Sukhânushayî râgah
सुखानुशयी रागः
Wenn mich etwas erfreut, will ich mehr davon. Wo ist das Problem? Ist das nicht eine gute Leitlinie im Leben? "Meistens nicht!", sagt Patanjali, und zwar immer dann nicht, wenn dieser Genuss aus einer Illusion resultiert. Auf Avidya basiert – auf Unwissenheit. Doch wo finde ich stattdessen eine bessere, DIE richtige Richtschnur?
Wovon träumst du?
1. Bedeutung und Übersetzung des verwendeten Sanskrits
Zunächst hier die Übersetzungsmöglichkeiten für die einzelnen Worte, damit du die Übersetzung selbst für ein besseres Verständnis variieren kannst:
- Sukha in Sanskrit und in Pali = Genuss; Vergnügen; Wohlbefinden; Glück; Freude; Gelassenheit; Glückseligkeit;
- Anushayi, anuśayī, anushayî = begleitend; folgend; resultierend; anhängend; verbunden mit; darauf beruhen;
- Raga, Ragah, râgah = Anziehung; Gier; Anhaftung; Wunsch; Leidenschaft; gefallen, mögen; „Haben-wollen“; Anhänglichkeit; blinde Zuneigung;
Zu den Quellen
Buchbesprechungen, Erläuterungen zur Auswahl der Übersetzungsvarianten und allgemeine Hinweise zur Sutraübersetzung findest du im zugehörigen Artikel. Hier nun die Kurzauflistung:
Bücher
- Mircea Eliade: Yoga – Unsterblichkeit und Freiheit
- Iyengar: Der Urquell des Yoga
- Deshpande/Bäumer: Die Wurzeln des Yoga
- Geraldine Coster: Yoga und Tiefenpsychologie
- R. Sriram: Von der Erkenntnis zur Befreiung – Das YogaSutra
- Govindan: Die Kriya Yoga Sutras des Patanjali
- Mallinson/Singleton: Roots of Yoga
- R. Palm: Der Yogaleitfaden des Patañjali
- T.K.V. Desikachar: Über Freiheit und Meditation | Das Yoga Sutra von Patanajali
- Feuerstein, Georg: Die Yoga Tradition (Amazon)
- Skuban, Ralph: Patanjalis Yogasutra (Amazon)
- Sri Swami Satchidananda: The Yoga Sutras of Patanjali (Amazon)
Internetseiten
- Internet-Übersetzung des Yogasutras auf Yoga-Vidya.de
- Zu den Sutras auf ashtangayoga.info
- Zu den Sutras auf 12koerebe.de
- Zu den Sutras auf vedanta-yoga.de
- Openland.de (mittlerweile offline)
- Zu www.bodhi.sofiatopia.org (buddhistische Kommentare zum Yogasutra nur noch als Buch)
- sanskrit-sanscrito.com (Sutras anscheinend entfernt)
- Zur Übersetzung von Chip Hartranft (PDF)
- Die Übersetzung von Hariharananda Aranya, I. K. Taimni, Vasa Houston, Barbara Miller, Swami Satchidananda, Swami Prabhavananda, Swami Vivekananda finden sich auf dieser Seite.
- Übersetzung von James Haughton Woods
- Rainbowbody.com (ausführliche und eigene Kommentierung)
Dein Übersetzungsvorschlag
Du findest die bisherigen LeserInnen-Übersetzungen und -Ergänzungen unten.
Hast du einen eigenen Übersetzungsvorschlag?
Wie würdest du diese Sutra übersetzen? Manchmal ergeben schon kleine Wortveränderungen ganz neue Aspekte. Trau dich ... :-)
3. Wo wir stehen
Patanjali beginnt das zweite Kapitel im Yoga-Sutra mit den Hindernissen auf dem Yoga-Pfad.
Diese Kleshas sind (Sutra II-3):
- Unwissenheit [Avidya],
- Identifikation mit dem Ego [Asmita],
- Begierde [Raga],
- Abneigung [Dvesha] und
- (Todes-)Furcht [Abhiniveshah]
Unwissenheit wurde (Sutra II-4) als die Wurzel aller übrigen leidvollen Zustände gebrandmarkt.
In dieser Sutra geht es um Raga: unsere Wünsche, das Haben-Wollen bzw. die Gier. Begierde.
4. Irriges Bewerten
Am Anfang steht die instinktiv vorgenommene Einteilung aller weltlichen Dinge und Geschehnisse in ist „gut für uns“ und ist „schlecht für uns“. In Yoga-Sprache: In Raga und Dvesha (wird in der nächsten Sutra besprochen). In „will ich (haben)“ und „will ich nicht (haben)“.
„Zuneigung, Eifer und Liebe sind ... wichtige, wesentliche Qualitäten“, schreibt R. Sriram. Raga aber sei blinde Anziehung, die falsche Hoffnung weckt und Realität verblendet. Swami Satchidananda: „Wir hängen an Vergnügungen, weil wir von ihnen Glück [happiness] erhoffen, und vergessen dabei, dass das Glück immer in uns ist, in Form des wahren Selbst.“ Govindan: „Wir meinen, dass unsere Freude abhängig ist vom Vorhandensein dieser äußeren Umstände oder Faktoren.“ Dabei sei diese Freude immer vorhanden. „Um das zu erfahren, braucht man es sich nur bewusst zu machen.“ (Na ja – wenn es so einfach wäre :-))
5. Eine Erkenntnis auf früher Zeit
Schon die Bhagavad Gita (entstanden in der Zeit vor Christi) mahnt:
6. Achte auf Täuschung bei der Bewertung von gut und schlecht
In der Bhagavad Gita finden wir 18. Kapitel die folgenden Zeilen:
18-36 Nun höre von Mir, oh Arjuna, von der dreifachen Freude, woran der Mensch Gefallen findet, wenn er diese praktiziert, und die sicherlich in Schmerzen endet.
Daraufhin schildert der Text, dass das, was zunächst als Schmerz erscheint, sich später als Freude herausstellen mag und umgekehrt. Dass aber:
18-39 Das Glück, das aus Schlaf, Trägheit und Unachtsamkeit stammt, wird sowohl zu Beginn als auch am Ende eine Täuschung des Selbst mit sich bringen und wird tamasig genannt.
(Bhagavad Gita 18 - 36-39, Siehe dazu auch Yogasutra II-7)
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Und zudem können wir uns auf Buddha berufen, der in den vier edlen Wahrheiten das ›Haben-wollen‹ als Ursache allen Leidens anprangert.
7. Die Weisheit der Sprache
Wenn jemand etwas besonders exzessiv ausübt oder verehrt, sagen wir, er habe eine „Leidenschaft“. Irgendwoher wussten die Schaffer dieses Wortes offenkundig, dass Raga Leiden schafft.
Im Sanskrit heißt „Ra“ Feuer. Feuer, dass uns verbrennen kann...
Und Dvesha (siehe nächste Sutra II-8)? Dva bedeutet „teilen“ und „Sha“ steht für „Leben“. Daraus folgt die Interpretation von Dvesha: Wir zerteilen das Leben in gut und schlecht, anstatt es vollständig anzunehmen.
Meist mach die Dosis das Gift. Raga verführt zur Übertreibung.
8. Die Versuchung
Wenn wir unsere geistige Verfassung von äußeren Geschehnissen abhängig machen, wollen wir stets mehr von diesen scheinbar wohltuenden Geschehnissen. Das positive Erleben immer wiederholen. Verlängern.
Wir wollen am liebsten immer nur schöne Erfahrungen machen ... Wir werden gierig nach erfreulichen Erlebnissen.
Iyengar mahnt, dass auch ein Sadhaka (Yoga-Schüler), der eigentlich schon auf seinem Weg ist, durch die Verführung der Lust auf Befriedigung den eingeschlagenen Yogapfad „vergessen“ und sich wieder in die Welt und ihr Leid verstricken könne.
9. Die Gier nach Bestätigung
Eine in unserer Gesellschaft besonders ausgeprägte geistige Sucht ist die nach Lob und Anerkennung. Bei manchen Menschen bestimmt diese Sucht einen Großteil ihrer Handlungen. Häufig kommentiert dabei im Kopf des Handelnden ein diesem wichtiger Mensch (oder eine Gruppe) die aktuelle Tätigkeit: „Toll machst du das ... das sieht aber schön aus ...„ Dass solch eine „Sucht nach Lob“ zu einem fremdbestimmten Leben führt, scheint keiner weiteren Erläuterung zu bedürfen, ist einfach zu erkennen. Schwierig ist aber, dieses Verhalten bei sich selbst festzustellen, denn für die „Betroffenen“ wirkt es völlig normal und fällt dadurch nicht auf. Bis man sein Leben achtsamer wahrnimmt, dann bemerkt man auf einmal all die Fremdstimmen im eigenen Kopf.
10. Die Leistungssucht
Oder wir identifizieren uns mit unseren Leistungen und streben dadurch stets danach, besser zu werden. Wenn wir ein Ziel erreicht haben, zum Beispiel die Hände in der Vorwärtsbeuge auf dem Boden abzulegen, streben wir sofort das nächste Ziel an, zum Beispiel mit der Nasenspitze das Knie zu berühren. Dr. R. Steiner mahnt: „Eine fortgeschrittene physische Praxis ist die Nebenwirkung, niemals das Ziel des Aṣṭāṅga-Yoga.“ Es ist ein Zeichen von Avidya, von Unwissenheit, sich innerlich aufgrund des Erreichens von fortgeschrittenen Stellungen zu erhöhen. Dr. Steiner nennt die Erwartung, durch eine Āsana Glück zu erleben, Rāga. Niemand würde zur Erleuchtung kommen, nur weil er sich besonders gut verbiegen kann.
11. Überwindung: Die Erinnerung an vergangene Erfüllungen
Die Kleshas – zu denen Raga, das Verlangen gehört – begleiten uns unser Leben lang. Und oft suchen wir immer wieder aufs Neue dort unser Glück, wo wir es auch früher nicht gefunden haben. Raucher mit zahlreichen gescheiterten Versuchen des Aufgebens ihrer Nikotinsucht können davon ein Lied singen. Aber so verhält es sich mit vielen „brennenden Wünschen“, die uns regelmäßig überkommen.
Was tun? Manchmal hilft es, sich immer wieder zu erinnern. Wie war das beim vorigen Wunsch? War ich danach (längere Zeit) glücklich? Oder habe ich es vielmehr hinterher bereut? Schon allein diese Kontemplation lässt manche Begierde verpuffen.
Zudem sollten wir bewusster wahrnehmen: Insbesondere die Werbung zeigt uns falsche Wegweiser auf dem Pfad zur Erfüllung.
Aber auch unsere eigenen Interpretation von anderen Menschen ... die sieht aber gut aus und hat strahlende Zähne .... hat tolle Klamotten ... ein tolles Haus ... einen gut aussehenden Partner ... DIE / DER muss ja dann auch glücklich sein. Oder?
Wir machen tagsüber ständig solche Interpretationen unserer Umwelt. Wenn wir diesen Vorgang bewusster wahrnehmen und unsere Schlussfolgerungen aus Äußerlichkeiten hinterfragen, führt uns das weiter zur Klarheit.
12. Muss ich nun alles meiden?
Die Yoga-Philosophie sagt nicht, dass es gut oder schlecht ist, in einem teuren Haus oder in einer schäbigen Hütte zu leben. Die alten Yogis versuchen uns zu zeigen, dass wir unter allen Umständen glücklich sein können, wenn wir geistig unabhängig von diesen Umständen leben. Darum mahnen sie, sich nicht von äußeren Dingen innerlich bewegen zu lassen.
Allerdings sollten wir uns auch bewusst machen – immer wieder im Alltag beobachten – dass unser permanentes Streben/Wünschen [Raga] bzw. Vermeiden / etwas fürchten [Dvesha] uns viel Energie kostet. Energie, die uns dann für Bemühungen auf dem Weg zur Erkenntnis fehlt. Ganz abgesehen von der Arbeit, die Folgen vergangener Handlungen, Wunscherfüllungen und Vermeidungsstrategien abzuarbeiten [Karma].
Um freier und energievoller agieren zu können, raten Yogis zur Enthaltsamkeit.
Man könnte im Sinne der Yoga-Philosophie sagen, dass jedes Wünschen und Nicht-Haben-Wollen uns von unserem wahren Selbst entfernt.
Der Buddhist Leigh Brasington schreibt genau wie der Franziskaner-Mönch Richard Rohr, der spirituelle Weg sei ein einziges Loslassen von der Welt. Und ein allumfassendes Annehmen, könnte man ergänzen. Vairagya – die Verhaftungslosigkeit.
Enden wir mit zwei Zitaten:
„Es ist sehr schwer, das Glück in uns zu finden, und es ist ganz unmöglich, es anderswo zu finden.“
Nicolas Chamfort, 1741 - 1794 in Paris, französischer Schriftsteller in der Zeit der Aufklärung und der Französischen Revolution.
„Der selbstbeherrschte Mensch jedoch, der sich mit beherrschten Sinnen zwischen den Dingen bewegt und frei ist von Raga und Dvesha, erlangt Frieden.“
Bhagavad Gita 2.64
12.1. Dein Feedback / deine offene Frage an den Text
Ist etwas unklar geblieben? Kannst du etwas ergänzen oder korrigieren?
Der Stoff der Sutras ist für uns heutige Menschen nicht leicht zu verstehen. Ist im obigen Text irgendetwas nicht ganz klar geworden? Oder kannst du etwas verdeutlichen oder berichtigen? Eine eigene Erfahrung schildern ... Vielen Dank vorab für jeden entsprechenden Hinweis oder eine Anregung:
Hier die bisherigen Antworten anschauen ⇓
Antwort 1
Eine Frage zu der untenstehenden Übung: Wenn ich etwas sehe, erlebe oder erfahre, das mich Freude oder Glück spüren lässt, dann empfinde ich es so, dass es eben dieses Objektes, Erlebnisses, dieser Erfahrung oder dieses Menschen (bei Verliebtsein...) bedurfte, um das Glücksgefühl hervor zu locken. Ohne einen Reiz oder Anlass hätte ich das Glücksgefühl nicht gespürt, es würde weiter in mir schlummern, ohne dass ich mir dessen bewusst bin. Wie lässt sich diese Ansicht so transformieren, dass ich ein bleibendes Gewahrsein habe, dass dieses Glück immer in mir ist?
Antwort 2
Der Satz : "Man könnte im Sinne der Yoga-Philosophie sagen, dass jedes Wünschen und Nicht-Haben-Wollen uns von unserem wahren Selbst entfernt".
Irritiert mich; das "Nicht-Haben-Wollen" sollte mich doch eigentlich eher zum Selbst hinführen?
Antwort Peter: Nicht-Haben-Wollen verwende ich hier im Sinne von "irgendwas ablehnen, innerlich weg-haben-wollen", nicht im Sinne von Wunschlosigkeit.
13. Übung zu Yoga Sutra II-7
Übungsvorschlag für die kommende Woche zu Sutra II-7:
Sei die kommende Woche besonders achtsam, wenn dir etwas Freudvolles passiert, du angenehme Erlebnisse hast. Frage dich: Woher kommt die Freude? War sie schon in mir vorhanden? War das Erlebnis/die Erfahrung notwendig, um diese Freude zu erfahren?
So du deine Freude als von innen kommend erkennst, wirst du dich nach und nach von deinen Abhängigkeiten im Leben befreien.
LeserInnenfragen
Frage 1:
Eine Frage zu der Übung: Wenn ich etwas sehe, erlebe oder erfahre, dass mich Freude oder Glück spüren lässt, dann empfinde ich es so, dass es eben dieses Objektes, Erlebnisses, dieser Erfahrung oder dieses Menschen (bei Verliebtsein...) bedurfte, um das Glücksgefühl hervorzulocken. Ohne einen Reiz oder Anlass hätte ich das Glücksgefühl nicht gespürt, es würde weiter in mir schlummern, ohne dass ich mir dessen bewusst bin. Wie lässt sich diese Ansicht so transformieren, dass ich ein bleibendes Gewahrsein habe, dass dieses Glück immer in mir ist?
Antwort 1:
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14. Videos zu Sutra II-7
In den Tabs finden sich Videos zu dieser Sutra.
{tab Sukadev}
Yoga-Vidya Videos zu den Sutras II-1 bis II-11:
Desikachar Video zu Sutra II-7 und II-8:
{tab Nayaswami Asha}
Nayaswami Asha Video zu den Sutras II-7 bis II-10:
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