Yoga Sutra II-11: Die aktiven bzw. gröberen Formen (der Kleshas) werden durch Meditation überwunden
dhyāna heyāḥ tad-vṛttayaḥ
ध्यानहेयास्तद्वृत्तयः
Die vorige Sutra widmete sich der Auflösung subtilerer Probleme mittels der Rückführung zu deren Wurzel, hier gehen wir nun die gröberen Beschwernisse mittels Meditation an.
Inhalt: Yogasutra Kapitel 2, Vers 11
- Bedeutung und Übersetzung des verwendeten Sanskrits
- Übersetzungsvarianten und -hinweise (Quellen)
- Wo wir stehen
- Grob und subtil
- Die Segnungen der Meditation
- Die Gedankenwellen stoppen
- Der Prozess der Auflösung
- Siehe auch (Sutra mit ähnlichen bzw. ergänzenden Aussagen)
- Übung zu Yoga Sutra II-11
- Videos zu Sutra II-11
- Beliebt & gut bewertet: Bücher zum Yogasutra
Meditation fördert Gelassenheit und Heiterkeit
Bedeutung und Übersetzung des verwendeten Sanskrits
Zunächst hier die Übersetzungsmöglichkeiten für die einzelnen Worte, damit du die Übersetzung selbst für ein besseres Verständnis variieren kannst:
- Dhyana, Dhyâna = Meditation; Versenkung; von einigen hier auch als „Absorption“ übersetzt;
- Heyah, heyâh; heyâï = überwinden, überwältigen; fähig, vermieden zu werden; zu Vermeidendes; zu Überwindendes;
- Tad, tat = deren, dessen, diese;
- Vrtti, vṛtti, vritti = Wellen; Gedankenbewegungen; Muster; Drehungen; Bewegungen und Eintrübungen des Chitta; Geistes-Fluktuationen; Von einigen (z. B. Palm) an dieser Stelle auch als „subtile Kleshas“ übersetzt, im Sinne eines Rückbezugs auf die vorige Sutra;
- Tad–vrittayah = diese ... Modifikationen, Fluktuationen, Lebensäußerungen, Aktivitäten;
Übersetzungsvarianten und -hinweise (Quellen)
Hervorhebungen weisen auf Besonderheiten der jeweiligen Übersetzung hin. Übertragungen aus dem Englischen sind Eigenübersetzungen.
- Sukadev: „Die aktiven Formen [der Kleshas] können durch ...“
- Deshpande/Bäumer: „Die seelisch-geistigen Vorgänge, die von ihnen hervorgerufen werden ...“
- Dr. R. Steiner: „Versenkung (Dhyana) auf das zu Überwindende ...“
- Coster: „Das Wirksamwerden der Hindernisse ... durch Zielgerichtetheit der Gedanken ...“
- Feuerstein: „Das Fluktuieren dieser [Leid-Ursachen] ... kann mit Meditation ... überwunden werden.“
- R. Palm: „Ihre [der subtilen Plagen] Bewegungen ...“
- R. Sriram: „Die Aktivität dieser triebhaften Kräfte ...“
- Govindan: „Im aktiven Stadium werden diese Fluktuationen ...“
- Iyengar: „Die Schwankungen ... aufgrund von groben oder subtilen Leiden ...“
- Chip Hartranft: „In ihrer groben Form – als Bewusstseinsmuster – werden sie durch meditative Absorption unterdrückt.“
- R. Skuban: „... Meditation ... Sie überwindet die Identifikation mit den mentalen Mustern.“
- G. Pradīpaka: „Die (bedrückenden) Modifikationen (vṛttayaḥ) dieser (tad) [Kleshas] sind durch Meditation (dhyāna) aufzugeben oder zu entsagen (heyāḥ).“
- 12koerbe.de: „... durch Versenkung aufzuheben ...“;
- Hariharananda Aranya: „Ihre Existenzmittel [vermutlich im Sinne von Lebensgrundlagen] oder ihr groben Zustände sind durch Meditation vermeidbar.“
- I. K. Taimni: „Ihre aktiven Veränderungen sollen durch Meditation unterdrückt werden.“
- Vyasa Houston, Barbara Miller: „Man kann den Wendungen durch Meditation entkommen.“
- Swami Satchidananda: „Im aktiven Zustand können sie durch Meditation zerstört werden.“
- Swami Prabhavananda: „In ihrer voll entwickelten Form können sie durch Meditation überwunden werden.“
- Swami Vivekananda: „Durch Meditation sollen ihre (groben) Veränderungen verworfen werden.“
- Wim van den Dungen (buddhistischer Kommentar zum Yogasutra): „Die grobe Form dieser Leidursachen soll durch Kontemplation zurückgelassen werden.“
Zu den Quellen
Buchbesprechungen, Erläuterungen zur Auswahl der Übersetzungsvarianten und allgemeine Hinweise zur Sutraübersetzung findest du im zugehörigen Artikel. Hier nun die Kurzauflistung:
Bücher
- Mircea Eliade: Yoga – Unsterblichkeit und Freiheit
- Iyengar: Der Urquell des Yoga
- Deshpande/Bäumer: Die Wurzeln des Yoga
- Geraldine Coster: Yoga und Tiefenpsychologie
- R. Sriram: Von der Erkenntnis zur Befreiung – Das YogaSutra
- Govindan: Die Kriya Yoga Sutras des Patanjali
- Mallinson/Singleton: Roots of Yoga
- R. Palm: Der Yogaleitfaden des Patañjali
- T.K.V. Desikachar: Über Freiheit und Meditation | Das Yoga Sutra von Patanajali
- Feuerstein, Georg: Die Yoga Tradition (Amazon)
- Skuban, Ralph: Patanjalis Yogasutra (Amazon)
- Sri Swami Satchidananda: The Yoga Sutras of Patanjali (Amazon)
Internetseiten
- Internet-Übersetzung des Yogasutras auf Yoga-Vidya.de
- Zu den Sutras auf ashtangayoga.info
- Zu den Sutras auf 12koerebe.de
- Zu den Sutras auf vedanta-yoga.de
- Openland.de (mittlerweile offline)
- Zu www.bodhi.sofiatopia.org (nur noch als Buch)
- sanskrit-sanscrito.com (Sutras anscheinend entfernt)
- Zur Übersetzung von Chip Hartranft (PDF)
- Die Übersetzung von Hariharananda Aranya, I. K. Taimni, Vasa Houston, Barbara Miller, Swami Satchidananda, Swami Prabhavananda, Swami Vivekananda finden sich auf dieser Seite.
- Übersetzung von James Haughton Woods
Dein Übersetzungsvorschlag
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Wie würdest du diese Sutra übersetzen? Manchmal ergeben schon kleine Wortveränderungen ganz neue Aspekte. Trau dich ... :-)
Der Mensch leidet. Auch im "Glück". Eine Ursache sind die Kleshas
Wo wir stehen
Patanjali beginnt das zweite Kapitel im Yogasutra mit der Auflistung und (knappen) Erläuterung der Kleshas, der leidvollen Spannungen bzw. -Zustände – den Hindernissen auf dem Pfad des Yoga. Diese Kleshas sind (Sutra II-3):
- Unwissenheit [Avidya],
- Identifikation mit dem Ego [Asmita],
- Begierde [Raga],
- Abneigung [Dvesha] und
- (Todes-)Furcht [Abhiniveshah]
Unwissenheit wurde (Sutra II-4) als die Wurzel aller übrigen leidvollen Zustände gebrandmarkt.
Mit Sutra II-10 beginnt Patanjali mit seinen Ratschlägen zur Überwindung der Kleshas. Hier führt er dies fort und hebt die Bedeutung der Meditation hervor.
Grob und subtil
Patanjali teilt die Kleshas in grob und subtil ein. Mit grob sind laut Meinung eines Teiles der Kommentatoren besonders starke Bewegungen im Geist (Vrittis) gemeint. Gegen diese soll die Meditation – Dhyana – helfen.
Wim van den Dungen schreibt: „Die Ursachen des Leides haben zwei Formen: grob („sthûla“) und subtil („sûksma“). Ersteres [grob] sind die Schwankungen („vritti“, die Bewegungen der Gedanken im Geist), letzteres sind die ... Gedanken, die während der Einheitserfahrung (noch) vorhanden sind. Die ... [letzteren] werden durch den Prozess der samadhischen Innerlichkeit („pratiprasava“) zerstört, aber zuerst bekämpft der Yogi die grobe Form, die Schwankungen (Vrittis).“
Regelmäßig Meditierende verspüren oftmals mehr Freude im Leben
Die Segnungen der Meditation
Siehe zu Studien und weiteren Gründen für die Meditation den Artikel "Warum meditieren?":
Für die Überwindung der Kleshas scheinen mir zwei Wirkungen der Meditation von besonderer Bedeutsamkeit:
- Verbesserte Selbstwahrnehmung: Der Meditierende lernt seine Gedanken- und Gefühlswelt kennen
Ein beliebtes Studienobjekt von Meditationsstudien ist deren Auswirkung auf körperliche und geistige Selbstwahrnehmung. Beides wird gemäß vieler Forschungen durch Meditation geübt und gefördert.
und:
- Emotionale Selbstregulation und Gelassenheit
In psychologischen Studien wird ebenfalls immer wieder gerne untersucht, wie sich Menschen bei (psychischen) Problemen aus eigener Kraft wieder in einen neutralen oder erfreulichen Geisteszustand versetzen können (Selbstregulationsfähigkeit).
Meditation hat sich als günstig zur Schmerzregulation, bei Ängsten, depressiven Verstimmungen und Suchtverhalten gezeigt. Emotionen wie Wut, Eifersucht, Ekel oder alltägliche Sorgen verlieren bei Meditierenden an Intensität. Hieraus folgt eine gesteigerte Gelassenheit.
Man sieht: Auch moderne Studien belegen die Wirksamkeit der Meditation bei der Überwindung der Kleshas. Auf das Yogasutra bezogen könnte man zusammenfassen: Gesteigerte Selbsterkenntnis durch Meditation bekämpft viele Formen der Kleshas an der Wurzel, siehe Sutra II-10. Und die Gelassenheit durch die Meditation verhindert ebenfalls grundlegend, dass Kleshas die Herrschaft über unser Verhalten und unser Befinden übernehmen.
In diesem Sinne kann Meditation (als ununterbrochener Fluss der Konzentration auf ein Objekt) als wichtigstes Heilmittel zur Überwindung der Kleshas gesehen werden. Dies betont auch R. Steiner. Er rät zusätzlich, bei jedem „Erwachen“ eines Kleshas kurz innezuhalten und in sich hinein zu spüren. Wenn man sich dann vergegenwärtigt, dass in einem stets Freude und Gelassenheit vorhanden ist, unabhängig von dem, was sich da draußen gerade ereignet oder wie man sich in diesem Moment entscheidet, fände man schnell wieder zurück in die innere Mitte.
Und das Klesha wird im Keim erstickt, kein neues – eventuell unheilsames – Karma geschaffen.
Titelgraphik unsere Artikels "Gedanken in der Meditation"
Die Gedankenwellen stoppen
Wir können uns die Wirksamkeit der Meditation beim Überwinden der Kleshas auch noch auf anderem Wege erklären: In der Meditation müssen wir unsere Gedanken immer wieder stoppen und unseren Geist zur kontinuierlichen Wahrnehmung des Meditationsobjektes zurückführen (siehe Beitrag "Meditation lernen"). Mit jeder Meditation stärken wir unseren Gedankenwellen-Stopp-Muskel. Auch Kleshas entstehen aus Gedankenwellen. Daraus folgt: Unser in der Meditation gestärkte Geist kann die Klesha-Gedanken schneller und müheloser zum Verebben bringen.
Der Prozess der Auflösung
Wie schon in der Sutra zuvor beschrieben, hilft es bei der Überwindung vieler Formen der Kleshas, diese bis zu ihrer gedanklichen Wurzel zurückzuverfolgen, um dort den (gemäß Yogaphilosophie stets) zugrundeliegenden Irrtum bzw. die Verwechslung zu erkennen. Dieser Vorgang des „Gegen-Strömens“ kann auch als Meditation angesehen werden.
Skuban betont allerdings, dass dieses Verfolgen eines Kleshas bis zur Wurzel erst so etwas wie die Tablette gegen unser Leid wäre, das Leid an sich aber noch nicht an der Wurzel überwindet. Dies würde erst durch den „kompletten Yoga“, inklusive üben und loslassen – dem völligen Loslassen von allem – gelingen. Erst dann erreichen wir dauerhaft Kaivalya, die Befreiung.
Dein Feedback / deine offene Frage an den Text
Ist etwas unklar geblieben?
Der Stoff der Sutras ist für uns heutige Menschen nicht leicht zu verstehen. Ist im obigen Text irgendetwas nicht ganz klar geworden? Vielen Dank vorab für jeden entsprechenden Hinweis oder eine Anregung:
Siehe auch (Sutra mit ähnlichen bzw. ergänzenden Aussagen)
Yoga Sutra I-2: Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Bewegungen im Geist
Yogash citta–vritti–nirodhah
योगश्चित्तवृत्तिनिरोधः
Wenn ich festlegen müsste, welche Sutra die Bedeutsamste ist, dann würde ich diese wählen. Hier wird der Yogaweg in einem Satz zusammengefasst. Alle weiteren Sutras erläutern den Weg.
Auslegung und Deutung dieser Sutra erfolgt unterschiedlich. Lies hier, welche Prioritäten du gemäß der Sutras-Deuter bei deiner täglichen Praxis setzen solltest.
Vrittayah pañchatayyah klistâklistâh
वृत्तयः पञ्चतय्यः क्लिष्टाक्लिष्टाः
Ab dieser Sutra geht Patanjali ins Detail. Zunächst unterteilt er die Vrittis in schmerzhaft und nicht-schmerzhaft. Doch wo bleibt dabei die Freude?
Vitarka–vichâra-ânandâ-asmitâ-rupa-anugamât samprajñâtah
वितर्कविचारानन्दास्मितारुपानुगमात्संप्रज्ञातः
Es ist hochinteressant, wie (unterschiedlich) sich der Weg hin zum und der Entwicklungsverlauf im Samadhi vollzieht. Bei der Deutung von Sutra I-17 weisen die Übersetzungen jedoch deutliche Unterschiede auf. Was nicht verwundert, da wir in einen Bereich des Yoga vordringen, der erst nach langer Praxis erreicht wird: Samadhi. Zudem werden die Erfahrungen hier subjektiv durchlebt und können schwer in Worte gefasst werden.
Yoga Sutra III-2: Wenn so die Wahrnehmung gebündelt fließt, entsteht Dhyana (Meditation)
Tatra pratyaya-ikatānatā dhyānam
तत्र प्रत्ययैकतानता ध्यानम्
Übung zu Yoga Sutra II-11
Übungsvorschlag für die kommende Woche zu Sutra II-11:
Du kennst deine Kleshas, deine leidbringenden Hindernisse? Dann beobachte in dieser Woche, wie sich deine Kleshas durch bzw. in der Meditation abschwächen.
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Beliebt & gut bewertet: Bücher zum Yogasutra
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- Geschrieben von Peter Bödeker
- Zuletzt aktualisiert: 13. Dezember 2019