dṛṣṭa-anuśravika-viṣaya-vitṛṣṇasya vaśīkāra-saṁjṇā vairāgyam
दृष्टानुश्रविकविषयवितृष्णस्य वशीकारसञ्ज्ञा वैराग्यम्
In dieser Sutra beschreibt Patanjali den Endzustand des Übens der Nicht-Anhaftung. Interessant ist, dass viele Kommentatoren diese Sutra dahingehend auslegen, dass Patanjali hierbei auch das Begehren rein spiritueller Wonnezustände im Auge hatte. Sivananda hält (ein wenig) dagegen.
Müssen wir unseren Willen bemühen oder kommt die Freiheit durch das Yoga-Praktizieren quasi "von alleine"?
1. Bedeutung und Übersetzung des verwendeten Sanskrits
Zunächst hier die Übersetzungsmöglichkeiten für die einzelnen Worte, damit du die Übersetzung selbst für ein besseres Verständnis variieren kannst:
- Drishta, Drîshta = gesehen, sichtbar;
- Anushravika, ânushravika = gehört (von anderen), verheißen, enthüllt, gelernt;
- Vishaya = Objekte (der Erfahrung), Dinge, Phänomene;
- Vitrishna-sya, vitëæñasya = von dem, der aufgehört hat zu dürsten, der Durstlose, ohne Wollen oder Anhaftung, Durstlosigkeit;
- Vashikara-Samjna, vashîkâra–samjñâ, vaåîkâra saäjõâ = Bewusstsein vollkommener Beherrschung, im Gleichgewicht, Meisterung des Verständnis;
- Vairagyam, vairâgyam = Nichtanhaften, Losgelöstsein, leidenschaftslos, ohne Reaktion,
Zu den Quellen
Buchbesprechungen, Erläuterungen zur Auswahl der Übersetzungsvarianten und allgemeine Hinweise zur Sutraübersetzung findest du im zugehörigen Artikel. Hier nun die Kurzauflistung:
Bücher
- Mircea Eliade: Yoga – Unsterblichkeit und Freiheit
- Iyengar: Der Urquell des Yoga
- Deshpande/Bäumer: Die Wurzeln des Yoga
- Geraldine Coster: Yoga und Tiefenpsychologie
- R. Sriram: Von der Erkenntnis zur Befreiung – Das YogaSutra
- Govindan: Die Kriya Yoga Sutras des Patanjali
- Mallinson/Singleton: Roots of Yoga
- R. Palm: Der Yogaleitfaden des Patañjali
- T.K.V. Desikachar: Über Freiheit und Meditation | Das Yoga Sutra von Patanajali
- Feuerstein, Georg: Die Yoga Tradition (Amazon)
- Skuban, Ralph: Patanjalis Yogasutra (Amazon)
- Sri Swami Satchidananda: The Yoga Sutras of Patanjali (Amazon)
Internetseiten
- Internet-Übersetzung des Yogasutras auf Yoga-Vidya.de
- Zu den Sutras auf ashtangayoga.info
- Zu den Sutras auf 12koerebe.de
- Zu den Sutras auf vedanta-yoga.de
- Openland.de (mittlerweile offline)
- Zu www.bodhi.sofiatopia.org (buddhistische Kommentare zum Yogasutra nur noch als Buch)
- sanskrit-sanscrito.com (Sutras anscheinend entfernt)
- Zur Übersetzung von Chip Hartranft (PDF)
- Die Übersetzung von Hariharananda Aranya, I. K. Taimni, Vasa Houston, Barbara Miller, Swami Satchidananda, Swami Prabhavananda, Swami Vivekananda finden sich auf dieser Seite.
- Übersetzung von James Haughton Woods
- Rainbowbody.com (ausführliche und eigene Kommentierung)
Dein Übersetzungsvorschlag
Du findest die bisherigen LeserInnen-Übersetzungen und -Ergänzungen unten.
Hast du einen eigenen Übersetzungsvorschlag?
Wie würdest du diese Sutra übersetzen? Manchmal ergeben schon kleine Wortveränderungen ganz neue Aspekte. Trau dich ... :-)
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Antwort 1
Im Sein gefestigt handelt.
Antwort 2
Die Meisterschaft, die der Yogi erlangt hat, der jegliches Verlangen nach jeglichen Erfahrungen oder Vergnügen verloren hat, sei es mit physischen Sinnen wahrgenommen oder in der Tradition und in den heiligen Schriften (wie in den subtilen Welten) gehört, wird vairagya (Leidenschaftslosigkeit) genannt.
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[readmore: Mehr zu dieser Sutra]
3. Der Wille
Für Vairagya ist laut Patanjali gemäß der meisten Kommentatoren - zumindest am Anfang - Willenskraft vonnöten. Später, nach beharrlicher Bemühung, siehe die nächste Sutra I-16, kommt die gewünschte Geisteshaltung (mehr oder weniger) von alleine.
Dem Yogi ist es übrigens freigestellt, alle auch nicht-yogischen Techniken zum Erreichen der Nicht-Anhaftung zu nutzen. Im Yoga zählt lediglich das Resultat, es gibt kein "Stammesdünkel".
Wenn du eher dem Pfad des Bhakti-Yogas, der Hingabe, folgst, wirst du vermutlich weniger Willenskraft aufbringen müssen als im Raja-Yoga, bei dem die Willenskraft stärker zur Erlangung der Freiheit im Fokus steht.
4. Citta in Balance
Das hier beschriebene Nicht-Anhaften muss also zunächst mit Willenskraft geübt werden. So es sich fester und fester manifestiert, bringt es unseren Geist (=Citta) in ein Gleichgewicht. Nicht mehr hin- und hergerissen zu Wünschen nach diesem oder jenem. Das Citta kommt zur Ruhe und das wahre Selbst kann erkannt werden.
5. Sich von selbst auflösende Wünsche
Wir hatten in Sutra I-13 von Deshpande gehört: Wenn die Vrittis - die Bewegungen im Geist - eine Pause einlegen, nennt sich dies Sthiti - Ruhezustand. Deshpande betont, dass Sthiti in der Erscheinungswelt unbekannt ist, da es darin eine ununterbrochene Kontinuität von Ereignissen gibt. Sthiti gehört bereits einer anderen "Seinsordnung" an, das Bemühen um diese Pause der Ruhe wird "Übung oder Praxis" (Abhyasa) genannt.
Warum wiederhole ich das hier? Weil Deshpande davon ausgeht, dass ein immer längeres und konstantes Verweilen in diesen Sthitis direkt zu einem Abnehmen des Begehrens führt. Ohne - Erläuterung von mir - dass der Yogi diesen Verzicht dann noch zusätzlich willentlich erzwingen muss.
Deshpande definiert übrigens Vairagya als "Loslösung aus der Identifizierung mit den Vrittis".
6. Verzicht auf allen Ebenen
Es geht bei Vairagya also nicht um gelegentliche Askese, den Fastentag oder die Beschränkung auf zwei Glas Bier am Abend. Vielmehr ist eine Geisteshaltung das Ziel, welche das Verlangen nach sinnlichen Objekten oder den Versprechungen der spirituellen Offenbarungen abschreckt. Wohlgemerkt schreckt das Verlangen, nicht die Dinge an sich.
Sivananda hatte wohl einen ähnlichen Kompromiss im Sinne, als er dazu riet, durchaus weiterhin den Duft einer Blume genießen zu können, während man seine weltliche Aufgabe im Leben erfüllt ...
7. Motivation erhalten
Sukadev verweist darauf, dass Konsequenz im Bemühen um Verzicht den Weg erleichtert. Lieber mit kleinen Dingen beginnen, diese dann aber konsequent sein lassen. Zudem empfiehlt er zusätzlich, den eigenen Geist für das Durchhalten zu loben.
Gleichzeitig mahnt er, den eigenen Geist nicht zu überfordern, wenn der Beginn von Vairagya gut geklappt hat. Dann sollte man nicht gleich auf alles verzichten wollen. Irgendwann kommt es dadurch unweigerlich zu Rebellion des eigenen Unbewussten und man wird wieder weit zurückgeworfen. Hier muss jeder sich sensibel an jene Bemühung herantasten, die fordert aber nicht über-fordert.
8. Der Lohn
Manche betrachten Verzicht als das Zeichen eines reifen Geistes. Govindan beschreibt den Zustand so, dass in einem freien Geist die Dinge wie Wolken an einem vorüberziehen, ohne dass man danach haschen mag.
Govindan sagt als einer der wenigen relativ klar, dass Nicht-Anhaften nicht bedeutet, dass wir auf die jeweiligen Objekte verzichten müssen. Es geht (lediglich) um das Aufgeben des Begehrens nach diesen Objekten oder Zuständen. Er definiert Verlangen als "... sich vorzustellen, wie reizvoll eine Sache wäre, wenn man sie besitzen würde."
9. Grade der Nicht-Anhaftung
Nach Iyengar unterteilt sich Vairagya in fünf Stufen:
- Stufe I: Yatama: Kontrolle der Sinne
Den Sinnen wird abgewöhnt, an den wahrgenommenen Objekten Freude zu empfinden. Man muss die Sinne nacheinander bezwingen, nicht alle auf einmal. - Stufe II: Vyatireka - Kontrolle der Begierden
Der Geist soll so der Anziehungskraft des wahren Selbstes folgen können. - Stufe III: Meisterung des inneren Sinnes
Wenn die beiden vorhergehenden Stufen gemeistert sind, bleibt noch ein schwaches Begehren des inneren Sinnes (Ekendriya). Dies teilt in das Begehren nach äußeren Objekten und nach Selbstverwirklichung auf. Ersteres ist zu zügeln, damit Letzteres zum Tragen kommt. - Stufe IV: Vasikara
Alles Begehren ist überwunden, alle Sinne gebändigt. Der Yogi lässt nun auch den Wunsch nach geistigen Phantasien abklingen. - Stufe V: Paravairagya
Frei von Sattva, Rajas und Tamas nimmt sich der Yogi selbst und andere nicht mehr für wichtig.
10. Durchhalten!
Iyengar mahnt am Schluss der Besprechung dieser Sutra, nicht auf halber Strecke stehen zu bleiben. Er kenne viele, die zunächst wirksam Verzicht geübt haben und dann doch wieder den weltlichen Freuden verfallen sind. Er meint, Yoga könne als das Fliegen eines Vogels betrachtet werden, dass ja auch beider Flügel, Abhyasa (Übung) und Vairagya (Verzicht), bedarf.
10.1. Dein Feedback / deine offene Frage an den Text
Ist etwas unklar geblieben? Kannst du etwas ergänzen oder korrigieren?
Der Stoff der Sutras ist für uns heutige Menschen nicht leicht zu verstehen. Ist im obigen Text irgendetwas nicht ganz klar geworden? Oder kannst du etwas verdeutlichen oder berichtigen? Eine eigene Erfahrung schildern ... Vielen Dank vorab für jeden entsprechenden Hinweis oder eine Anregung:
10.2. Übung zu Yoga Sutra I-15
Übungsvorschlag für die kommende Woche:
Liste einige Objekte, Menschen oder Zustände auf, die du (immer noch :-) ) begehrst. Suche dir einen(!) Punkt deiner Liste aus (einen einfachen), bei dem du diese Woche Vairagya üben willst. Ziehe nach dieser Woche Bilanz, wie sich dieses Bemühen um Nicht-Wünschen nach diesem "Objekt oder Geisteszustand" ausgewirkt hat.
Dies könnte - ein beliebiges Beispiel - beim Joggen das Unterdrücken des Verlangens nach Erreichen einer bestimmten Zeit oder Strecke sein. Wie fühlt sich "reines Joggen" ohne inneren Wunsch nach einem bestimmten So-Soll-Das-Joggen-Sein an?
11. Verwandte Sutras
Yoga Sutra II-55: Dadurch wird die Beherrschung der Sinne gemeistert
Tataḥ paramā vaśyatendriyāṇām
ततः परमा वश्यतेन्द्रियाणाम्
„Wer seine Sinne beherrscht, dessen Weisheit schwankt nicht“, heißt es in der Bhagavad Gita. Wie erlangen wir diese Beherrschung? Die Kommentatoren zur Sutra geben Tipps zur Meisterschaft von Pratyahara.
In II-55 wird die Beherrschung der Sinne in Aussicht gestellt ► Was bedeutet „Beherrschung der Sinne“? ► Wie gelange ich dorthin? ► Übersetzungsalternativen ► Alte und neue Kommentare zum Thema ► Übungsvorschlag ► ...
svaviṣaya-asaṁprayoge cittasya svarūpānukāra-iv-endriyāṇāṁ pratyāhāraḥ
स्वविषयासम्प्रयोगे चित्तस्य स्वरूपानुकार इवेन्द्रियाणां प्रत्याहारः
Wir nähern uns dem Ende des 2. Kapitels des Yoga Sutra. Hier erläutert Patanjali in zwei Sutras Pratyahara, das „Zurückziehen der Sinne“, dem fünften Glied des Achtfachen Yoga-Pfades.
In II-54 wird Pratyahara eingeführt und erläutert ► Welche Sinne sind gemeint? ► Wie übe ich Pratyahara? ► Was sind die Früchte von Pratyahara? ► Übersetzungsalternativen ► aktuelle und frühe Kommentare zur Sutra ► ...
Yoga Sutra II-53: Und der Geist wird fähig zu tiefer Konzentration
Dharanasu cha yogyata manasah
धारणासु च योग्यता मनसः
Dharana, die Konzentration, ist eigentlich erst die übernächste (sechste) Stufe auf dem achtfachen Pfad des Ashtanga Yoga. Patanjali beschreibt aber schon hier die förderliche Wirkung der Atemberuhigung auf die Konzentrationsfähigkeit.
In II-53 schreibt Patanjali, dass Pranayama die Konzentration fördert ► Wie Pranayama den Geist zur Konzentration befähigt ► Übersetzungsalternativen ► Zusammenhang Gedanken und Atem ► Mit Pranayama zu den Jhanas (Vertiefungen der Meditation)
Yoga Sutra I-40: Wenn er das Ziel erreicht, ist er ein Meister vom Kleinsten bis zum Größten
Paramânu-parama-mahattvânto `sya vashikârah
परमाणु परममहत्त्वान्तोऽस्य वशीका
In dieser Sutra schreibt Patanjali, was passiert, wenn mit den Mitteln der Sutra I-33 bis I-39 die Hindernisse aus I-31 und I-32 überwunden sind. Wir erlangen Meisterschaft über alles! Doch der Teufel steckt im Detail: Auch hier deuten die Kommentatoren und Übersetzer den Vers bzw. die Meisterschaft recht unterschiedlich.
Yogângânushthânâd ashuddhi-kshaye jnâna-dîptir â viveka-khyâteh
योगाङ्गाऽनुष्ठानादशुद्धिक्षये ज्ञानदीप्तिराविवेकख्यातेः
Hier startet der Ashtanga Yoga im Yoga Sutra. Die zweite große Möglichkeit neben (oder ergänzend zu) dem Weg des Kriya Yoga; hin zum großen Ziel: der Erleuchtung. Ashtanga Yoga, so heißt es, sei gut geeignet für alle Menschen, die keine besonderen spirituellen Veranlagungen aufwiesen und darum den Weg des Übens gehen müssen. ;-)
Wichtig dabei: Alles Üben sollte auf eine ganz bestimmte Art und Weise erfolgen ...
12. Video zu Sutra I-15
Erfolg in der Meditation - die Sutras I-12 bis I-16.
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13.1. Alte Schriften auf Yoga-Welten.de
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- Yoga in der Bhagavad Gita – die bunte Vielfalt
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