yogi ueber nebelmeer licht 250Purushârtha-shûnyânâm gunânâm pratiprasavah kaivalyam svarûpapratishthâ va chiti–shakter iti
पुरुषार्थशून्यानां गुणानांप्रतिप्रसवः कैवल्यं स्वरूपप्रतिष्ठा वा चितिशक्तिरिति

Die letzte Sutra. Das Yogastura beginnt mit ata (jetzt) und endet mit iti (Ende). Patanjali schildert (erneut) Kaivalya, das Ziel des Yogaweges, die Befreiung. Unser Selbst, unsere Seele, findet zu ihrer wahren Natur.

Mit diesem Artikel versuche ich, Yogasutra 4.34  zu erschließen, beginnend bei den Schlüsselbegriffen, über klassische Kommentare bis hin zu modernen Anknüpfungen und Übungsanregungen.

Inhalt: Yogasutra Kapitel 4, Vers bzw. Sutra 34

  1. Bedeutung und Übersetzung des verwendeten Sanskrits
  2. Übersetzungsvarianten und -hinweise (Quellen)
  3. Einordnung dieser Sutra im Yogasutra
  4. Yogasutra 4.34 – Kaivalya und das Verschwinden der Gunas
    1. Zentrale Begriffe in Yogasutra 4.34
      1. Puruṣa (पुरुष) – das wahre Selbst, das reine Bewusstsein
      2. Purushârtha – die Ziele des Lebens
      3. Artha (अर्थ) und Puruṣārtha-śūnya (पुरुषार्थ-शून्य) – „ohne Zweck für den Purusha“
      4. Guṇas (गुण) – die drei Kräfte der Natur
      5. Pratiprasava (प्रतिप्रसव) – das „Zurückkehren in die Quelle“
      6. Kaivalya (कैवल्य) – die absolute Freiheit, das Alleinsein, das Ende des Yogapfades
      7. Svarūpa-pratiṣṭhā (स्वरूप-प्रतिष्ठा) – „in der eigenen Form gegründet sein“
      8. Citi-śakti (चितिशक्ति) – die Kraft des Bewusstseins
      9. Iti (इति) – das kleine Schlusszeichen mit großer Wirkung
    2. Ist keine einfache Übersetzung dieser Sutra möglich?
    3. Die Welt hört auf
      1. Neuer Mensch, neue Welt
      2. Kritik am Ende der Welt
    4. Klassische Kommentare und Deutungen
    5. Philosophie und vergleichende Perspektiven
    6. Weitere moderne Stimmen und empirische Zusammenhänge
  5. Übungsvorschläge zu Sutra IV-34
    1. In der Meditation: das Auflösen der Bewegung
    2. In der Bewegung des Lebens: Kaivalya beim Zähneputzen
    3. In der Stille: das Zurückfallen der Gunas
    4. Konkrete Übungsformen
    5. Die kleine Ironie am Ende
  6. Kommentar von Vyasa zu Sutra 4.34
  7. Tool: Der Pfad des Yogi in Richtung Kaivalya gemäß Yogasutra
  8. Siehe auch folgende Sutras
  9. Fazit
  10. Ergänzungen und Fragen von dir zur Sutra
  11. Videos zu Sutra VI-34
  12. Beliebt & gut bewertet: Bücher zum Yogasutra
    1. Alte Schriften auf Yoga-Welten.de

Kurz zusammengefasst

  • Kaivalya = Freiheit jenseits von Gunas
    Die absoluten Qualitäten (Gunas) haben ihren Zweck erfüllt und kehren in ihren Ursprung zurück; was bleibt, ist reines Bewusstsein in seiner Natur.
  • Pratiprasava – Umkehrung des kosmischen Flusses
    Der Prozess der Weltentfaltung wird rückwärts durchschritten: Sinneseindrücke ziehen sich zurück, bis nur das unvermittelte Selbst verbleibt.
  • Purusha und Chiti-Śakti
    Im befreiten Zustand ruht der Purusha als reines Wahrnehmen, und die Bewusstseinskraft wird unlimitiert – nicht als Handlung, sondern als Sein.
  • Kommentare im Dialog
    Vyāsa, Vacaspati Miśra und andere bieten Varianten: manchmal betonen sie das Verschwinden der Gunas, manchmal das Errichten der Bewusstseinskraft – stets Blickwinkel desselben Geheimnisses.
  • Erfahrung im Alltag verankern
    Statt religiösem Tempelwissen wird Kaivalya über Momente der inneren Stille (z. B. Reaktion beobachten, Impulse nicht offenbar machen) möglich.
  • Brücke zur modernen Forschung
    Neurowissenschaftliche Befunde (z. B. reduzierte Aktivität des Default Mode Network) und Meditationsergebnisse stehen in Resonanz mit dem Modell eines Bewusstseins jenseits spontaner Gedanken.

Details und Erläuterungen zu allen Punkten im weiteren Artikel.

Bedeutung und Übersetzung des verwendeten Sanskrits

Hier sind zunächst die Übersetzungsmöglichkeiten für die einzelnen Wörter, damit du die Übersetzung selbst für ein besseres Verständnis anpassen kannst:

  • Purusha, puruṣa = das (wahre) Selbst; Seele; Geist-Essenz;
  • Artha = Sinn; Ziel; Zweck; Absicht; Motivation;
  • Purushârtha, puruṣārtha = Ziel des Purusha, des Selbst; Ziel des Lebens; die (vier) Menschenziele (Dharma, Artha, Kama, Moksa); Ziel des Menschen; der Zweck des Selbst;
  • Sunya, śūnya = Leere; Erfüllung; leer; das Auflösen; Aufhören;
  • Shunyanam, shûnyânâm = ohne; ermangelung;
  • Gunas, gunânâm = der drei Gunas; die drei Grundeigenschaften der Natur; Wirkkräfte;
  • Gunanam, gunânâm = der Gunas; der Grundeigenschaften;
  • Prati = zurück; gegen;
  • Pratiprasavah, pratiprasavaḥ = Rückgang; Wiedereintauchen; Rückkehr in den Urzustand; Gegenentwicklung; Wiedergutmachung; wieder aufgehen; zum Ursprung zurückkehren;
  • Kaivalyam, kaivalya = (geistige) Befreiung; Erlösung; Freiheit; Alleinsein; All-Eins-Sein; Unabhängigkeit;
  • Svarupa, svarûpa = (in der) eigene(n) Natur; eigenes Wesen; eigene Gestalt; eigene Form;
  • Pratishtha, pratishthâ, pratiṣṭḥā = hervorstehen; erscheinen; feststehend; scheinen; hervorleuchten; begründen; feststehen; Beharrlichkeit; zur Ruhe kommen;
  • Va, vâ = oder;
  • Cit = Bewusstsein; Geist;
  • Sakti, śakti = Kraft;
  • Chiti–shakteh = von der Kraft des reinen Bewusstseins;
  • Iti = Ende; ja so; dies; abschließend; also; so ist es;

Übersetzungsvarianten und -hinweise (Quellen)

Hervorhebungen weisen auf Besonderheiten der jeweiligen Übersetzung hin. Übertragungen aus dem Englischen sind Eigenübersetzungen.

  • Roots: „Isolation [Absonderung, Kaivalya] ist der Verfall der Guṇas, die frei von jeglichem Selbstzweck sind; ...“
  • Sukadev: „Hören alle Anstrengung und Zielstreben auf ... Seele ruht in ihrer wahren Natur ...“
  • Deshpande/Bäumer: „Die den Kräften der Urnatur (gundas), die nun für den >inneren Menschen< (purusa) sinnlos geworden sind, ... Gegründetsein in der eigenen Wesensidentität oder die Kraft der geistigen Schau.“
  • Dr. R. Steiner: „Der Sinn der Grundeigenschaften der Natur (guṇa) liegt darin, dass der Wesenskern (puruṣa) sich selbst erfahren kann. ..."
  • Paul Deussen (1908): „Die Rückströmung der von den Zwecken des Purusha freien Guna's ist die Absolutheit, oder auch sie ist die in ihrer eigenen Natur verharrende Kraft des Geistes.”
  • Coster: „... dann ruht das Bewusstsein in seinem eigenen Sein. Das ist Kaivalya.“
  • Feuerstein: „Die Reabsorption (pratisarga) der [drei] Naturqualitäten (guna), [die nun] keinen Zweck mehr für das Selbst haben, ...“
  • R. Palm: „Die Rückkehr zum Urzustand der materiellen Eigenschaften, die für die Geistseele zweckleer geworden sind, ist die vollkommene Unabhängigkeit ...“
  • R. Sriram: „So sind im Zustand Kaivalyam [der inneren Freiheit] die menschlichen Ziele verwirklicht und die Bewegtheit der Guna [Grundeigenschaften] ist abgedämpft ...“
  • Govindan: „So manifestiert sich die höchste Stufe der absoluten Freiheit, ... kommt in ihrem eigenen wahren Wesen zur Ruhe.“
  • Iyengar: „Wenn die Gunas für den Purusa sinnlos geworden sind, ist Kaivalya (erreicht, ...“
  • Chip Hartranft: „Die Freiheit ... wenn die grundlegenden Qualitäten der Natur ... als irrelevant für das reine Bewusstsein erkannt werden; ... Das ist alles. “
  • R. Skuban: „Da die gunas nun ihren Zweck erfüllt haben, gehen sie wieder in Prakriti auf. Das ist Befreiung. ...“
  • T.K.V. Desikachar: „Wenn das höchste Ziel erreicht ist, rufen die drei guna keine Reaktionen mehr im Geist hervor. ...“
  • G. Pradīpaka: „Vollständige Befreiung (kaivalyam) oder (vā) die Kraft (śaktiḥ) des Bewusstseins (citi), die in ihrer eigenen Natur (sva-rūpa) verankert (pratiṣṭhā) ist, (tritt ein), wenn die Guṇa-s -- d.h. „Qualitäten von Prakṛti“-- (guṇānām) zu ihrer ursprünglichen Quelle -- d.h. Prakṛti -- (pratiprasavaḥ) zurückkehren, ...“
  • 12koerbe.de: „für die des Allgeist-Sinns entbehrenden ...“
  • Hariharananda Aranya: „Der Zustand des Selbst in sich selbst oder die Befreiung wird verwirklicht, wenn … Mit anderen Worten, es ist das absolute Bewusstsein, das in seinem eigenen Selbst etabliert ist.“
  • I. K. Taimni: „Kaivalya ist der Zustand (der Erleuchtung), der dem Wiederauftauchen der Gunas folgt, weil sie frei vom Objekt des Purusa geworden sind. ...“
  • Swami Satchidananda: „... Oder um es aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten: Die Kraft des reinen Bewusstseins setzt sich in seiner eigenen reinen Natur fest.
  • Swami Prabhavananda: „Da die Gunas keinen Zweck mehr haben, dem Atman zu dienen, lösen sie sich in Prakriti auf. Das ist Befreiung. ...“
  • Swami Vivekananda: „... oder es ist die Etablierung der Kraft des Wissens in seiner eigenen Natur.“
  • Wim van den Dungen (buddhistischer Kommentar zum Yogasutra): „... ist das Alleinsein, die Etablierung der Kraft des Bewusstseins in seiner eigenen Form. Ende.“
  • Rainbowbody: „Absolute Befreiung (kaivalyam) regiert durch die Beseitigung (pratiprasavah) aller groben dualistischen Eigenschaften (gunas) durch die Erkenntnis, dass sie nicht unabhängig für sich selbst existieren, als ein separates und disparates „Selbst“ (purusa-artha-sunyam), sondern unsere angeborene wahre universelle Natur des Geistes (swarupa) … “

Zu den Quellen

Buchbesprechungen, Erläuterungen zur Auswahl der Übersetzungsvarianten und allgemeine Hinweise zur Sutraübersetzung findest du im zugehörigen Artikel. Hier nun die Kurzauflistung:

Bücher

Internetseiten

Weitere Quellen, z. B. zu aktuellen Studien, sind direkt im Text verlinkt.

Dein Übersetzungsvorschlag

Du findest die bisherigen LeserInnen-Übersetzungen und -Ergänzungen unten.

Hast du einen eigenen Übersetzungsvorschlag?

Wie würdest du diese Sutra übersetzen? Manchmal ergeben schon kleine Wortveränderungen ganz neue Aspekte. Trau dich ... :-)

 

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Einordnung dieser Sutra im Yogasutra

Kurze Zusammenfassung der vier Kapitel des Yogasutras

  • 1. Samādhi Pāda – Über die Versenkung
    Beschreibt das Ziel des Yoga: das zur Ruhe bringen der Gedanken im Geist. Erläutert, was Yoga ist, die Arten von Samādhi (meditativer Versenkung) und wie der Geist durch Übung (abhyāsa) und Loslösung (vairāgya) zur Ruhe gebracht werden kann.
  • 2. Sādhana Pāda – Über die Praxis
    Behandelt die konkrete Praxis des Yoga. Führt die acht Glieder des Yoga (Ashtanga Yoga) ein: Yama, Niyama, Asana, Pranayama, Pratyahara, Dharana, Dhyana, Samadhi. Schwerpunkt liegt auf der ethischen Vorbereitung und inneren Reinigung.
  • 3. Vibhūti Pāda – Über die übernatürlichen Kräfte
    Beschreibt die fortgeschrittenen Stufen der Praxis (Dharana, Dhyana, Samadhi = Samyama) und die daraus entstehenden übernatürlichen Kräfte (Siddhis). Warnt davor, sich von diesen Kräften ablenken zu lassen.
  • 4. Kaivalya Pāda – Über die Befreiung
    Erklärt das Ziel des Yoga: Kaivalya (vollkommene Befreiung des Selbst von der Materie). Diskutiert die Natur des Geistes, Karma, Wiedergeburt und wie durch Erkenntnis die endgültige Freiheit erlangt wird.

Das vierte Kapitel, Kaivalya Pada, beschreibt den Weg zur vollständigen BefreiungKaivalya, die völlige Freiheit des Bewusstseins. Patanjali eröffnet das Kapitel mit der Frage nach der Herkunft übernatürlicher Kräfte (Siddhis), die aus Geburt, Drogen, Mantra, Askese oder Meditation entstehen (4.1). Diese Kräfte werden jedoch nicht als Ziel, sondern als Nebenprodukte geistiger Läuterung verstanden. Der Yogi soll sie weder suchen noch fürchten, sondern erkennen, dass sie bloß Ausdruck der subtilen Naturkräfte (Gunas) sind.

In den folgenden Sutras (4.2–4.12) beschreibt Patanjali, wie Bewusstseinsevolution und Karma wirken: Wie geistige Tendenzen (Samskaras) verfeinert werden, bis die Identifikation mit ihnen aufhört. Der Geist ist dann nicht länger Produkt der Natur, sondern Instrument des reinen Bewusstseins (Purusha).

Das Kapitel führt weiter in eine psychologische und metaphysische Tiefe, in der Patanjali erklärt, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Struktur der Gunas bereits angelegt sind (4.12–4.14). Wahrnehmung ist nur eine Funktion des Geistes – das Bewusstsein selbst bleibt unberührt. Der Weg führt also über Unterscheidungskraft (Viveka): Der Yogi erkennt, was vergänglich ist (Prakriti), und was ewig ist (Purusha).

Ab Sutra 4.15 bis 4.34 vertieft Patanjali diesen Erkenntnisweg. Er zeigt, dass der Geist (Chitta) als Spiegel der Gunas kein eigenes Licht besitzt, sondern das Licht des Purusha reflektiert (4.18–4.23). Sobald die Reflexion endet, erlischt auch die Illusion eines individuellen Ichs. In den abschließenden Sutras (4.24–4.33) beschreibt Patanjali, wie selbst das feinste Wissen, die subtilsten geistigen Bewegungen und selbst die spirituelle Unterscheidung (viveka-khyāti) schließlich überwunden werden müssen. Nur so kann die „Rückauflösung der Gunas“ (pratiprasava) stattfinden.

Im letzten Vers (4.34) löst sich die Natur gänzlich in ihren Ursprung auf. Die Gunas haben keinen Zweck mehr für den Purusha (puruṣārtha-śūnyānām), und das Bewusstsein ruht in seiner eigenen Natur (svarūpa-pratiṣṭhā). Damit schließt das Yogasutra mit einem leisen, aber gewaltigen Satz: Kaivalya ist erreicht – das Bewusstsein ist frei, unbewegt, ungetrübt.

Abschnitt (Sutra)HauptthemaKernaussage / Bedeutung
4.1–4.3 Entstehung der Siddhis (übernatürliche Kräfte) Siddhis entstehen aus verschiedenen Ursachen, sind aber Nebenprodukte auf dem Weg. Der Yogi soll sie weder suchen noch als Ziel betrachten.
4.4–4.12 Ursprung und Funktion des Geistes Der Geist ist ein Produkt der Gunas; viele Geisteszustände entstehen, aber alle sind vergänglich. Erkenntnis der wahren Unterscheidung führt zur Loslösung von Karma.
4.13–4.14 Wesen der Materie und Zeit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existieren im Potenzial der Gunas. Alle Veränderungen sind bloße Modifikationen der Prakriti.
4.15–4.23 Bewusstsein und Geist Der Geist spiegelt Objekte wider, doch das wahre Sehen geschieht durch den Purusha. Der Geist selbst hat kein eigenes Licht.
4.24–4.33 Auflösung des Geistes Auch die feinste Unterscheidung muss aufgegeben werden. Durch anhaltende Unterscheidung (viveka) löst sich der Geist selbst auf.
4.34 Kaivalya – absolute Freiheit Wenn die Gunas keinen Zweck mehr für den Purusha haben, kehren sie in ihren Ursprung zurück. Der Purusha ruht in seiner eigenen Natur – das ist Kaivalya.
 

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Yogasutra 4.34 – Kaivalya und das Verschwinden der Gunas

Yogasutra 4.34 lautet (Sanskrit): puruṣārtha-śūnyānāṁ guṇānāṁ pratiprasavaḥ kaivalyaṁ svarūpapratiṣṭhā vā citi-śaktir iti. Wörtlich bedeutet dies etwa: „Die Rückkehr (Pratiprasava) der Gunas (naturhafte Qualitäten) ins Nichts, wenn sie jeglichen Zweck für den Purusha verloren haben, ist Kaivalya – oder aber die Macht des reinen Bewusstseins (Chiti-Śakti), die in ihrer eigenen Natur ruht.“ Frei übersetzt sagen alle Varianten, dass Kaivalya erreicht ist, wenn die drei Gunas ihre Tätigkeit einstellen und in ihren Ursprung zurückversinken, so dass das reine Bewusstsein (Purusha) in seiner wahren Natur freiliegt. Anders ausgedrückt: Im Zustand des höchsten Kaivalya ist Prakriti (die aktive Natur) völlig erkannt, und allein das unveränderliche Zeugen-Bewusstsein (Purusha) bleibt übrig.

Zentrale Begriffe in Yogasutra 4.34

Die Sutra in Sanskrit: puruṣārtha-śūnyānāṁ guṇānāṁ pratiprasavaḥ kaivalyaṁ svarūpapratiṣṭhā vā citi-śaktir iti

Wörtlich übersetzt etwa: „Das Zurückkehren (pratiprasavaḥ) der Qualitäten (guṇānām), wenn sie keinen Zweck mehr für den Purusha (puruṣārtha-śūnyānām) haben, ist die absolute Freiheit (kaivalyam), oder – die Kraft des Bewusstseins (citi-śaktiḥ), die in ihrer eigenen Natur gegründet ist (svarūpa-pratiṣṭhā).“

Puruṣa (पुरुष) – das wahre Selbst, das reine Bewusstsein

Puruṣa ist im klassischen Sāṃkhya wie im Yoga kein Mensch im gewöhnlichen Sinn, sondern das unveränderliche, reine Bewusstsein, der Zeuge, das innere Licht, das alles sieht, aber selbst unberührt bleibt.

Vyāsa nennt Purusha auch draṣṭā – der Sehende, das unveränderliche Prinzip der Erkenntnis.
Er ist ewig, bewusst, aber inaktiv. Alles, was sich verändert, gehört zur Prakṛti, nicht zum Purusha.

Im Gegensatz zu vielen modernen „psychologischen“ Deutungen, die Purusha mit „höherem Selbst“ gleichsetzen, betonen die klassischen Texte die radikale Transzendenz des Purusha. Er „tut“ nichts, „will“ nichts – er leuchtet einfach.

Vācaspati Miśra nennt ihn nirvikriya – „ohne jede Modifikation“.

Er ist also kein persönliches Ich, sondern das reine Prinzip von Gewahrsein. Im Zustand von Kaivalya wird diese Gewahrseinsnatur völlig erkannt – Purusha ruht in sich selbst, ohne sich mehr mit den Vorgängen der Prakriti zu identifizieren.


Purushârtha – die Ziele des Lebens

Erst in dieser, der letzten Sutra spricht Patanjali von den Purushârtha, den Lebenszielen. Die vier Lebensziele sind laut Iyengar:

  • Pflichterfüllung (erstes Biuch/Pada handelt von der Pflicht, das Bewusstsein zu disziplinieren)
  • Lebenserwerb
  • Lebensgenuß
  • Freiheit von weltlichen Belangen (das höchste Ziel, die Befreiung, Kaivalya)

Für Iyengar scheint es so, “... dass die Yogasutras diese vier Ziele und Haupttätigkeiten des Lebens allgemein zum Hintergrund haben.”

Kaivalya, die große Befreiung, würde eintreten, wenn – so Iyengar auf S. 323 – der Yogi den vier Zielen des Lebens gerecht geworden sei bzw. diese von ihm abfallen und die Gunas transzendiert habe.


Artha (अर्थ) und Puruṣārtha-śūnya (पुरुषार्थ-शून्य) – „ohne Zweck für den Purusha“

Artha bedeutet „Zweck, Sinn, Bedeutung, Ziel“.
Puruṣārtha ist das „Ziel oder der Nutzen für den Purusha“.
Im Sutra heißt es: puruṣārtha-śūnyānām guṇānām – „die Gunas, die leer von Zweck für den Purusha geworden sind“.

Das ist ein subtiler Punkt:
Solange der Purusha (scheinbar) „etwas“ aus der Welt erfahren will – Lernen, Wachsen, Leiden, Karma abtragen –, wirken die Gunas weiter.
Wenn aber die „Lehrstunde des Universums“ abgeschlossen ist, verlieren sie jeden Sinn.

Vyāsa schreibt:

„Wie eine Tänzerin, die ihren Tanz beendet hat, hört die Prakriti auf, sich zu bewegen, wenn sie vom Purusha erkannt worden ist.“

In dieser Metapher schwingt fast Humor: Die Natur war immer schon Bühne für das Bewusstsein – sobald sie ihren Zweck erfüllt hat, verbeugt sie sich und tritt ab.


Guṇas (गुण) – die drei Kräfte der Natur

Sattva, Rajas, Tamas – Licht, Bewegung, Trägheit.
Sie sind nicht moralische Qualitäten, sondern die Bausteine der manifesten Welt:

  • Sattva: Klarheit, Leichtigkeit, Erkenntnisfähigkeit.
  • Rajas: Energie, Antrieb, Aktivität.
  • Tamas: Schwere, Dunkelheit, Stabilität.

Diese drei sind die Fasern, aus denen der Kosmos gewebt ist – psychisch wie physisch.
Alles, was wir denken, fühlen, erleben, ist ein Spiel dieser drei Kräfte.

Die Gunas sind dabei nicht böse oder gut, sie sind schlicht das Material, mit dem Erfahrung möglich wird. In Sutra 4.34 aber kehren sie zurück in ihren Ursprung – sie lösen sich auf.
Das bedeutet: Die Erfahrung selbst (der Erfahrende, das Erfahrene, der Akt des Erfahrens) wird als bloßes Spiel der Gunas durchschaut und fällt in sich zusammen.

Bhoja Raja beschreibt das poetisch:

„Wenn die Gunas, die lange getanzt haben, müde geworden sind, fallen sie still in den Grund zurück, aus dem sie aufgestiegen sind.“


 

Pratiprasava (प्रतिप्रसव) – das „Zurückkehren in die Quelle“

Einer der schwersten, aber schönsten Begriffe.
Prasava heißt „Hervorbringung“, „Geburt“.
Pratiprasava ist das Gegenteil – der Rückgang in die Ursache, die Umkehrung des Schöpfungsprozesses.

In der Kosmologie des Sāṃkhya entfaltet sich die Schöpfung von Prakriti über Mahat (kosmischer Intellekt), Ahaṃkāra (Ego), Manas (Geist), bis zu den Sinnesorganen und Elementen.
Im Pratiprasava wird diese Entfaltung rückgängig gemacht:

Sinne, Geist, Ego, Prakriti ... alles zieht sich zurück. Am Ende bleibt nur Purusha – das reine Bewusstsein.
So wird „Pratiprasava“ zum Schlüsselwort für die Auflösung des Universums im Bewusstsein – nicht als physischer Tod, sondern als psychische Entflechtung, als völlige Nicht-Identifikation.

Swami Hariharananda Aranya nennt es: „Den evolutionären Strom rückwärts schwimmen.“ Manche sagen: Bewusstes Entlernen.

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Kaivalya (कैवल्य) – die absolute Freiheit, das Alleinsein, das Ende des Yogapfades

Etymologisch stammt Kaivalya von kevala – „allein, einzig, rein“.
Es bedeutet die isolierte Existenz des Purusha, losgelöst von der Prakriti.

In den klassischen Kommentaren wird Kaivalya nicht als ekstatische Erfahrung beschrieben, sondern als dauerhafter Zustand:
Keine Identifikation, keine Rückkehr in den Kreislauf von Karma.

Vyāsa sagt u.a.: „Kaivalya ist die Latentwerdung der Gunas, wenn sie kein Objekt für den Purusha mehr haben.“

Vacaspati Mishra (neben anderen) fügt hinzu: „Dann ist der Purusha in seiner eigenen Form (svarūpa) gegründet.“ Das ist keine „Einsamkeit“, sondern das Vollständigsein ohne Gegenüber. In moderner Sprache: Bewusstsein ohne Inhalt, aber nicht leer – lebendig, aber still ...

Sukadev: „Befreiung (Kaivalya) erfüllt das Ziel des wahren Selbst (Purusha), die Materie (Guna) wird überwunden.” Sat Chid Ananda, reines Sein, Wissen und Glückseligkeit sind erreicht, Zeit hat aufgehört, Anstrengungen, alles Streben hört auf, niemand ist mehr da, dem langweilig werden könnte.

Alle Erfahrungen sind gemacht. Höchste Wonne und tiefste Erkenntnis sind erlangt.

Alle Aufgaben sind erfüllt. Das Bewusstsein erstrahlt in seiner ursprünglichen Reinheit.

R. Sriram scheibt, dass in diesem Zustand der unveränderliche Kern des eigenen Selbst stets präsent im eigenen Bewusstsein ist. Daraus folgt: Die Veränderungen um uns herum verwirren uns nicht mehr. Unsere Taten benötigen keine Zielsetzung mehr.

Bei einem solchen Yogi, der nicht mehr unter dem Druck von Aufgaben und Zielen steht, werden die drei Gunas weniger bewegt. Dadurch verändern sie das Befinden des Yogis immer weniger. Einklang entsteht, die Zeit scheint stillzustehen.

Kaivalya im Kontext:

  • Kaivalya in Jainismus
    Im Jainismus existiert der Begriff Kevala-jñāna – vollständige Erkenntnis – ähnlich dem Yoga-Kaivalya. Es handelt sich dort um den Zustand, in dem alle karmischen Partikel abgefallen sind.
  • Kaivalya-Upanishad
    Die Kaivalya-Upanishad ist eine eigenständige Upanishade, die denselben Begriff „Kaivalya“ behandelt und das Gespräch zwischen dem Weisen Aśvalāyana und Brahman schildert.
  • Kaivalya gegen „Isolation“
    Im Übersetzungsgebrauch wird Kaivalya oft mit „Isolation“ oder „Absonderung“ übersetzt – doch das ist eine eingeschränkte Sichtweise: Gemeint ist vielmehr Nicht-Gefangenheit, nicht Einsamkeit.
  • „Sehen ohne Objekt“
    Der Philosoph Georg Feuerstein meinte, Kaivalya heißt, „sehen ohne etwas, das gesehen wird“ – also reines Gewahrsein jenseits von Objekt und Subjekt.

Svarūpa-pratiṣṭhā (स्वरूप-प्रतिष्ठा) – „in der eigenen Form gegründet sein“

Svarūpa heißt wörtlich „eigene Form, eigenes Wesen“.
Pratiṣṭhā bedeutet „gegründet sein, verwurzelt sein, feststehen“.

Zusammen also: „in der eigenen Wesensnatur verankert“.
Das ist ein Ausdruck tiefer Stabilität: Das Bewusstsein „sitzt endlich zu Hause“.

In Sutra 1.3 sagt Patanjali: „Dann ruht der Sehende in seiner eigenen Natur (tadā draṣṭuḥ svarūpe’vasthānam).“
Sutra 4.34 knüpft dort an – der Kreis schließt sich.

Manche sehen es so: Das ganze Yogasutra ist die Beschreibung dieses einen Vorgangs – wie das Bewusstsein Schritt für Schritt wieder in sich selbst landet.


Citi-śakti (चितिशक्ति) – die Kraft des Bewusstseins

Citi (oder Chit) ist „Bewusstsein, reine Erkenntniskraft“.
Śakti ist „Energie, Wirkkraft“.

Zusammen bedeutet Citi-śakti die ursprüngliche Kraft des Bewusstseins, die in allen Erscheinungen wirkt.
Sie ist kein „Etwas“, sondern das Prinzip, das alles Erkennen möglich macht.

Vyāsa schreibt: Entweder nennt man den Zustand „Kaivalya“, oder man beschreibt ihn als „die Macht des Bewusstseins, die in sich selbst ruht“.

Manche sehen folgenden Unterschied:
„Kaivalya“ betont den Aspekt der Trennung (Purusha getrennt von Prakriti).
„Citi-śakti-svarūpa-pratiṣṭhā“ betont den Aspekt der Erfüllung (Bewusstsein in sich selbst ruhend).

Zwei Blickwinkel auf dasselbe: Losgelöstheit und Vollständigkeit. Die alten Kommentatoren liebten diese Doppeldeutigkeit – wie Licht und Schatten desselben Zustands.


Iti (इति) – das kleine Schlusszeichen mit großer Wirkung

Das winzige „iti“ am Ende wird oft übersehen. Es bedeutet so viel wie: „So ist es“, „so lautet die Definition“.

Dieses Wort steht auch für “das ist alles”. Angefangen hat die erste Sutra mit atha: Jetzt/Nun.

Mit „iti“ schließt Patanjali nicht nur das Sutra, sondern das gesamte Yogasutra. Es ist das leise „Amen“ des yogischen Denksystems, ein Rückbezug zu ata vom Anfang. Nach "iti" gibt es nichts mehr zu erklären.

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Ist keine einfache Übersetzung dieser Sutra möglich?

Man kann Yogasutra 4.34 wie eine Gleichung lesen:

Kaivalya = Pratiprasava der Gunas = Purusha in seiner eigenen Natur = Citi-śakti in sich selbst gegründet.

Oder in poetischer Prosa:
Wenn die Natur ihre Bewegung vollendet hat,
wenn der Geist nicht mehr rennt,
wenn die Gunas ihr Schauspiel beendet haben –
dann bleibt das Bewusstsein in seiner eigenen, unverfälschten Gestalt.
Nicht als Erlebnis, sondern als Seinsgrund.

Rainbowbody: „Dies ist ein sehr prägnantes und tiefgründiges Sutra. Es ist am sichersten, von jeglicher Übersetzung abzusehen, aus Angst, seine Botschaft, seinen Sinn und seine Bedeutung durch „interpretative“ Tendenzen zu verzerren oder herabzusetzen.”

Govindan: “In diesem letzten Vers beschreibt Patanjali den höchsten vollkommenen Zustand der Selbstverwirklichung als absolute Freiheit … Vereinigung des … purusha … mit der Natur (prakriti)”.

Die Welt hört auf

Alle Bande sind durchschnitten (R. Palm).

Das Vergehen der Gunas kann so gedeutet werden, dass die Welt für den Yogi aufhört zu existieren. Vivekananda schreibt, dass die Natur die Seele eines derart entwickelten Menschen noch einmal bei der Hand nimmt, ihn in höchste Höhen zum ursprünglichen Glanz führt und dann wieder hinabzusteigen um die, welche noch selbstvergessen durch die Welt irren, ebenfalls bei der Befreiung zu unterstützen.

Feuerstein deutet es so, dass Kaivalya mit “dem Tod des begrenzten Körper-Verstandes” einhergehe. Nur der “Ewige Zeuge” verbleibe, das Selbst, Purusha.

Neuer Mensch, neue Welt

Deshpande/Bäumer S. 191: “Hier endet der Yoga: in der Schaffung eines neuen Bewusstseins, eines neuen Menschen und einer neuen Welt.” So hat der Yoga in seiner Schaffung der geistigen Kraft der reinen Schau dem Menschen “unendliche Möglichkeiten der Seligkeit und des Glücks” beschert. Erfüllt von “Wahrheit, Güte und Schönheit”.

Sat Chid Ananda

Rainbowbody: „Yoga sagt, dass dieser geistige Zustand des Gewahrseins und des Seins (cit und sat) allen Praktizierenden jederzeit als reine, bedingungslose und natürliche Glückseligkeit (ananda) zugänglich ist, dennoch wird er nicht bewusst erfahren, anerkannt oder voll in Anspruch genommen, bis der Prozess und die Praxis des Yoga abgeschlossen ist. Wie wird diese Praxis vervollständigt? Durch fleißiges Üben der vorangegangenen Yoga-Prozesse als Weg.”

Kritik am Ende der Welt

Wim van den Dungen sieht hier das Yogasutra in der Tradition der theistischen Religionen, die eine Ablehnung der Welt lehren. Er schreibt: „…Dem Leid der zyklischen Existenz, das den groben, fluktuierenden Geist einkerkert, kann man nur entkommen, indem man diesen Zustand nachahmt und den Yogi dazu bringt, sich von der Natur zu lösen und allein zu stehen, so wie der Herr (Gott) im Alleinsein verweilt. Folglich ist Vereinigung gleichbedeutend mit Trennung von der Welt. Die Natur wird bis zu dem Punkt abgewertet, dass sie nur insofern Bedeutung hat, als sie ihrer eigenen Ablehnung hilft. Dies ist eine negative Wertschätzung, die auch in den abrahamitischen Religionen zu finden ist. Dieser Hass auf die natürliche Ordnung ist eine Katastrophe.”

Im Gegensatz dazu Buddhismus und Co: „Lord Buddha, und der größte Teil des Taoismus, umarmt die Natur. Das Ultimative, das Absolute existiert konventionell, relativ. Dieser Pan-Sakralismus versucht, die gegenseitige Abhängigkeit zwischen allen fühlenden Wesen (einschließlich der Menschen) und der Natur zu verstehen. Er versucht, mit letzterer konstruktiv zu interagieren. Ebenso wird der physische Körper nicht gemieden, sondern seine unzähligen Funktionalitäten studiert und optimiert. … Daher ist die Erlösung nicht eine Bewegung weg von der Natur, eine radikale Trennung von der Welt, sondern ein vollständiges Umarmen der abhängigen Wesenheiten, die die Natur ausmachen. Wenn dies gründlich und unwiderruflich verwirklicht ist, verwandelt sich der Yogi in ein unverfälschtes abhängiges Entstehen, einen Buddha. Es ist nicht notwendig, dass der Yogi, um endlich wirklich glücklich zu sein, zuerst physisch stirbt. Das Erwachen kann bereits jetzt erfolgen! Daher sind die Buddhas in der Welt und lehren, um andere zu erwecken. Was für eine andere Sichtweise!”

Kannst du den Yoga retten und Wim van den Dungens Sicht auf den Yogapfad ergänzen/widerlegen?

 

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Klassische Kommentare und Deutungen

In den alten Yogakommentaren wird Sutra 4.34 natürlich ebenfalls ausführlich erläutert.

  • Vyāsa (Sankhyā-Pravacana Bhāṣya, 7. Jh.) interpretiert, dass Kaivalya genau dann verwirklicht ist, „wenn die Folge des Funktionierens der Qualitäten in der Erfüllung ihrer Aufgaben vorüber ist“. Mit anderen Worten: Nachdem die Gunas ihren Zweck (Erfahrung und letztlich Befreiung) erfüllt haben, wird ihre Natur erkannt: „Absolute Freiheit ist die Latenz der Qualitäten, wenn sie ohne Objekt des Purusha geworden sind“. Vyāsa sagt weiter, dass dies ein „umgekehrter Prozess“ (Pratiprasava) ist: Die Qualitäten kehren zurück in ihren Ursprung, nachdem die Seele alle Erfahrungen (Vṛtti, Karma) durchschaut und losgelassen hat. Mehr zu Vyasa unten.
  • Vācaspati Miśra (Tattvavaiśāradī, 9. Jh.) knüpft an und beschreibt den Rückzug der Gunas als mehrstufigen „Nach-innen-Verschwinden“. Er schreibt: „Absolute Freiheit ist das Verschwinden (latent werden) der Qualitäten, wenn sie ohne die Objekte des Purusha geworden sind.“. Konkret fallen zunächst Samskaras und Vāsanas (die wirksamen Kräfte der Gunas) in den Geist zurück, dann der Geist ins Ego (ahaṅkāra), und schließlich löst sich alles im Unmanifesten (Pradhāna/Avyakta) auf. Vācaspati prägt den Begriff des avatkrutabhava – das rückwärtsgerichtete Verschwinden der Kräfte – und nennt dies die eigentliche „absolute Freiheit des Purusha“. Er betont auch, dass dieser Zustand „die Etablierung des Purusha in seiner eigenen Natur“ bedeutet, während in einem kosmischen Weltenende (Mahāpralaya) zwar ebenfalls reines Bewusstsein ruht, dies jedoch noch kein endgültiges Mokṣa/Kai­valya ist.
  • Andere Sanskrit-Kommentare: Maharajah Bhoja (Rājamārtaṇḍa, 11. Jh.) und Schriften wie die Vivarana-Glosse des Advaita (Śaṅkarabhāṣya Vivarana) folgen im Wesentlichen derselben Deutung: Kaivalya als Verschwinden der Gunas zugunsten des offenen Bewusstseins. Auch spätere Yogis wie Swami Vivekananda und Swami Sivananda stellten fest, dass Purusha als Zeuge-Intelligenz sich entfaltet, sobald Prakriti (die Welt der Formen) endgültig abgelegt ist.

Zusammengefasst sehen alle klassischen Ausleger Kaivalya als das Resultat der Pratiprasava der Gunas. Die Gunas „erreichen nichts mehr für Purusha“ (puruṣārtha-śūnyam), ziehen sich auf den Urgrund zurück und enthüllen das ursprüngliche Wesen des Purusha als reines, selbstgenügsames Bewusstsein.

Philosophie und vergleichende Perspektiven

Die Yogaphilosophie des 4.34 ist stark sankhya-dualistisch geprägt: Purusha und Prakriti sind getrennte Prinzipien. Purusha bleibt unverändert, die Gunas gehören zur Prakriti. Im Kaivalya ist Prakriti endgültig „verschwunden“, nur das reine Bewusstsein des Purusha verbleibt. Bodhinatha bringt es auf den Punkt: „In Kaivalya ist die Prakriti dauerhaft verschwunden; nur der Purusha existiert, ins Selbst zurückgekehrt.“.

  • In der Samkhya-Philosophie ist dies die endgültige Trennung von Purusha und Prakriti.
  • Im Vedanta verschmilzt diese Trennung in der Einheit von Atman und Brahman – nicht zwei, sondern eines.
  • In der buddhistischen Sicht würde man sagen: alle dharmas sind leer, nichts bleibt – was Patanjali „Purusha“ nennt, wäre hier „reine Leerheit“.

Buddhistische Denkschulen hingegen lehnen ein festes Selbst (Purusha) ab. In ihnen wäre diese Sutra ohne die Annahme eines eigenständigen Atman unverständlich. Einige moderne Yoga-Lehrer verweisen darauf, dass Kaivalya im Buddhismus eher an das Erwachen zu Leere (śūnyatā) erinnert – das Erkennen, dass kein bleibendes Ich existiert. Man kann sagen, dass Yoga hier mit Anatma kontrastiert: Während der Sutra das Öffnen zum ungeteilten Zeugen-Selbst beschreibt, betonen Buddhisten das völlige Aufgehen aller Vorstellungen im Nicht-Selbst. Diese grundsätzliche Auslegungsdifferenz (dualistische Atman-Lehre vs. non-duale Leerheit) prägt auch verschiedene Übersetzungsvarianten des Sutra.

Interessante Parallelen: Lehre zur Wiedergeburt von Sokrates

Sokrates und die Wiedergeburt

Kurz vor seinem Tod – insbesondere im „Phaidon“ von Platon nachzulesen – entwickelt Sokrates eine umfassende Lehre über die Unsterblichkeit der Seele und die Wiedergeburt (Metempsychose). Diese Lehre ist nicht bloß theoretisch, sondern eng mit seiner Haltung zum Tod verknüpft. Hier die Kerngedanken:

🜂 Grundgedanke: Die Seele ist unsterblich

Sokrates argumentiert, dass die Seele unabhängig vom Körper existiert und nach dem Tod weiterlebt. Der Körper ist nur eine „Hülle“ oder ein „Gefängnis“, während die Seele das eigentlich Göttliche und Vernünftige im Menschen ist.

⚖️ Der Kreislauf der Wiedergeburt

Sokrates übernimmt (teils von orphisch-pythagoreischem Gedankengut beeinflusst) die Idee, dass die Seele immer wieder geboren wird.

  • Leben und Tod bilden einen natürlichen Kreislauf:

    So wie aus dem Lebendigen das Tote entsteht, entsteht auch aus dem Toten wieder Lebendiges.

  • Nach dem Tod tritt die Seele in eine Zwischenwelt ein, wo sie je nach ihrer Reinheit und philosophischen Lebensweise ihr Schicksal erfährt.

🌿 Ziel: Befreiung vom Kreislauf

Das höchste Ziel des Philosophen ist es, die Seele so zu läutern, dass sie nicht mehr in einen neuen Körper zurückkehren muss.

  • Wer im Leben die Wahrheit gesucht und sich von sinnlichen Begierden gelöst hat, kann nach dem Tod in eine rein geistige Existenz übergehen.

  • Wer dagegen „unrein“ bleibt, wird wiedergeboren – oft in einer Form, die seinem Charakter entspricht (z. B. ein gewalttätiger Mensch als Raubtier).

💬 Fazit – Sokrates’ Haltung zum Tod

Kurz vor seinem Tod zeigt Sokrates keine Angst, weil er glaubt:

„Der Tod ist entweder ein Schlaf ohne Träume – oder die Seele geht an einen besseren Ort.“

Für ihn ist der Tod also kein Ende, sondern Übergang – und die Wiedergeburt ist Teil eines größeren kosmischen Gleichgewichts, das die Seele schrittweise zur Weisheit und Reinheit führt. Wer da nicht an den Yogapfad denkt ...

Weitere moderne Stimmen und empirische Zusammenhänge

Neuzeitliche Kommentatoren betonen die erlebbare Dimension von 4.34: Der Yogi im Kaivalya wird als völlig spontan und selbstlos dargestellt. Swami Jnāneshvara schreibt: „Ein erleuchteter Yogi handelt hundertprozentig im Hier und Jetzt – es gibt kein Ich und kein Anderes; es ist alles ein konstanter Strom reinen, ungeteilten Bewusstseins (Purusha).“. Diese Bildsprache verdeutlicht, dass im Kaivalya gewohnte mentale Muster (Samskaras) aufgehoben sind und nur noch unmittelbare Präsenz bleibt.

Auch aus wissenschaftlicher Sicht gibt es Anknüpfungspunkte. Zeitgenössische Neurowissenschaften zeigen etwa, dass regelmäßige Yoga- und Meditationspraxis strukturelle Veränderungen im Gehirn bewirken: Studien berichten von vermehrter grauer Substanz in Bereichen wie dem Inselkortex, die mit Selbstwahrnehmung und Emotionsregulation zusammenhängen. Dies passt zur Idee, dass gezieltes mentales Training innere Qualitäten (die Gunas) harmonisieren kann, indem es das ruhende Bewusstsein festigt. Psychologen betonen zudem, dass der Yogaansatz Geist und Bewusstsein strikt unterscheidet: Bewusstsein (Chit) ist reines, unverändertes Gewahrsein unabhängig von Gedankeninhalten, das Gehirn gilt dabei nur als „Träger“ des Geistes. Dieser Gedanke entspricht Patanjali: Im Kaivalya hat das Purusha-Bewusstsein kein äußeres Objekt mehr und ist „in seiner eigenen Natur verwirklicht“.

Aus psychologischer Sicht könnte man auch sagen: Wenn alle Identifikationen (mit Gedanken, Gefühlen, Rollen) wegfallen, bleibt ein klarer, offener Gewahrseinszustand – nicht fixierbar, aber erfahrbar.
Neuropsychologisch entspricht dies vielleicht Zuständen, in denen das „Default Mode Network“ des Gehirns (Selbstreferenz) nahezu deaktiviert ist – das Bewusstsein „ruht in sich selbst“.

Moderne Yoga-Plattformen fassen Kaivalya anschaulich: Es sei ein Zustand, „in dem die Seele in ihrer reinsten Form ruht und nicht mehr vom Ego, Geist oder sinnlichen Erfahrungen beeinflusst wird“. Solche Beschreibungen betonen die subjektive Erfahrung von tiefer Freiheit. Aus kognitionswissenschaftlicher Sicht deckt sich dies mit Befunden aus Studien zur Achtsamkeit: Wenn mentale Impulse (wiederholte Gedankenmuster) an Bedeutung verlieren, kann reines Erleben (awareness) in den Vordergrund treten. Die Yogasutra-Aussage 4.34 wird damit greifbar: Es ist, als kehrt der Geist ins „Nichts“ zurück und nur das Bewusstsein bleibt zurück – ein Phänomen, das heute etwa mit „aperzeptioneller Absorption“ verglichen wird.

Oder wie Patanjali sagt: „Svarūpa-pratiṣṭhā vā citi-śaktiḥ iti.“ Ein Bewusstsein, das nichts mehr muss oder will – es ist einfach da.

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Übungsvorschläge zu Sutra IV-34

Man kann diese letzte Sutra nicht einfach „praktizieren“ wie eine Atemübung oder ein Mantra. Sie ist eher etwas, das dich findet, wenn du dich nach und nach von allem löst, was du nicht bist. Trotzdem gibt es Wege, ihr etwas näherzukommen.

In der Meditation: das Auflösen der Bewegung

Setz dich hin – ruhig, aufrecht, und lass den Atem kommen, wie er kommt.
Wenn du magst, richte deine Aufmerksamkeit auf die feinen Bewegungen im Geist. Gedanken entstehen, Erinnerungen huschen vorbei, Empfindungen schimmern auf. Und statt etwas zu „machen“, beobachte nur.

Es ist fast wie an einem Fluss sitzen: Der Strom rauscht, du sitzt am Ufer. Irgendwann bemerkst du, dass du gar nicht im Wasser bist. Der Fluss bewegt sich – aber du bist still.

Diese kleine Lücke, in der du merkst, dass du nicht die Bewegung bist – das ist ein Geschmack von Pratiprasava, vom Zurückziehen der Gunas.
Wenn du das regelmäßig übst, verändert sich die innere Haltung. Du musst nichts mehr „kontrollieren“, sondern lässt die Bewegungen einfach in sich zurückfallen.
Und dann, manchmal für ein paar Sekunden, bleibt nur Bewusstsein übrig. Kein Urteil, kein Gedanke, kein Kommentar. Nur klares, offenes Gewahrsein.

Das ist kein Spektakel. Es fühlt sich vielleicht eher an wie: „Ah. Da bin ich. Schon immer gewesen.“ Und schon bist du dem Erreichen von Kaivalya ein Stück näher gekommen ...

In der Bewegung des Lebens: Kaivalya beim Zähneputzen

Vielleicht erstreckt sich Kaivalya bei irgendwann sogar darauf, dass du dich in eine Höhle sitzen und alles vergessen musst, um innere Freiheit zu erleben. Du kannst auch versuchen, dass du inmitten der Welt frei bist – dass die Gunas toben dürfen, ohne dass du sie für „dich“ hältst.

Ein Beispiel:
Jemand kritisiert dich. Der erste Impuls: Verteidigung, vielleicht Wut, vielleicht Traurigkeit.
Dann – ein kleiner Moment des inneren Sehens. Du merkst: „Ah, das ist Rajas, Bewegung, Feuer.“
Du atmest. Der Gedanke zieht vorbei. Der Körper reagiert, aber du bleibst Zeuge.
Das ist kein Wegducken, sondern Bewusst-Sein.

Oder: Du stehst im Supermarkt, jemand drängelt. Du willst genervt sein.
Aber dann beobachtest du dich – und spürst das Aufsteigen von Tamas (Trägheit, Widerstand).
Du lächelst, nicht gezwungen, sondern, weil du erkennst: Es ist alles nur Bewegung.
Und du bist nicht diese Bewegung.

Diese Art des inneren Sehens – mitten im Alltag – ist der praktische Kern der Sutra.
Kaivalya passiert nicht irgendwann, wenn du „fertig erleuchtet“ bist. Es passiert vielleicht auch in den kleinen Momenten, in denen du nicht reagierst, sondern schaust.

In der Stille: das Zurückfallen der Gunas

Manchmal ist es spürbar, dass die Welt dich „zieht“. Termine, Erwartungen, sogar spirituelle Ziele.
Und dann gibt es Momente – vielleicht im Wald, beim Yoga, nach einem langen Atemzug – in denen alles zurücktritt.
Kein „ich sollte“, kein „ich muss“. Nur Dasein.

Das ist auch ein bisschen wie Pratiprasava, das Zurückfallen der Gunas in ihre Quelle.
Nicht spektakulär, nicht heilig.
Einfach still.

Wenn du das zulässt, ohne nachzudenken, ohne zu analysieren, erfährst du etwas von dieser Selbstständigkeit des BewusstseinsCiti-śakti svarūpa-pratiṣṭhā.
Es ist wie ein inneres „Nach-Hause-Kommen“, ganz ohne Ort.

Konkrete Übungsformen

Hier ein paar einfache, aber wirksame Ansätze, um das Prinzip im Leben zu kultivieren:

ÜbungBeschreibungWirkung
Beobachten ohne Eingreifen Setze dich täglich 10–15 Minuten und beobachte Gedanken, Körperempfindungen, Geräusche – ohne Bewertung. Trainiert die Haltung des Zeugen (Purusha-Bewusstsein).
Spüren der drei Gunas Wenn du stark reagierst, frage dich: Ist das Sattva (Klarheit), Rajas (Aktivität) oder Tamas (Schwere)? Hilft, Impulse zu erkennen und nicht mit ihnen zu verschmelzen.
„Ich bin“-Atemübung Beim Einatmen: „Ich“ – beim Ausatmen: „bin“. Nichts weiter. Bringt Bewusstsein in den Körper, löst Identifikation mit Gedanken.
Leer-Raum-Meditation Schaue zwischen zwei Gedanken – was bleibt? Erfahrung von stiller Bewusstheit, jenseits von Form.
Alltags-Kaivalya Beobachte, wie du handelst, während du innerlich ruhig bleibst (z. B. beim Autofahren, beim Reden). Überträgt das Prinzip in den Alltag.

Die kleine Ironie am Ende

Kaivalya kannst du laut vieler Yogis nicht „machen“.
Du solltest stattdessen eher viele "verlernen", bis nichts mehr zu machen bleibt.
Das ist eine lustige Seite der Yoga-Philosophie: Der Weg führt nicht nach vorne, sondern nach innen – und irgendwann merkst du, dass du nie woanders warst.

Es ist ein bisschen wie beim Einschlafen: Du kannst den Moment nicht erzwingen, du kannst nur alles loslassen, was ihn verhindert.
Dann geschieht’s. Ganz still.
Nur dass du bei Kaivalya voll bewusst bleibst.

Und vielleicht kannst du die diese Sutra auch als folgende Einladung verstehen: Nicht mehr zu werden, sondern zu sein.

Meine Erkenntnisse/Erfahrungen bei/mit dieser Übung

... oder kannst du eine andere Übung zum besseren Verständnis bzw. zum Erfahren dieser Sutra ergänzen?

 

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Kommentar von Vyasa zu Sutra 4.34

Erläuterungen zu Vyasa

Vyasa war ein indischer Philosoph des 5. bzw. 6. Jahrhunderts nach Christi, der den ältesten überlieferten Kommentar zum Yogasutra des Patanjali schrieb. Der Text wird Yogabhashya (wörtlich "Kommentar (Bhashya) zur Yogaphilosophie") genannt und um 600 nach Christi datiert. Vyasas Kommentare zu den Sutras sind oftmals recht kurz.

Ohne Vyasas Kommentar wären viele Sutras heute fast unverständlich. Manche Gelehrte sagen, der Text ist erst durch den Kommentar wirklich „lesbar“.

Vyāsa war vielleicht/wahrscheinlich kein einzelner Autor, sondern ein Titel, der mehrere Kommentatoren der indischen Tradition umfasst. Die Stimme, die wir im Yogasutra-Kommentar hören, ist also vielleicht ein Chor.

Vyasas Yogabhashya wurde im 8./9. Jh. von Shankara (788–820 n. Chr, indischer Gelehrter, Vedanta-Philosoph, Begründer der Advaitavedānta-Tradition) kommentiert. Sein Kommentar nennt sich Yogabhashyavivarana, Vivarana ist ein Unterkommentar.

Auch Vachaspati Mishra hat einen frühen, berühmten Kommentar zum Yogasutra geschrieben. (Meine Quellen für diese Kommentare waren unterschiedliche Bücher und Webseiten, zum Beispiel Legget (siehe Literatur) und wisdomlib.org/hinduism/book/yoga-sutras-with-commentaries/). Ich gebe hier diese Kommentare in für mich relevanten Auszügen in Worten wieder, die für mich den Sinn in heutigen Worten am besten wiedergeben. Dies ist explizit kein Bemühen, die Originalkommentare wortgetreu wiederzugeben. Fehlinterpretationen sind natürlich in meiner Verantwortung.

Du siehst etwas anders, hast einen Fehler gefunden oder möchtest etwas ergänzen? Bitte schreibe dies unten bei "Ergänzungen von dir".

Die Kommentare von Vyasa, Mishra und Shankara sind oft wörtlich übersetzt worden, zum Beispiel bei den oben angegebenen Quellen.

Vyāsa beschreibt in seinem Kommentar zu dieser letzten Sutra des Yoga Sūtra, was geschieht, wenn der Weg des Bewusstseins vollendet ist. Seine Worte sind poetisch, manchmal verschachtelt – fast wie ein Echo aus einer anderen Denkzeit. Im Kern sagt er Folgendes:

Wenn die Natur ihre Arbeit getan hat

Vyāsa erklärt, dass die absolute Freiheit (Kaivalya) dann eintritt, wenn die Eigenschaften der Natur – die drei Gunas (Sattva, Rajas, Tamas) – ihre Aufgaben erfüllt haben. Diese „Aufgaben“ bestehen darin, dem Bewusstsein Erfahrungen zu ermöglichen: Freude, Schmerz, Klarheit, Verwirrung, Tun und Lassen.

Wenn das alles durchlaufen, erkannt, erschöpft ist, kommen die Gunas zur Ruhe. Ihre Natur ist „festgestellt“ – das bedeutet: Der Yogi erkennt, was sie sind und was sie nicht sind. Er weiß: Das bin nicht ich.

Die Gunas ziehen sich zurück – das ist Freiheit

Vyāsa sagt, dass die absolute Freiheit darin besteht, dass die Qualitäten in einen Zustand der Latenz übergehen, also in einen schlafenden, unaktiven Zustand. Er nennt das den „umgekehrten Prozess“ – Pratiprasava, das Zurückkehren der Schöpfung in ihren Ursprung.

Man kann es sich vorstellen wie das Zurückrollen einer Welle ins Meer: Was vorher Form, Bewegung, Drang war, wird wieder still und eins.

Wenn die Gunas nichts mehr für den Purusha – das reine Bewusstsein – zu tun haben, dann „verschwinden“ sie nicht im Sinne eines Verlusts, sondern sie fallen in ihren Ursprung zurück. Die Natur legt ihre Masken ab, das Bewusstsein bleibt nackt und unberührt.

Zwei Beschreibungen desselben Zustands

Vyāsa bietet zwei Weisen an, diesen Zustand zu beschreiben:

  1. Kaivalya als Verschwinden der Gunas – das Aufhören der Naturkräfte.

  2. Kaivalya als Macht des Bewusstseins, das in seiner eigenen Natur ruht.

Das ist kein Widerspruch. Es sind zwei Blickrichtungen derselben Befreiung:

- Von außen gesehen endet die Bewegung der Welt.
- Von innen gesehen bleibt das Bewusstsein – still, leuchtend, ohne Grenzen.

Was Vyāsa mit „Macht des Bewusstseins“ meint

Wenn Vyāsa schreibt, dass die „Macht des Bewusstseins absolut wird, wenn sie nicht mehr begrenzt ist“, dann spricht er vermutlich von Chiti-Śakti – der Energie des Bewusstseins selbst. Diese Kraft wirkt in uns, solange wir leben: Sie denkt, fühlt, erinnert, erkennt. Doch solange sie mit den Gunas verwoben ist, bleibt sie gebunden – sie ist „begrenzt“.

Sobald aber die Identifikation mit Körper, Geist und Sinneseindrücken aufhört, erkennt das Bewusstsein sich selbst als Ursprung dieser Kraft. Es ist dann nicht mehr in der Welt, sondern die Welt ist in ihm.

Ein Bild für dieses Phänomen

Stell dir vor, du hast dein ganzes Leben lang auf eine Leinwand geschaut – mit Farben, Formen, Geschichten, all den Bewegungen des Lebens. Und plötzlich merkst du: Ich bin nicht im Film. Ich bin der Raum, in dem der Film erscheint.

In diesem Moment ist keine Trennung mehr zwischen Zuschauer und Leinwand. Es gibt nur noch Bewusstsein, das sich seiner selbst bewusst ist. Das ist vermutlich das, was Vyāsa meint, wenn er sagt: „Die Macht des Bewusstseins ist absolut, wenn sie nicht mehr begrenzt ist.“

Zusatzgedanke – kleine Ironie des Yoga

Am Ende ist das, was Vyāsa beschreibt, kein „Ziel“, das man erreichen kann.
Denn wer sollte es erreichen?
Der Purusha war nie gebunden.
Die Natur hat nur getanzt, damit du das erkennst.

Das Spiel endet nicht tragisch, sondern mit einem Lächeln:
Die Tänzerin (Prakriti) hat ihren Tanz beendet –
und der Zeuge (Purusha) bleibt still sitzen, wissend: Es war immer ich, der geschaut hat.

Kurz gesagt:
Vyāsas Kommentar beschreibt das Ende der Bewegung der Welt im Bewusstsein.
Wenn alle Erfahrungen ihren Zweck erfüllt haben,
zieht sich die Natur zurück –
und das Bewusstsein steht in seiner eigenen, freien Natur.
Nicht mehr als jemand, sondern als das reine Sein selbst.

Tool: Der Pfad des Yogi in Richtung Kaivalya gemäß Yogasutra

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Der Weg zur Befreiung nach Patañjali

Dieses kleine Tool ist eine interaktive Zeitachse der acht Stufen des Yoga nach Patañjali – vom ethischen Fundament (Yama) bis zur Befreiung (Samādhi/Kaivalya). Der Klick auf eine Stufe zeigt kurze, prägnante Inhalte: Bedeutung, Praxisimpuls und ein passendes Sutra-Zitat.

Tippe oder klicke auf eine Stufe. Jede Station zeigt Bedeutung, Praxis und ein kurzes Zitat.

Yama – Ethische Grundhaltungen
Wie du in der Welt stehst: Ahimsā (Nicht-Verletzen), Satya (Wahrhaftigkeit), Asteya (Nicht-Stehlen), Brahmacharya (Maß), Aparigraha (Nicht-Anhaften).
Praxisimpuls: Wähle heute ein Yama und übe es bewusst – z. B. Ahimsā gegenüber dir selbst (sanft sprechen, Pausen erlauben).
„Diese Gelübde sind universell, unabhängig von Ort, Zeit und Umständen.“ (YS 2.31)
Tipp: Scrolle seitlich oder nutze die Pfeile, um den Yogaweg Schritt für Schritt zu entdecken.


Siehe auch folgende Sutras

Yoga Sutra I-3: Dann ruht der Wahrnehmende in seiner wahren Natur

Zur Sutra


Yoga Sutra IV-26: Dann neigt sich der Geist zur Unterscheidungskraft und richtet sich von selbst auf das Erreichen der Freiheit (kaivalya) aus

Zur Sutra


junger yogi rundbogen medi 1000

Fazit

Yogasutra 4.34 ist ein Finale, das den ganzen Weg des Yoga zusammenfasst: Wenn alle Gunas ihren Dienst beendet haben und ins Pratiprasava zurückfallen, erlebt der Yogi Kaivalya – die endgültige Selbstverwirklichung. Klassische Kommentatoren wie Vyāsa und Vācaspati schildern dies als „Die Gunas werden stillgelegt“, Bodhinatha modern als „permanenten Entfall der Prakriti“. Alle sind sich einig, dass in diesem Zustand nur noch ungeteiltes Bewusstsein existiert. Ob man dies nun dualistisch als das freie Purusha-Selbst deutet oder non-dual als die Erfassung der Leerheit aller Phänomene – das Ziel ist dieselbe Erfahrung der absoluten Befreiung (Kaivalya).

Auf der Seite Rainbowbody lesen wir würdige Schlussworte: „Ende des vierten und letzten Kapitels mit großer Dankbarkeit jenseits jedes Lobes an Sri Patanjali, der sich in reinem liebevollem Dienst die Mühe gemacht hat, die wahren zeitlosen Weisheitslehren des Yoga zu übermitteln.”

Ach, ergänzen wir doch noch aAbschließende Bemerkungen von G. Pradīpaka: „Die Zeit, die ich aufwenden musste, um diese Übersetzung [des Yogasutras] fertigzustellen, ist wirklich wahnsinnig ... Diese Schrift ist ein seltener Edelstein aus dem heiligen Felsen des göttlichen Wissens geschliffen. Grübeln Sie über ihre entscheidenden Lehren nach und erlangen Sie Kaivalya oder die endgültige Emanzipation. Wir sehen uns.

Ergänzungen und Fragen von dir zur Sutra

Ist etwas unklar geblieben? Kannst du etwas ergänzen oder korrigieren?

Der Stoff der Sutras ist für uns heutige Menschen nicht leicht zu verstehen. Ist im obigen Text irgendetwas nicht ganz klar geworden? Oder kannst du etwas verdeutlichen oder berichtigen? Eine eigene Erfahrung schildern ... Vielen Dank vorab für jeden entsprechenden Hinweis oder eine Anregung:

 

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Videos zu Sutra VI-34

Dharma Megha Samadhi und Kaivalya – Kommentar von Sukadev zu Yoga Sutra – Kap. 4, Vers 29 bis 34

Länge: 13 Minuten

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Einrichtung von Kaivalya – Kommentar von Anvita Dixit zu Yogasutra 4.34

Länge: 10 Minuten

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Video von Ahnand Krishna zur Sutra

Wer bin ich? Asha Nayaswami (Class 67) zu Sutra 4.24 bis 4.34

Länge: 95 Minuten

Youtube-Video

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Geschrieben von

Peter Bödeker
Peter Bödeker

Peter hat Volkswirtschaftslehre studiert und arbeitet seit seinem Berufseinstieg im Bereich Internet und Publizistik. Nach seiner Tätigkeit im Agenturbereich und im Finanzsektor ist er seit 2002 selbständig als Autor und Betreiber von Internetseiten. Als Vater von drei Kindern treibt er in seiner Freizeit gerne Sport, meditiert und geht seiner Leidenschaft für spannende Bücher und ebensolche Filme nach. Zum Yoga hat in seiner Studienzeit in Hamburg gefunden, seine ersten Lehrer waren Hubi und Clive Sheridan.

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