Drashtri-drishyayoh samyogo heya-hetuh
द्रष्टृदृश्ययोः संयोगो हेयहेतुः
In dieser Sutra finden wir Ursache und Erlösung von allem Leid. Wir müssen nur unsere Unwissenheit, unsere Falsch-Wahrnehmung und Fehl-Identifikation überwinden, dadurch nicht mehr den Wahrnehmenden (Atman, Purusha) mit dem Wahrgenommenen (Prakriti) verwechseln und schon wären wir aller Sorgen ledig. Doch wie gelingt uns das?
1. Bedeutung und Übersetzung des verwendeten Sanskrits
Zunächst hier die Übersetzungsmöglichkeiten für die einzelnen Worte, damit du die Übersetzung selbst für ein besseres Verständnis variieren kannst:
- Drashtri, draṣṭṛ = des Sehers; des Wahrnehmenden; des Zeugen; pure Wahrnehmung; des wahren Selbstes; das sehende Selbst; Purusha;
- Drishya, Drishyayoh, dṛśyaḥ, drsya = Objekt; das Gesehene, Erfahrene; das Sichtbare; was gesehen wird; gedeutet oft als: Prakriti, die Natur;
- Samyogah, saṁyoga = Vereinigung; Identifikation; Verbindung; Zusammenhang; Einheit; Verjochung;
- Heya = was vermieden werden soll; meiden; was überwunden werden soll;
- Hetu, hetuh = Ursache; Mittel;
Zu den Quellen
Buchbesprechungen, Erläuterungen zur Auswahl der Übersetzungsvarianten und allgemeine Hinweise zur Sutraübersetzung findest du im zugehörigen Artikel. Hier nun die Kurzauflistung:
Bücher
- Mircea Eliade: Yoga – Unsterblichkeit und Freiheit
- Iyengar: Der Urquell des Yoga
- Deshpande/Bäumer: Die Wurzeln des Yoga
- Geraldine Coster: Yoga und Tiefenpsychologie
- R. Sriram: Von der Erkenntnis zur Befreiung – Das YogaSutra
- Govindan: Die Kriya Yoga Sutras des Patanjali
- Mallinson/Singleton: Roots of Yoga
- R. Palm: Der Yogaleitfaden des Patañjali
- T.K.V. Desikachar: Über Freiheit und Meditation | Das Yoga Sutra von Patanajali
- Feuerstein, Georg: Die Yoga Tradition (Amazon)
- Skuban, Ralph: Patanjalis Yogasutra (Amazon)
- Sri Swami Satchidananda: The Yoga Sutras of Patanjali (Amazon)
Internetseiten
- Internet-Übersetzung des Yogasutras auf Yoga-Vidya.de
- Zu den Sutras auf ashtangayoga.info
- Zu den Sutras auf 12koerebe.de
- Zu den Sutras auf vedanta-yoga.de
- Openland.de (mittlerweile offline)
- Zu www.bodhi.sofiatopia.org (buddhistische Kommentare zum Yogasutra nur noch als Buch)
- sanskrit-sanscrito.com (Sutras anscheinend entfernt)
- Zur Übersetzung von Chip Hartranft (PDF)
- Die Übersetzung von Hariharananda Aranya, I. K. Taimni, Vasa Houston, Barbara Miller, Swami Satchidananda, Swami Prabhavananda, Swami Vivekananda finden sich auf dieser Seite.
- Übersetzung von James Haughton Woods
- Rainbowbody.com (ausführliche und eigene Kommentierung)
Dein Übersetzungsvorschlag
Du findest die bisherigen LeserInnen-Übersetzungen und -Ergänzungen unten.
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Wie würdest du diese Sutra übersetzen? Manchmal ergeben schon kleine Wortveränderungen ganz neue Aspekte. Trau dich ... :-)
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Antwort 1
Der Wahrnehmende und das Sichtbare ist Eins , das ist die Ursache (des Leids) und soll überwunden werden
Wo fängst du an, wo hörst du auf?
3. Wo wir stehen
Wir befinden uns im zweiten Kapitel des Yogasutra von Patanjali. Es handelt von der Praxis. Patanjali beginnt das Kapitel mit dem Versprechen, dass Yoga die Leiden des Yogis vermindert und zu Samadhi führt.
In Sutra II-3 bis II-11 schildert Patanjali die fünf Haupt-Hindernisse auf dem Yogapfad, die sogenannten Kleshas (Unwissenheit, Anhaftung, Ablehnung, Ego, Lebensdrang). Erste Wege zur Überwindung der Hindernisse werden angerissen (Gegenschöpfung, Meditation). Sutra II-12 bis II-15 handeln von Karma (Folgen von Handlungen und Gedanken, die aufgrund der Kleshas geschehen) und dem inhärenten Leid dieser Welt. Dann geht es weiter mit den Schritten, das Leiden zu besiegen.
4. Leid kann vermieden werden und hat eine Ursache
Warum leiden die Wesen? Patanjali schreibt hier, dass die grundlegende Ursache unseres Leides eine falsche Identifikation ist. Der Sehende hält das Gesehene für sich selbst. Oder allgemeiner: Die Wahrnehmende hält das Wahrgenommene für ihr eigenes Selbst.
Wir denken: mein Körper, meine Muskeln, mein Auge, meine Gefühle, meine Intelligenz, meine Handlungen, meine Wünsche usw.
Yogalehre und Buddhismus sagen unisono:
Das bist du alles nicht. Du nimmst es nur wahr.
Durch diese irrige Verquickung von Wahrem Selbst und den sich wandelnden äußeren Objekten leiden wir, weil sich alles, was wir wahrnehmen, verändert. Doch die gute Botschaft dieser Sutra lautet: Leid kann von der Ursache her vermieden werden. Die Yoga-Lehre zeigt, was dafür zu tun ist. Denn mit Yoga ...
Yoga Sutra I-3: Dann ruht der Wahrnehmende in seiner wahren Natur
Tadâ drashtuh swarûpe ‘vasthânam
तदा द्रष्टुः स्वरूपेऽवस्थानम्
Hier wird das erste große Versprechen des Yoga verkündet. Die Tragweite dieser Zusicherung wird in den Kommentaren zur Sutra erläutert:
5. Der Seher hält sich für das Gesehene
In Sutra I-4 schreibt Patanjali, dass sich der Wahrnehmende mit seinen Geistesbewegungen identifiziert:
Vṛitti sārūpyam-itaratra
वृत्तिसारूप्यमितरत्र
Also ... In allen anderen Umständen, außer dem der klaren Sicht, identifiziert sich der Mensch mit seinen Vrittis. Das gilt es zu ändern. An Vorschlägen, was man als Yogi tun kann, soll es nicht mangeln ...
In dieser Sutra II-17 erweitert Patanjali die Sutra I-4 und mahnt, dass sich der Wahrnehmende im Zustand der Verwirrung noch mit weit mehr aus der Welt der Natur – Prakriti – identifizieren kann: Seinem Körper, Fähigkeiten, Ego, Wissen, Muttersprache usw.
Swami Satchidananda: „Diese Identifikation mit anderen Dingen ist die Ursache von all deinem Leid.“ Auch bei ihm lautet der Tipp: Bleibe in deinem Wahren Selbst. Spreche von deinem Körper, deinen Talenten stets in der dritten Person: Schau dieser Körper ist groß. Sage/denke nicht „mein Körper ist groß“ oder gar – noch identifizierender – „ich bin groß“.
6. Was ist mit Samyoga gemeint?
Dieses Wort steht allgemein für Verbindung. Im Zusammenhang mit Yoga wählt R. Palm den Begriff „Verjochung“. Gemeint ist die Verbindung von Purusha und Prakriti. Der negative Aspekt dieser „Verjochung“ ist das daraus resultierende Leid des Menschen. Viele frühere Kommentatoren sehen aber auch die positive Seite und vergleichen dieses „Bündnis“ als eines zwischen einem „sehenden Lahmen“ (Purusha) und einem „beweglichen Blinden“ (Prakriti). Dieses Bündnis bewirke – nebenbei bemerkt – den Fortbestand der Schöpfung.
R. Sriram schreibt: „Drasta ist das sehende Selbst, zu dem die Wahrnehmung hinströmt.“ Jede Wahrnehmung sei „eine eigentümliche Zusammenkunft von Drasta, dem Sehenden, und Drsyam, dem Gesehenen.“ Diese Zusammenkunft werde Samyoga genannt und könne Freude oder Leid mit sich bringen.
Feuerstein erläutert es so: „Die Wechselbeziehung (samyoga) zwischen Höherem Selbst und empirischer Welt existiert nur scheinbar – aufgrund spirituellen Nichtwissens (avidya)“, welches es zu überwinden gelte.
7. Unterscheidungskraft trainieren
Wer erlöst werden will, muss laut Samkhya also lernen, Wahrnehmendes und Wahrgenommenes zu unterscheiden. Hierbei unterstützen uns Meditation, Loslassen und das Überwinden der Kleshas.
Rituale und Opfer werden vom Samkhya nicht sonderlich geschätzt. Yoga wird stattdessen als Methode der Erlösung für den physischen Bereich gesehen: das Abziehen der Sinnesorgane von den Sinnesobjekten. Überwiegt die Reinheit (Sattva) beim Menschen, welche Helligkeit und Klarheit und somit Erkenntnisfähigkeit mit sich bringt, hat dies auch Einfluss auf seine Sinnesorgane (Indriyani) und ist dadurch seiner Erkenntnisfähigkeit förderlich.
Der Buddhismus sieht die Zusammenhänge anders. Hier wird nicht in zwei Weltdualitäten unterschieden. Bewusstsein ist ebenfalls vergänglich, leidvoll und der Veränderung unterworfen. (Majjhima Nikāya 109: Die längere Lehrrede in der Vollmond-Nacht - Mahāpuṇṇama Sutta).
Zurück zur Yogalehre. Desphande/Bäumer empfehlen konkret, stets innezuhalten und sich zu fragen: Wer sieht/hört/fühlt hier eigentlich? Dies nicht zu tun – die Autoren bemängeln mangelnde Aufmerksamkeit und Achtsamkeit – führe zu Asmita, der Ichverhaftung, besprochen in Sutra II-6. Und damit zu Leid. Sie fordern, dass die „Nabelschnur“ zwischen Mutter Natur – Prakriti – und dem Menschen als Purusha durchtrennt gehört. Denn die Natur erhalte den Menschen zwar, dies aber nur „im Elend“...
Für Deshpande/Bäumer ist ein Weiser, ein Vivekin im Sinne von Sutra II-15, jemand, der stets zwischen dem Sehenden und dem Gesehenen klar zu unterscheiden vermag.
R. Palm vergleicht das Erkennen von Purusha mit der Forderung von Jesus, den Vater zu erkennen. Also nicht das, „was von der Frau geboren“ wurde (= Körper, mentale Muster ...) als Wahrnehmenden anzusehen (Palm: „Das sind wir nicht, sagt auch Jesus.“), sondern den „Vater“ (als Analogie zum Wahren Selbst). Das Licht „harre in uns“ und warte auf Entdeckung :-)
8. Nahe der Erleuchtung: Unser Buddhi (Intellekt)
Iyengar schreibt, dass unsere Intelligenz – Buddhi – das der Seele am nächsten verwandte Bewusstseinsvermögen sei. Lässt man sich als Yogi von Versuchungen verführen, von den Verlockungen der Prakriti, wird man leicht in eine illusorische Identifikation mit dem Materiellen verstrickt. Disziplin – Tapas/Askese – fördere aus diesem Grunde das Unterscheidungsvermögen des Intellektes.
Feuerstein erinnert daran, dass der Verstand Buddhi Teil der Natur sei, „kaum ein Aspekt des Selbst“. Auch er betont: „Selbst und Natur unterscheiden sich ewig.“
9. Was geschieht, wenn man sich selbst als Wahrnehmender erlebt?
Wer sich stets bemüht, Wahrnehmung, Wahrgenommenes und Wahrnehmenden zu erkennen, wird früher oder später (hoffentlich) erste Aha-Erlebenisse erhalten. So versprechen es viele Kommentatoren dieser Sutra.
Das kann in einem großen Wendepunkt des Lebens münden. Zunächst viel Unsicherheit mit sich bringen und alte Glaubenssätze, Werte oder Wünsche auflösen bzw. verändern. Deshpande/Bäumer: „Avidya [Nichtwissen] wird ... in ein Gefühl des Staunens verwandelt über das [eigene] abgrundtiefe Nichtwissen auf der einen Seite und das große Unbekannte (die Ganzheit der Welt) auf der anderen.“
Dann aber soll sich der ersehnte Friede zeigen. Damit einhergehend wird das leidtragende Streben nach Wichtigkeit, Bedeutsamkeit und Dauerhaftigkeit ei uns nachlassen.
9.1. Dein Feedback / deine offene Frage an den Text
Ist etwas unklar geblieben? Kannst du etwas ergänzen oder korrigieren?
Der Stoff der Sutras ist für uns heutige Menschen nicht leicht zu verstehen. Ist im obigen Text irgendetwas nicht ganz klar geworden? Oder kannst du etwas verdeutlichen oder berichtigen? Eine eigene Erfahrung schildern ... Vielen Dank vorab für jeden entsprechenden Hinweis oder eine Anregung:
10. Siehe auch - Sutras mit zugehörigen Aussagen
Yoga Sutra IV-4: Die Bewegungen des Geistes entstehen aufgrund des Ichgefühls
Nirmâna-chittâny asmitâ-mâtrât
निर्माणचित्तान्यस्मितामात्रात्
Yoga Sutra II-24: Die Ursache unserer „Verbindung mit der Welt“ (= Samyoga) ist Unwissenheit
Tasya hetur avidyâ
तस्य हेतुरविद्या
Eine eher ernüchternde Sutra. Erfahrung in der Welt ist ja ganz schön und auch sinnvoll, hält uns aber im „Gefängnis dieser Welt“. Führt zu irrigen Identifikation. Letztendlich lautet das Ziel Erleuchtung. Der Weg dorthin: Vidya!
svasvāmi-śaktyoḥ svarūp-oplabdhi-hetuḥ saṁyogaḥ
स्वस्वामिशक्त्योः स्वरूपोपलब्धिहेतुः संयोगः
Wieder eine positive Sutra in Bezug auf unser Dasein und unsere Erfahrungen in der Welt. Sie gibt eine (Teil-)Antwort auf den Sinn des Lebens. Wir schauen uns die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten dazu an.
11. Übung zu Yoga Sutra II-17
Übungsvorschlag für die kommende Woche zu Sutra II-17:
Immer wenn du diese Woche „leidest“, stelle dir sofort die Frage: „Wer leidet da?“ Sage dir: „Das bin nicht ich. Ich bin der Beobachter des Leidens.“
Erweiterung der Übung: Versuche zu erkennen, was dich dieses Leid eventuell lehren will. Wenn einen „Lernstoff“ findest, bringe ein Gefühl der Dankbarkeit für den „Lehrmeister Natur“ auf.
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12. Videos zu Sutra II-17
In den Tabs finden sich Videos zu dieser Sutra.
{tab Sukadev}
Yoga-Vidya Videos zu den Sutras II-1 bis II-11:
Yogaprasad Institute zu Sutra II-10 bis II-18:
Desikachar Video zu Sutra II-17:
{tab Nayaswami Asha}
Nayaswami Asha Video zu den Sutras II-17 bis II-20:
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