Te pratiprasava-heyâh sûkshmâh
ते प्रतिप्रसवहेयाः सूक्ष्माः
Mit dieser Sutra beginnt im zweiten Kapitel des Yogasutra „prati-prasava“, der yogische Weg der „Gegen-Schöpfung“, hin zur Freiheit von allen leidvollen Spannungen (Kleshas). In der Besprechung der Sutra kommen wir auch zur Begründung der besonderen Wirksamkeit des (vermutlich) hilfreichsten Tool des Yogapfades.
Die feinen geistigen Hindernisse bedürfen der Gegen-Schöpfung
1. Bedeutung und Übersetzung des verwendeten Sanskrits
Hier sind zunächst die Übersetzungsmöglichkeiten für die einzelnen Wörter, damit du die Übersetzung selbst für ein besseres Verständnis anpassen kannst:
- Te = sie; diese; (Hier: die Kleshas)
- Prati = in Bezug auf; in Richtung; Umkehrung; zurück; dagegen;
- Prasava = Flow; Ursprung; Keim; Bewegung; Schöpfung; Beginn; Gedeihen; Befruchten;
- Pratiprasava = Wiedereintauchen; Auflösung in die Ursache; Ursprung; Involution; Gegenströmen;
- Heyah, heyâh; heyâï = überwinden, überwältigen; fähig, vermieden zu werden; nom.: zu Vermeidendes; zu Überwindendes;
- Sukshma, Sukshmah, suksma, sūkṣma, sûkshmâh = subtil, fein; feinstofflich;
Zu den Quellen
Buchbesprechungen, Erläuterungen zur Auswahl der Übersetzungsvarianten und allgemeine Hinweise zur Sutraübersetzung findest du im zugehörigen Artikel. Hier nun die Kurzauflistung:
Bücher
- Mircea Eliade: Yoga – Unsterblichkeit und Freiheit
- Iyengar: Der Urquell des Yoga
- Deshpande/Bäumer: Die Wurzeln des Yoga
- Geraldine Coster: Yoga und Tiefenpsychologie
- R. Sriram: Von der Erkenntnis zur Befreiung – Das YogaSutra
- Govindan: Die Kriya Yoga Sutras des Patanjali
- Mallinson/Singleton: Roots of Yoga
- R. Palm: Der Yogaleitfaden des Patañjali
- T.K.V. Desikachar: Über Freiheit und Meditation | Das Yoga Sutra von Patanajali
- Feuerstein, Georg: Die Yoga Tradition (Amazon)
- Skuban, Ralph: Patanjalis Yogasutra (Amazon)
- Sri Swami Satchidananda: The Yoga Sutras of Patanjali (Amazon)
- Trevor Leggett: The complete Commentary by Sankara on the Yoga-Sutras* (Amazon)
Internetseiten
- Internet-Übersetzung des Yogasutras auf Yoga-Vidya.de
- Zu den Sutras auf ashtangayoga.info
- Zu den Sutras auf 12koerebe.de
- Zu den Sutras auf vedanta-yoga.de
- Openland.de (mittlerweile offline)
- Zu www.bodhi.sofiatopia.org (buddhistische Kommentare zum Yogasutra nur noch als Buch)
- sanskrit-sanscrito.com (Sutras anscheinend entfernt)
- Zur Übersetzung von Chip Hartranft (PDF)
- Die Übersetzung von Hariharananda Aranya, I. K. Taimni, Vasa Houston, Barbara Miller, Swami Satchidananda, Swami Prabhavananda, Swami Vivekananda finden sich auf dieser Seite.
- Übersetzung von James Haughton Woods
- Rainbowbody.com (ausführliche und eigene Kommentierung)
- Wisdom Library
Dein Übersetzungsvorschlag
Du findest die bisherigen LeserInnen-Übersetzungen und -Ergänzungen unten.
Hast du einen eigenen Übersetzungsvorschlag?
Wie würdest du diese Sutra übersetzen? Manchmal ergeben schon kleine Wortveränderungen ganz neue Aspekte. Trau dich ... :-)
Der Mensch leidet. Auch im "Glück". Eine Ursache sind die Kleshas
3. Wo wir stehen
Patanjali beginnt das zweite Kapitel im Yogasutra mit der Auflistung und (knappen) Erläuterung der Kleshas, der leidvollen Spannungen bzw. -Zustände – den Hindernissen auf dem Pfad des Yoga. Diese Kleshas sind (Sutra II-3):
- Unwissenheit [Avidya],
- Identifikation mit dem Ego [Asmita],
- Begierde [Raga],
- Abneigung [Dvesha] und
- (Todes-)Furcht [Abhiniveshah]
Unwissenheit wurde (Sutra II-4) als die Wurzel aller übrigen leidvollen Zustände gebrandmarkt.
Eliade schreibt (S. 49): Alle Arten von Gedankenbewegungen (Vrtti) sind schmerzhaft (Klesha), deshalb ist die menschliche Erfahrung in ihrer Gesamtheit schmerzhaft. Nur der Yoga ermöglicht die Ausserkraftsetzung der Vrtti und die Abschaffung des Leidens.“
Mit Sutra II-10 beginnt Patanjali mit seinen Ratschlägen zur Überwindung der Kleshas.
4. Kleshas sind beim Unterleuchteten nie völlig überwunden
Zur Erinnerung: Wir können die leidvollen Zustände / Spannungen (Kleshas) niemals ein für alle Mal besiegen, solange wir nicht am Ziel des Yogaweges angelangt sind: der Erleuchtung. Das ist "einleuchtend", da Unwissenheit – die Wurzel der Kleshas – immer wieder neu auftreten kann, bevor wir "erleuchtet" wurden, selbst wenn wir alle vergangenen Unwissenheiten aufgelöst haben.
Oder dass wir etwas begehren, auch wenn wir schon weit auf dem Pfad des Loslassens fortgeschritten sind. Etwas ablehnen ...
Darum müssen die Gegenmittel zu den Kleshas stets aufs neue zur Anwendung kommen, will man die spirituellen Hindernisse stets aus dem Weg räumen.
5. Das Problem zur Ursache zurückverfolgen
Diese Sutra handelt nun vom ersten Gegenmittel, das uns Patanjali zur Vermeidung und Unterdrückung der (feineren) Kleshas an die Hand gibt: Den Ursachen der Kleshas auf den Grund gehen und dort das Problem (auf-)lösen. Iyengar: „... muss man jede Leidensart zu ihrem Ursprung zurückverfolgen und sie damit keimunfähig machen.“
Genauer betrachtet schreibt Patanjali hier, dass (zumindest) einige der (kleineren/subtileren) leidbringenden Zustände durch Rückführung zu deren Wurzeln vermieden werden können. Man muss dafür bis zu den letzten Ursachen eines Kleshas vordringen. Erst dort hält sich die Unwissenheit verborgen, deren Auflösung zur Behebung des leidvollen Zustandes führen soll.
Vorgegriffen: In den folgenden Sutras erläutert Patanjalis Möglichkeiten zur Beseitigung „gröberer“ Kleshas.
6. Pratiprasava als ...
6.1. ... Swadhyaya – Selbststudium
Swadhyaya – Selbststudium – ist solch ein Gang zu den Wurzeln. Siehe dazu die Erläuterungen in Sutra II-1. Hierfür beobachten wir jeweils ein Klesha und durchdenken es bis zu deren Wurzel.
6.2. ... Gegenströmen
Einige übersetzen Pratiprasava statt als "Zurückgehen zur Wurzel" mit "Gegenströmen", als "Involution" oder als "Gegen-Schöpfung". Als einen "Blick auf die Wurzeln des Zeitlichen".
6.3. Parallelen in der Psychoanalyse
Im Grunde genommen kann das Bemühen von bestimmten Strömungen der Psychoanalyse, die Ursachen heutigen psychischen Leidens durch Erlebnisse in der (Früh-)Kindheit offenzulegen, als solch ein „Gang an die Wurzel“ im Patanjalischen Sinne verstanden werden. Oder das Vorgehen der Rebirthing-Therapien.
An den gemischten Erfolgen dieser Therapien erkennt man jedoch: Einige Probleme lassen sich so beseitigen, andere anscheinend nicht.
„Karma ist die ewige Bestätigung der menschlichen Freiheit ... Unsere Gedanken, unsere Worte und Taten sind Fäden in einem Netz, das wir uns umhängen.“
Swami Vivekananda (1863 - 1902)
7. Das Klesha an der Wurzel bekämpfen ist am leichtesten
Jeder Gärtner weiß, dass ein (Un-)Kraut in kleinem Zustand noch leicht herausgerissen werden kann. Lässt man es einige Wochen wachsen, bekommt man es händisch schon manchmal gar nicht mehr entfernt. Ähnlich verhält es sich mit ungünstigen Gewohnheiten und Neigungen.
Sehr schön anschaulich wird diese im berühmten Zitat, dessen Quelle sich im chinesischen verliert:
Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden Worte.
Achte auf Deine Worte, denn sie werden Handlungen.
Achte auf Deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten.
Achte auf Deine Gewohnheiten, denn sie werden Dein Charakter.
Achte auf Deinen Charakter, denn er wird Dein Schicksal.
Ergo: Betreibe Selbststudium deiner Gedanken und vermeide/unterlasse alle, welche dich leiden lassen oder jene, die sich zu einem der Kleshas entwickeln könnten.
Du wirst sehen, dass dies nicht so einfach ist, wie es sich hier liest, da wir ja diese „ungünstigen“ Gedankengänge nicht umsonst verfolgen. Manche dieser Gedanken fühlen sich erst einmal gut an, gerne geben wir uns ihnen hin. Andere werden von unheilsamen Stimmungen (Zorn, Wut, Angst ...) verursacht. Deren Bekämpfung bedürfte in dem Moment großer geistiger Stärke, die dir aber nicht immer zur Verfügung steht.
In diesem Umstand findet sich auch eine Erklärung dafür, warum ein Glaube oder ein Vertrauen in einen Guru oder die Yogalehre uns auf dem Weg zum Yogaziel so sehr helfen. Denn wir brauchen einen guten Grund – z. B. eine tiefe Zuversicht zur Yogalehre – dafür, den Neigungen des Geistes entschieden entgegenzutreten.
8. Am Ursprung findet man stets Avidya
Gemäß Patanjali (Sutra II-4) wirst du immer wieder auf Unwissenheit (Avidya) als Wurzel deiner Probleme stoßen. Die Unwissenheit kann dabei in verschiedener Form auftreten:
- Nicht wissen, was dir langfristig guttut.
- Nicht das Leid in der momentanen Lust erkennen.
- Nicht die üble Konsequenz aus einem hässlichen Gedanken überschauen.
- usw.
8.1. Erkenntnis = Auflösung
Die Yogaphilosophie (und natürlich das Yogasutra) postuliert, dass wir alle diese Probleme durch Erkenntnis und Beruhigung unseres Geistes gelöst bekommen können. Diese Sutra II-10 über die Auflösung subtiler Kleshas ist dafür ein Beispiel.
„Jedes Schachspiel ist ein Lehrstück in Sachen Karma: Kein Zug ohne Folgen.“
Andreas Tenzer (*1954), deutscher Philosoph
8.2. Die sich selbst verstärkende Schleife
Je mehr du mit dieser Auflösung deiner Probleme durch den geistigen Yogapfad vertraut wirst, umso mehr sinken deine Zweifel am Yoga. Wiederum durch dieses gestiegene Vertrauen wirst du an Kraft und Mut für deine geistige und körperliche Disziplin gewinnen, was dann verstärkt zur weiteren Auflösung deiner Probleme beiträgt usw. Ein sich selbst verstärkender Prozess.
Ein weiterer Steigbügel zur Erleuchtung wäre es, wenn du – wie R. Steiner ausführt – erkennst, dass alle deine Freude (nur) aus deinem Inneren kommt. Das heißt: Egal wie du dich jeweils entscheidest oder wie es am Ende kommen wird, es wird für dich freudvoll sein. Überlege einmal, mit welch innerer Stärke du dein Leben gestalten würdest, wenn du dir dessen völlig sicher wärest.
9. Die Essenz der Yogalehre
Anhand dieser Begründung kann man durchaus behaupten, dass die Erkenntnis über das Funktionieren des Geistes und den daraus resultierenden Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen der wichtigste (im Sinne von effektivste) Teil der Yogalehre ist. Und dann kann man Patanjali vielleicht auch zustimmen, wenn er sagt (Yogasutra I-2):
9.1. Dein Feedback / deine offene Frage an den Text
Ist etwas unklar geblieben? Kannst du etwas ergänzen oder korrigieren?
Der Stoff der Sutras ist für uns heutige Menschen nicht leicht zu verstehen. Ist im obigen Text irgendetwas nicht ganz klar geworden? Oder kannst du etwas verdeutlichen oder berichtigen? Eine eigene Erfahrung schildern ... Vielen Dank vorab für jeden entsprechenden Hinweis oder eine Anregung:
10. Siehe auch (Sutra mit ähnlichen bzw. ergänzenden Aussagen)
svaviṣaya-asaṁprayoge cittasya svarūpānukāra-iv-endriyāṇāṁ pratyāhāraḥ
स्वविषयासम्प्रयोगे चित्तस्य स्वरूपानुकार इवेन्द्रियाणां प्रत्याहारः
Wir nähern uns dem Ende des 2. Kapitels des Yoga Sutra. Hier erläutert Patanjali in zwei Sutras Pratyahara, das „Zurückziehen der Sinne“, dem fünften Glied des Achtfachen Yoga-Pfades.
In II-54 wird Pratyahara eingeführt und erläutert ► Welche Sinne sind gemeint? ► Wie übe ich Pratyahara? ► Was sind die Früchte von Pratyahara? ► Übersetzungsalternativen ► aktuelle und frühe Kommentare zur Sutra ► ...
Tato dvandvānabhighātaḥ
ततो द्वन्द्वानभिघातः
Patanjali schreibt, dass der Yogi, so er die Asana gemäß II-46 und II-47 meistert, nicht mehr von den Dualitäten dieser Welt beeinträchtigt wird. Sein Wirken und Handeln wird nicht mehr von den „Gegensatzpaaren“ bestimmt oder eingeschränkt. Was ist darunter konkret zu verstehen?
In II-48 schildert Patanajali, was aus der Meisterung der Asana folgt ► Beispiele für Gegensatzpaare ► Was meint „Meisterung der Asana“? ► Übersetzungsalternativen ► Umfrage
Yoga Sutra II-11: Die aktiven bzw. gröberen Formen (der Kleshas) werden durch Meditation überwunden
dhyāna heyāḥ tad-vṛttayaḥ
ध्यानहेयास्तद्वृत्तयः
Die vorige Sutra widmete sich der Auflösung subtilerer Probleme mittels der Rückführung zu deren Wurzel, hier gehen wir nun die gröberen Beschwernisse mittels Meditation an.
avidyā kṣetram-uttareṣām prasupta-tanu-vicchinn-odārāṇām
अविद्या क्षेत्रमुत्तरेषां प्रसुप्ततनुविच्छिन्नोदाराणाम्
Unwissenheit oder eine falsche Sicht der Dinge ist ein elementares Hindernis auf dem spirituellen Pfad. Es wird dir in jeder Phase deiner persönlichen Entwicklung in der einen oder anderen Form begegnen. Darum sei stets auf der Hut gegenüber deinen subjektiven Ansichten und Wahrheiten.
Irgendwann aber ...
Advidyâsmita–râga–dveshâbhiniveshah kleshah
अविद्यास्मितारागद्वेषाभिनिवेशः क्लेशाः
Kommen wir zu den leidvollen Zuständen, welche den Yogi an der Befreiung hindern. Patanjali gibt hier eine erste Definition der Hindernisse auf dem Yoga-Pfad. Interessant sind auch die Parallelen im Buddhismus.
Purushârtha-shûnyânâm gunânâm pratiprasavah kaivalyam svarûpapratishthâ va chiti–shakter iti
पुरुषार्थशून्यानां गुणानांप्रतिप्रसवः कैवल्यं स्वरूपप्रतिष्ठा वा चितिशक्तिरिति
11. Übung zu Yoga Sutra II-10
Übungsvorschlag für die kommende Woche zu Sutra II-10:
Gehe eines deiner Kleshas bis zur Wurzel durch, betreibe Selbststudium. Versuche zum Beispiel eine deiner Charaktereigenschaften anhand obigen Zitates (Schicksal – Charakter – Gewohnheiten – Handlungen – Worte – Gedanken) bis zu den auslösenden Gedanken zurückzuverfolgen.
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12. Videos zu Sutra II-10
In den Tabs finden sich Videos zu dieser Sutra.
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Yoga-Vidya Videos zu den Sutras II-1 bis II-11:
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Nayaswami Asha Video zu den Sutras II-7 bis II-10:
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