.“
Aber versuch’s mal anders: Schau diese Spuren wie kleine Wellen im Wasser an. Sie haben eine Form, eine Energie. Spür, wie sie im Körper auftauchen – vielleicht als Spannung im Bauch oder als Ziehen im Herzen. Das ist ein Samskara in Echtzeit.
Übungsidee:
- Richte die Meditation bewusst auf ein wiederkehrendes Muster. Zum Beispiel: Du wirst immer unruhig, sobald Stille einkehrt. Setz dich hin und erlaube dir, genau das zu fühlen – den Drang, aufzustehen, die E-Mails zu checken, etwas „zu tun“. Lass es da sein.
- Stell dir vor: Diese Unruhe ist nicht neu. Sie ist ein alter Eindruck, der schon lange in dir wohnt. Heute schaust du ihn einfach an, ohne gleich zu gehorchen.
Was passiert? Erstmal nichts Spektakuläres. Aber wenn du diese Lücke zwischen Samskara und Handlung immer wieder übst, fängt das Muster an, seine Macht zu verlieren. Das ist gelebte Yogaphilosophie.
Meine Erkenntnisse/Erfahrungen bei/mit dieser Übung
Im Alltag: Das Drehbuch erkennen
Die Sutra sagt ja im Grunde: Wir wiederholen uns, ob wir wollen oder nicht. Also: Nutze den Alltag als Labor.
- Beispiel 1: Der Klassiker – Streit.
Jemand sagt etwas, du fährst hoch, wirst scharf. Und dann, wenn die Welle vorbei ist, denkst du: „Komisch, genau so reagiere ich immer.“
Da kannst du Sutra 4.9 praktisch üben: Halt kurz inne. Sag dir: „Aha, altes Drehbuch. Nicht zwingend neu, nicht zwingend wahr.“ Atme. Vielleicht brichst du den Kreislauf diesmal – vielleicht auch nicht. Aber schon das Erkennen ist Übung. - Beispiel 2: Alltägliche Süchte.
Scrollen am Handy, noch ein Stück Schokolade, Netflix statt früher Schlaf. Du weißt längst, wie’s läuft. Aber beobachte genau den Moment vor der Handlung. Das Verlangen – das ist ein Samskara, der hochschießt. Mach dir klar: „Das bin nicht ich. Das ist nur ein alter Eindruck, der spielen will.“ Allein dieser Gedanke schafft Abstand. - Beispiel 3: Wiederkehrende Talente.
Vielleicht hast du eine Begabung, die dich immer wieder findet – Musik, Sprache, heilende Hände. Nimm das mal ernst. Setz dich hin und frag dich: „Welche Spur könnte das sein, die sich durchzieht?“ Hier wird das Sutra zur Ermutigung: Manche Muster sind kostbar. Sie wollen gepflegt, nicht bekämpft werden. - Ganz allgemein
Übe dich im Beobachten deines Karmas. Spüre ehemaligen Handlungen nach, die das jetzige Geschehen beeinflusst haben könnten.
Kleiner Trick: Humor einladen
Weil ehrlich: Wenn du nur ernst und moralisch rangehst, wird das Ganze bleischwer. Versuch, die Wiederholungsschleifen mit einem Augenzwinkern zu betrachten. „Aha, da ist mein alter Bekannter, der innere Nörgler. Na, schön, dass du auch wieder auftauchst.“ Dieses leichte, humorvolle Hinschauen ist im Endeffekt eventuell wirksamer als sofort mit strenger Askese zu reagieren.
Kommentar von Vyasa zu Sutra 4.9 – Restspuren, Erinnerung und das ewige Rad
Erläuterungen zu Vyasa
Vyasa war ein indischer Philosoph des 5. bzw. 6. Jahrhunderts nach Christi, der den ältesten überlieferten Kommentar zum Yogasutra des Patanjali schrieb. Der Text wird Yogabhashya (wörtlich "Kommentar (Bhashya) zur Yogaphilosophie") genannt und um 600 nach Christi datiert. Vyasas Kommentare zu den Sutras sind oftmals recht kurz.
Ohne Vyasas Kommentar wären viele Sutras heute fast unverständlich. Manche Gelehrte sagen, der Text ist erst durch den Kommentar wirklich „lesbar“.
Vyāsa war vielleicht/wahrscheinlich kein einzelner Autor, sondern ein Titel, der mehrere Kommentatoren der indischen Tradition umfasst. Die Stimme, die wir im Yogasutra-Kommentar hören, ist also vielleicht ein Chor.
Vyasas Yogabhashya wurde im 8./9. Jh. von Shankara (788–820 n. Chr, indischer Gelehrter, Vedanta-Philosoph, Begründer der Advaitavedānta-Tradition) kommentiert. Sein Kommentar nennt sich Yogabhashyavivarana, Vivarana ist ein Unterkommentar.
Auch Vachaspati Mishra hat einen frühen, berühmten Kommentar zum Yogasutra geschrieben. (Meine Quellen für diese Kommentare waren unterschiedliche Bücher und Webseiten, zum Beispiel Legget (siehe Literatur) und wisdomlib.org/hinduism/book/yoga-sutras-with-commentaries/). Ich gebe hier diese Kommentare in für mich relevanten Auszügen in Worten wieder, die für mich den Sinn in heutigen Worten am besten wiedergeben. Dies ist explizit kein Bemühen, die Originalkommentare wortgetreu wiederzugeben. Fehlinterpretationen sind natürlich in meiner Verantwortung.
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Die Kommentare von Vyasa, Mishra und Shankara sind oft wörtlich übersetzt worden, zum Beispiel bei den oben angegebenen Quellen.
Der folgende Abschnitt stammt aus Vyāsas Kommentar zum Yogasutra IV-9. Er wurde ursprünglich aus dem Sanskrit ins Englische übersetzt und hier in verständlichere, erläuternde Sprache übertragen. Ziel ist es, nicht nur den Sinn, sondern auch den Klang seiner Gedanken greifbar zu machen.
Der Kern von Vyāsas Erklärung
Vyāsa greift ein drastisches Bild auf: Er schreibt, dass die „Frucht“ einer Handlung in der Form einer Katze erscheinen kann und sich als Wiedergeburt als Tier äußern kann. Ob nun hundert Leben, große räumliche Distanzen oder sogar ganze Weltzeitalter (Kalpas) dazwischenliegen, spielt keine Rolle. Warum? Weil das Karma, das diese Geburt hervorbringt, solange bestehen bleibt, bis es die Gelegenheit findet, sich zu entfalten.
Das bedeutet: Wenn die Ursachen vorhanden sind, taucht auch die Wirkung wieder auf. Und sie bringt die Restspuren (Samskaras) mit, die bereits im Geist gespeichert wurden – in diesem Fall die Eindrücke des „Katzenzustands“ aus einem früheren Leben und die Wiedergeburt als Katze.
Restpotenzen, Erinnerung und Ursache-Wirkung
Vyāsa macht klar, dass es bei diesem Prozess keine wirkliche Unterbrechung gibt. Selbst wenn Jahrhunderte oder Welten dazwischenliegen – die Kette von Ursache und Wirkung reißt nicht ab.
- Restpotenzen (Samskaras, Vāsanas): Sie sind die feinen Rückstände von Erfahrungen und Handlungen. Vyāsa nennt sie „Aromen“ – Spuren, die bleiben, auch wenn das eigentliche Erlebnis längst vorbei ist.
- Erinnerung (Smṛti): Sie ist nicht getrennt von diesen Spuren. Erinnerung entsteht, weil die Restpotenzen oder Restspuren im Geist weiterhin vorhanden sind. In Vyāsas Worten: „Erinnerung und Restpotenz sind von gleicher Natur.“
- Wechselspiel: Aus Erinnerungen entstehen neue Restpotenzen. Und aus Restpotenzen wiederum erwächst Erinnerung. Beide bedingen sich gegenseitig und werden wirksam, sobald eine passende Handlung (Karma) sie „manifestiert“.
Es entsteht also ein Zyklus: Handlung → Restspur → Erinnerung → neue Restspur → neue Handlung. Und so dreht sich das Rad.
Das klingt abstrakt, aber es hat eine unmittelbare praktische Seite:
- Schon im Alltag spüren wir, dass ein Streit, eine starke Freude oder ein Schock Spuren im Körper-Geist-System hinterlässt. Sie kehren zurück – vielleicht als blitzartige Erinnerung, vielleicht als subtiler Drang, ähnlich zu handeln wie zuvor.
- Manche dieser Muster sind harmlos, andere können unser Leben prägen. Wer immer wieder mit Angst reagiert, trägt diese Spur weiter; wer immer wieder liebevoll reagiert, ebenso.
- In der Meditation wird das spürbar: Alte Eindrücke steigen auf, Bilder, Gefühle, Impulse. Manchmal so vertraut, dass man merkt: Das bin nicht nur „heute“. Das ist alt.
Ergänzende Gedanken
Moderne Leser müssen nicht unbedingt an wörtliche Wiedergeburt glauben, um Vyāsas Erklärung ernst zu nehmen. Auch wenn man es psychologisch liest, bleibt die Botschaft:
- Erfahrungen graben sich tief ein.
- Erinnerungen und unbewusste Muster sind zwei Seiten derselben Medaille.
- Nichts geht verloren, solange es nicht bewusst verarbeitet oder transformiert wurde.
Die Herausforderung ist, diesen Kreislauf zu erkennen – und in der Praxis zu unterbrechen, wenn er uns bindet. Yoga bietet dafür Methoden: Meditation, Selbstreflexion, Ethik, siehe oben.
Zusammengefasst
Was einmal in uns hineingegangen ist, verschwindet nicht einfach. Es kehrt wieder, manchmal nach einem Tag, manchmal nach hundert Leben. Das kann bedrückend wirken – oder befreiend. Denn wenn es so ist, dann gilt auch: Jede gute Tat, jeder Moment der Achtsamkeit, jede liebevolle Spur bleibt bestehen.

Siehe auch folgende Sutras zum Karma
Yoga Sutra I-24: Ishvarah ist als besonderes Wesen unberührt von Leid, Karma oder Wünschen
Yoga Sutra II-12: Die Kleshas sind [somit] die Wurzel für das gespeicherte Karma. Es wird im sichtbaren [gegenwärtigen] oder in nicht sichtbaren [zukünftigen Leben] erfahren werden.
Yoga Sutra II-13: Solange die Wurzeln [der Kleshas, der leidbringenden Hindernisse] verbleiben, muss es [das Karma] erfüllt werden, und erschafft die allgemeine Lebenssituation, die Lebensspanne und das Maß an freudvollen Erfahrungen in unserem Leben
Yoga Sutra II-14: Die Ernte aus dem Karma ist entweder freudvoll oder schmerzhaft, je nachdem, ob die zugrunde liegende Tat heilsam oder leidbringend war.
Yoga Sutra II-15: Für jemanden mit Unterscheidungsfähigkeit ist alles in dieser Welt leidvoll; das liegt an der Vergänglichkeit, unserem Verlangen, den unbewussten Prägungen und an der Wechselhaftigkeit der Natur
Yoga Sutra II-16: Künftiges Leiden kann und sollte vermieden werden
Yoga Sutra II-17: Die Identifikation des wahrnehmenden Selbstes mit den wahrgenommenen Objekten ist Ursache [des Leides] und sollte überwunden werden
Yoga Sutra II-18: Die wahrgenommenen Objekte haben die Eigenschaften Klarheit, Aktivität und Trägheit und bestehen aus Elementen und Wahrnehmungskräften. Alles Wahrgenommene dient der (genussvollen) Erfahrung und der Befreiung.
Yoga Sutra II-21: Die Welt existiert nur für den Sehenden
Yoga Sutra II-22: Die Welt verschwindet für den, für den sie ihren Zweck erfüllt hat; für alle anderen existiert sie als gemeinsame Realität weiter
Yoga Sutra II-23: Der Sinn der Vereinigung unseres Wahren Selbstes mit der äußeren Welt besteht darin, dass wir unsere Wahre Natur und deren Kräfte erkennen.
Yoga Sutra II-24: Die Ursache unserer „Verbindung mit der Welt“ (= Samyoga) ist Unwissenheit
Yoga Sutra II-25: Wenn das Nichtwissen endet, löst sich die Verbindung mit der Welt auf – dadurch erlangt der Sehende absolute Freiheit
Yoga Sutra II-26: Die Entwicklung und ununterbrochene Anwendung einer reinen Unterscheidungskraft beendet die Unwissenheit
Yoga Sutra II-27: Die Anwendung der reinen Unterscheidungskraft führt zur siebenfachen Erkenntnis
Yoga Sutra III-23: Die Folgen einer Handlung (Karma) zeigen sich entweder sofort oder ruhen erst und zeigen sich später. Samyama über das eigene Karma führt zur Vorahnung des Zeitpunktes des eigenen Todes.
Yoga Sutra III-53: Durch Samyama auf den Augenblick und die Abfolge von Augenblicken erlangt der Yogi jenes Wissen, das auf der so gewonnenen Unterscheidungskraft beruht
Yoga Sutra IV-6: Nur das Bewusstsein, welches aus Meditation (Dhyana) entsteht, ist frei von unbewussten Prägungen (Samskaras)
Yoga Sutra IV-7: Die Handlungen (und die Folgen daraus; Karma) eines Yogi sind weder schwarz noch weiß, für andere sind sie jedoch dreierlei Art
Yoga Sutra IV-8: Aus diesen drei Arten des Handelns (Karma) manifestieren sich [zu einem bestimmten Zeitpunkt] jene Wünsche oder Neigungen, für die günstige Bedingungen vorliegen
Yoga Sutra IV-10: Die Wünsche und Neigungen haben keinen Anfang im Wesen, denn allein schon der Wille zu leben besteht seit ewig
Yoga Sutra IV-11: Diese (Neigungen/Wünsche) werden von vier Faktoren zusammengehalten: Ursache, Wirkung, (geistige) Stütze, (äußeres) Objekt. Verschwinden diese Faktoren, lösen sich auch die (zugehörigen) Wünsche/Neigungen auf
Yoga Sutra IV-30: Dann folgt das Ende aller Leiden und des Karma
Fazit
Abschließend lässt sich sagen, dass Sutra 4.9 eine Art doppelten Ausblick bietet: Einerseits beschreibt es nüchtern das Gesetz der Kontinuität – nichts Vergangenes bleibt ohne Wirkung. Andererseits schwingt eine Zuversicht mit, dass wir mit diesem Wissen unser zukünftiges Schicksal bewusst gestalten können. Alte Gewohnheiten mögen zäh sein wie Urgras – doch Yoga lehrt, dass der Mensch nicht ausgeliefert ist.
Indem wir verstehen, warum wir immer wieder „dort weitermachen, wo wir aufgehört haben“, gewinnen wir die Freiheit, den Kreislauf zu durchbrechen.
Und vielleicht erinnert uns Sutra 4.9 auch an etwas Tröstliches:
Kein ehrlicher Versuch, besser zu werden, geht je verloren.
Jede noch so kleine positive Tat, jeder Samen, den wir säen, bleibt als Samskara erhalten und kann irgendwann aufblühen – sei es morgen, nächstes Jahr oder in einem zukünftigen Leben. Das Leben vergisst nicht, aber es verzeiht uns auch nichts – und nichts Gutes bleibt aus. Genau darin liegt die Gerechtigkeit und Gnade des Karma verborgen.
Ergänzungen und Fragen von dir zur Sutra
Ist etwas unklar geblieben? Kannst du etwas ergänzen oder korrigieren?
Der Stoff der Sutras ist für uns heutige Menschen nicht leicht zu verstehen. Ist im obigen Text irgendetwas nicht ganz klar geworden? Oder kannst du etwas verdeutlichen oder berichtigen? Eine eigene Erfahrung schildern ... Vielen Dank vorab für jeden entsprechenden Hinweis oder eine Anregung:
Videos zu Sutra VI-9
Wünsche und Karma – Kommentar von Sukadev zu Yoga Sutra – Kap. 4, Vers 7-11
Länge: 16 Minuten
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Der Unterschied von Smrti und Sanskara – Kommentar von Anvita Dixit zu Yogasutra 4.9
Länge: 10 Minuten
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Video von Ahnand Krishna zur Sutra
Freiheit von allem vergangenem Karma: Asha Nayaswami (Class 64) zu Sutra 4.7 bis 4.11
Länge: 76 Minuten
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