meditation unterschiede kerzen 250jāti-lakṣaṇa-deśaiḥ anyatā-anavacchedāt tulyayoḥ tataḥ pratipattiḥ
जातिलक्षणदेशैरन्यतानवच्छेदात्तुल्ययोस्ततः प्रतिपत्तिः

Die gesteigerte Unterscheidungskraft befähigt den Yogi, Unterschiede zwischen zwei ähnlichen Dingen zu erkennen, auch wenn diese sich nicht durch Art, Merkmale oder Ort unterscheiden.

Inhalt: Yogasutra Kapitel 3, Vers bzw. Sutra 54

Kurz zusammengefasst

  • 🧘 Yogasutra III.54 – Feinsinn der Unterscheidung:
    Das Sutra beschreibt die Fähigkeit, zwei scheinbar identische Dinge auseinanderzuhalten – selbst wenn sie nach Art, Merkmal oder Ort nicht unterscheidbar sind. Es geht um ein tiefes, aus Meditation geborenes Unterscheidungswissen (pratipattiḥ).
  • 📜 Vyasa-Kommentar verständlich gemacht:
    Vyasa illustriert diese Fähigkeit mit greifbaren Beispielen: Zwei gleiche Gewürznelkenfrüchte können durch Raum-Zeit-Zusammenhänge unterschieden werden – aber nur von einem Yogi mit geschulter Wahrnehmung. Die Erkenntnis beruht nicht auf Äußerlichkeiten, sondern auf einem zeitlich-räumlichen Bewusstsein.
  • 🧠 Neurowissenschaftliche Studien bestätigen Wirkung:
    Moderne Studien zeigen, dass intensive Achtsamkeitspraxis die Fähigkeit zur feinen Differenzierung und zum bewussten Erkennen von Veränderungen deutlich verbessert – messbar im präfrontalen Cortex und in der Aktivität des Gehirns insgesamt.
  • 🧘 Praxisbezug in Meditation und Alltag:
    Das Sutra lässt sich durch Achtsamkeitsübungen im Alltag üben – z. B. durch das Erkennen subtiler Unterschiede im Atem, im Gespräch, im Reiz-Reaktions-Muster. Wer diese Fähigkeit entwickelt, handelt weniger automatisch und lebt bewusster.
  • 🔬 Philosophische Tiefe mit praktischer Relevanz:
    Die höchste Unterscheidung – zwischen dem wahren Selbst (Purusha) und dem wechselhaften Geist (Prakriti) – ist letztlich der Weg zur Befreiung (kaivalya).

Details und Erläuterungen zu allen Punkten im weiteren Artikel.

Bedeutung und Übersetzung des verwendeten Sanskrits

Hier sind zunächst die Übersetzungsmöglichkeiten für die einzelnen Wörter, damit du die Übersetzung selbst für ein besseres Verständnis anpassen kannst:

  • Jati, jâti = Klasse; Art; (durch) Geburt; Rang; Spezies (Mensch, Tier, Pflanze …); Kategorie; Geburt; Ursprung;
  • Lakshana; lakṣaṇa, laksana = Eigenschaft; Merkmal; Attribut; Charakteristik; Zeitfaktor; Bezeichner; Referent; Zeichen; Eigenschaft, woran etwas erkannt wird; Erscheinung; Markierung; Symbol;
  • Deshaih, deśa, desha = Ort; Position; Umgebung; Kontext; Platz, wo es wahrgenommen wird; durch Punkte;
  • Anyata; anyatâ = Trennung; Unterschied; Verschiedenheit; Entscheidung; Unterscheidungen;
  • Anavacchedat, anavac-chedât, anavacchedāt, anavaccheda = infolge der Abwesenheit von Definition; unbegrenzt; unendlich; grenzenlos; obwohl kein Bruch/Unterschied besteht; zusammenhängend;
  • Tulyayoh, tulyayoḥ = der zwei gleichen; über Gleiches; über Ähnliches; Gleichartigkeit; wegen der Ähnlichkeit;
  • Tatah, tataḥ = davon; daher; daraus;
  • Prati-pattih, pratipattiḥ = Verständnis; Verstehen; Wissen (des Unterschiedes); Erkenntnis; Einsicht; Feststellen; Erkennen; Wahrnehmung; Beobachtung;

Übersetzungsvarianten und -hinweise (Quellen)

Hervorhebungen weisen auf Besonderheiten der jeweiligen Übersetzung hin. Übertragungen aus dem Englischen sind Eigenübersetzungen.

  • Roots: „Infolgedessen entsteht die Wahrnehmung der Unterschiede zweier gleicher Dinge ...“
  • Sukadev: „... kommt ... Wissen um den Unterschied ... zwei ähnlichen Objekten ...“
  • Deshpande/Bäumer: „... zwischen zwei Dingen unterscheiden, die aufgrund von Gattung, Merkmal, Ort usw. gleich erscheinen.“
  • Dr. R. Steiner: „Daraus entsteht Wissen über Ähnliches ...“
  • Coster: „-“
  • Feuerstein: „... das sonst wegen Ähnlichkeit der Gattungsarten, Erscheinungen und Positionen ununterscheidbare als unterschiedlich wahr.“
  • R. Palm: „...auch wenn sie] nicht nach Art, Merkmal und Ort als verschieden bestimmbar [sind].“
  • R. Sriram: „Objekte, die wegen ihrer Ähnlichkeit zu anderen Objekten ... keine Unterschiede aufweisen, werden differenziert erkannt.“
  • Govindan: „... durch Unterschiede in ihrem Ursprung, ihren Merkmalen und ihrer Position..“
  • Iyengar: „Aufgrund dieses Wissens vermag der Yogi unfehlbar die Unterschiede zwischen gleichartigen Dingen zu erkennen ...“
  • Chip Hartranft: „... die durch Ähnlichkeiten in Herkunft, Merkmal oder Lage zusammenhängend erschienen.“
  • R. Skuban: „… die ansonsten nach Kategorie, Charakteristika und Ort nicht zu unterscheiden wären.“
  • T.K.V. Desikachar: „Diese höchste Klarheit ermöglicht es, deutlich die Verschiedenheit von Dingen zu erkennen, die scheinbar gleich sind ...“
  • G. Pradīpaka: „... gibt es eine klare Wahrnehmung (des Unterschieds) (pratipattiḥ) zwischen zwei gleich aussehenden Dingen (tulyayoḥ), ... d.h. deśa-- (deśaiḥ)||53|| ununterscheidbar (anavacchedāt) ist.“
  • 12koerbe.de (dort: 53): „durch Gattungen (Geburten), Merkmale und Orte ...“
  • Hariharananda Aranya: „Wenn Art, zeitlicher Charakter und Lage zweier verschiedener Dinge nicht zu unterscheiden sind, ....“
  • I. K. Taimni: „Daraus (Vivekajam’Jnanam) das Wissen um die Unterscheidung zwischen Gleichartigen, die ... unterschieden werden können.“
  • Vyasa Houston: „... weil sie nicht durch Kategorie, Potential und Position in ihrer Getrenntheit eingeschränkt sind.“
  • Barbara Miller: „Durch Unterscheidung begreift man Unterschiede ... die zwei scheinbar ähnliche Dinge unterscheiden.“
  • Swami Satchidananda: „... die sich in Art, Merkmalsausprägung und Position ähnlich sind, ununterscheidbar.“
  • Swami Prabhavananda: „So ist man in der Lage, zwischen zwei exakt ähnlichen Objekten zu unterscheiden ...“
  • Swami Vivekananda: „Diejenigen, die nicht durch Art, Zeichen und Ort unterschieden werden können ...“
  • Wim van den Dungen (buddhistischer Kommentar zum Yogasutra): „Daher das Bewusstsein für den Unterschied zwischen Gleichen, die normalerweise ... nicht unterschieden werden können.“
  • Rainbowbody: „Daher sind (tatah) Zeit oder Ort nur Platzhalter (jati-laksana-desair) - göttliche Torwächter - die das tiefe Mysterium offenbaren ....”

Zu den Quellen

Buchbesprechungen, Erläuterungen zur Auswahl der Übersetzungsvarianten und allgemeine Hinweise zur Sutraübersetzung findest du im zugehörigen Artikel. Hier nun die Kurzauflistung:

Bücher

Internetseiten

Weitere Quellen, z. B. zu aktuellen Studien, sind direkt im Text verlinkt.

Dein Übersetzungsvorschlag

Du findest die bisherigen LeserInnen-Übersetzungen und -Ergänzungen unten.

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Einordnung dieser Sutra im Yogasutra

Samyama ist die Schlüsselübung im dritten Kapitel des Yogasutra zum Erreichen der geistigen Kräfte. In den Sutras III-1 bis III-7 erläutert Patanjali zunächst, was Samyama ist: die Kombination aus

  • Dharana (Konzentration),
  • Dhyana (Meditation) und
  • Samadhi (Überbewusstsein).

In Sutra III-8 ergänzt er dann, dass der Yogi zur Erlangung der Erleuchtung über Samyama hinausgehen muss.

In den Sutras III-9 bis III-15 geht es weiter mit Erläuterungen, welche Wandlung der Geist (Chitta) vollziehen muss, um Samyama bis zur Perfektion ausüben zu können. Aufeinander aufbauend sind das die Stadien

  1. Nirodha-Parinama (Wandel durch Sammlung, einfache Konzentration),
  2. Samadhi-Parinama (Wandlung durch länger andauernde Konzentration) und
  3. Ekagrata-Parinama (Wandel/Transformation durch vollkommene Versenkung auf einen Punkt/ein Thema). 

Der notwendige Wandel des Geistes erfolgt nach und nach, ist keine sprunghafte Entwicklung.

In den Sutras III-16 bis III-49 macht Patanjali eine ganze Reihe von Vorschlägen, worauf man Samyama lenken könnte und welche Folgen (Siddhis = Kräfte, besondere Erkenntnisse) sich jeweils daraus ergeben.

In Sutra III-54 sagt Patanjali, dass der Yogi mittels starker Unterscheidungskraft (Viveka, in den Sutras zuvor beschrieben) auch Dinge unterscheiden kann, die auf den ersten Blick gleich sind.

Besondere Kräfte (Siddhis) mit Samyama erlangen

Besondere Kräfte (Siddhis) mit Samyama erlangen

Patanjalis Anleitungen zur Erlangung der Siddhis lauten generell, dass der Praktizierende Samyama gezielt auf ein Meditationsobjekt anwendet. Samyama ist die Verbindung aus anhaltender Konzentration, Meditation und schlussendlich Samadhi (Überbewusstsein) auf ein Objekt der Meditation. Skuban sieht den Vorgang von Samyama als “mentales Eindringen in ein Objekt, das den Übenden schließlich zu den feinstofflichsten Bereichen des Seins führt.” Dadurch werden die drei Eigenschaften (siehe Sutra III-13) eines Objektes voll erkannt. So wird das Objekt voll verstanden und über die Gunas auch beherrschbar. Alle Objekte sind nämlich laut Yogalehre Erscheinungsformen der drei Gunas, auch das Bewusstsein des Menschen. Der Yogi diszipliniert sein Bewusstsein und kann über bzw. in Samyama die Gunas auch außerhalb seines Bewusstseins beeinflussen oder verändern. So erklären sich gemäß Yogalehre die Siddhis. 

Vibhutis, der andere Name für die Siddhis, bedeutet wörtlich weg (vi) von den Elementen (bhutas) und steht damit laut einiger Kommentatoren auch für die Abwendung von der Identifikation mit den materiellen Grundlagen unseres Lebens, yogisch: Prakriti. Hin zur Erkenntnis unserer wahren Natur: Purusha.

Die Sutras III-16 bis III-49  nennen die Objekte, auf die ein Yogi seine Samyama-Konzentration legen sollte, um besondere Kräfte zu entfalten. Iyengar betont jedoch, dass diese Siddhis sich erst bei weit fortgeschrittenen Yoga-SchülerInnen zeigen.

Ergänzend: Lange Pranayama-Praxis soll spontane Siddhis triggern können. Gerade Wechselatmung über Monate hinweg wird in manchen Berichten als „geistöffnend“ beschrieben – mit plötzlichen Hörerlebnissen oder Visionen.

Was ist Samyama?

Was ist Samyama?

Samyama besteht aus drei Stufen: Dharana (Konzentration), Dhyana (Meditation) und Samadhi (Überbewusstsein). Nur die erste Stufe von Samyama, die Konzentration auf ein Objekt, lässt sich willentlich steuern. Die darauf aufbauenden Geisteszustände Dhyana (Meditation) und Samadhi (Überbewusstsein) müssen sich laut der meisten Kommentatoren des Yogasutras von alleine einstellen und werden durch lang anhaltende Konzentration und Beseitigung der Geisteshindernisse erlangt. Feuerstein bezeichnet Samyama als 'Bündelung' von Konzentration, Meditation und Samadhi. Du findest Samyama ausführlicher in den ersten Sutras des dritten Kapitels des Yogasutra hier auf yoga-welten.de besprochen. Siehe vor allem:

Yoga Sutra III-4: Die drei (Dhahrana, Dhyana, Samadhi) zusammen auf ein Objekt oder einen Ort angewendet wird Samyama genannt

Zur Sutra


Yoga Sutra III-5: Aus der Meisterung von Samyama entsteht vollkommenes Wissen über das Wahrgenommene

Zur Sutra


Yoga Sutra III-6: Der Fortschritt im Samyama erfolgt in Stufen

Zur Sutra


Voraussetzungen und Umgang mit den Siddhis

Empfehlungen zu Voraussetzungen und zum Umgang mit den Siddhis

Viele Kommentatoren empfehlen, mit den Siddhis sehr bewusst umzugehen. Folgendes wird oft geraten:

Wer sich den Siddhis zuwendet, sollte die Yamas und Niyamas in seinem Leben verwirklicht haben. Diese sind:

Die Yamas – Selbstkontrolle

  • Ahimsa – Gewaltlosigkeit
  • Satya – Wahrhaftigkeit
  • Asteya – Nicht-Stehlen
  • Brahmacharya – Wandel in Brahma / Selbstbeherrschung / Enthaltsamkeit
  • Aparigraha – Nicht-Greifen, Verzicht auf Gier

Niyamas – Verhaltensregeln

  • Saucha – Reinheit
  • Santosha – Zufriedenheit
  • Tapas – Selbstzucht
  • Svadhyaya – Selbststudium (Studium)
  • Ishvarapranidhana – Verehrung des Göttlichen

Siehe dazu die Erläuterungen in "Yamas und Niyamas im täglichen Leben".

Siddhis sollten nicht zum Vergnügen, zur Selbsterhöhung oder anderen ungünstigen, egoistischen Zielen angewendet werden. Vielmehr zeigen die Siddhis (so Iyengar und andere), dass die Yogapraxis “richtig angelegt” sei.

Selbstverständlich sollte man Siddhis auch nicht dazu nutzen, um jemand anderen damit zu schaden.

Stattdessen wird eher ein “Nicht-Beachten” der Siddhis angeraten, wenn diese sich denn zeigen sollten. Iyengar schreibt, (S. 244), die Übungen bei Auftreten der Siddhis mit Glauben und Begeisterung weiterzuentwickeln, die Siddhis aber mit völligem Gleichmut zu betrachten.

Dem Yogi wird also geraten, sich nicht auf die Siddhis einzulassen, sich nicht von ihnen “mitreissen zu lassen”, um sie nicht für eigenen selbstsüchtige Bedürfnisse zu verwenden, woraus späteres Leiden folgen würde. Stattdessen solle er/sie weiter auf dem Pfad der Befreiung zu wandeln und die Siddhis eher als Prüfung ansehen, ob man nicht doch noch - trotz fortgeschrittener yogischer Entwicklung - den Verlockungen der Dualität und des Ego-Daseins nachgibt.

Swami Sivananda sagt über Siddhis:

„Yoga ist nicht dazu da, Siddhis, Kräfte, zu erlangen. Wenn ein Yogaschüler die Versuchung verspürt, Siddhis zu erlangen, wird sein weiterer Fortschritt ernsthaft verzögert. Er hat den Weg verloren. Ein Yogi, der darauf konzentriert ist, höchsten Samadhi zu erreichen, muss Siddhis zurückweisen, wo auch immer sie auftauchen. Siddhis sind Einladungen von Devatas. Nur wenn man diese Siddhis zurückweisen kann, kann man Erfolg im Yoga erlangen.“

Im tibetischen Buddhismus werden vergleichbare Fähigkeiten „Shes-rab“ genannt. Auch dort: klare Intuition, inneres Sehen, spontane Einsicht – aber nie als Ziel, sondern als Prüfstein für Demut.

Missverständnisse rund um Siddhis

Die Aussicht auf übernatürliche Kräfte fasziniert viele – und genau darin liegen einige häufige Missverständnisse begründet. Ein Irrglaube besteht darin, dass Yoga hauptsächlich dazu diene, solche Siddhis zu erlangen. Tatsächlich betont die Tradition jedoch, dass Siddhis eher Nebenprodukte auf dem spirituellen Weg sind, nicht sein Zweck. Patanjali selbst stellt im unmittelbar folgenden Sutra klar, dass diese Fähigkeiten für einen im Samadhi befindlichen Geist Upasarga – also Störungen oder Ablenkungen – darstellen, auch wenn sie in einem nach außen gewandten Bewusstseinszustand als außergewöhnliche Errungenschaften erscheinen mögen. Yogameister wie Vyasa und später Vivekananda haben daher immer wieder gemahnt, die Siddhis nicht zu überschätzen: Sie seien wie Blüten am Wegesrand – schön und bemerkenswert, aber man sollte nicht vom Weg abkommen, um nur noch Blumen zu pflücken.

Ein weiteres Missverständnis liegt darin, jede ungewöhnliche innere Wahrnehmung sofort für eine echte siddhische Fähigkeit zu halten. Insbesondere wenn Übende beginnen, sich intensiv mit Meditation zu beschäftigen, können imaginäre Bilder, Lichterscheinungen oder akustische Phänomene auftauchen. Die Yoga-Tradition fordert hier Viveka, das unterscheidende Erkenntnisvermögen: Handelt es sich wirklich um eine valide intuitive Einsicht (Pratibha) oder nur um eine Wunschprojektion des Geistes? Echte spirituelle Intuition wird traditionell durch bestimmte Qualitäten kenntlich gemacht – sie geht einher mit tiefer innerer Stille, Klarheit und Gewissheit, ohne Aufregung oder Ego-Stolz. Hingegen sind halluzinatorische Erlebnisse oder irrige „Eingebungen“ oft dramatisch, emotional aufgeladen oder selbstbezogen. Es ist ein bekanntes Risiko, dass ein Yogi, der sich zu früh auf Siddhis fokussiert, Opfer von Täuschungen werden kann. Beispielsweise könnte man glauben, die Gedanken anderer lesen zu können, während man in Wirklichkeit eigenen Fantasien nachhängt.

Schließlich gibt es das Missverständnis, Siddhis seien ein Zeichen von Erleuchtung oder spiritueller Vollendung. Historische Berichte zeigen jedoch, dass auch wenig ethische oder unreife Personen zeitweise paranormale Fähigkeiten aufweisen konnten – was nicht mit wahrer Heiligkeit gleichzusetzen ist. Im Yoga wird daher gelehrt, die Siddhis weder zu verteufeln noch zu vergötzen. Sie dürfen auftauchen, doch der richtige Umgang ist entscheidend: Ein reifer Yogi nimmt sie wahr, schenkt ihnen aber wenig Bedeutung und bleibt dem höheren Ziel, Kaivalya (der völligen Befreiung), verpflichtet. Missverständnisse klären sich letztlich durch Erfahrung und Anleitung: In der traditionellen Guru-Schüler-Beziehung wurden auftauchende Siddhi-Erlebnisse vertraulich besprochen, um sicherzustellen, dass der Schüler nicht in Fallen wie Egoismus oder Ablenkung tappt. So soll auch der moderne Übende verstehen, dass Wunder im Yoga-Kontext Prüfsteine der Haltung sind – sie verlangen nach noch mehr Demut, Vairagya und Konzentration auf den eigentlichen Weg.

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Schlüsselbegriffe von Sutra 3.54

Im Original lautet das Sutra in Umschrift: jāti-lakṣaṇa-deśair anyatānavacchedāt tulyayoḥ tataḥ pratipattiḥ. Wichtige Sanskrit-Begriffe daraus sind unter anderem:

  • Jāti – Gattung oder Art, z. B. Spezies oder Kategorie
  • Lakṣaṇa – Kennzeichen oder Merkmal, die äußere Erscheinung
  • Deśa – Ort oder Position im Raum
  • Anyatā – Verschiedenheit, Unterschiedenheit (wörtlich „Andersartigkeit“)
  • Anavacchedāt – „nicht getrennt“ im Sinne von „ohne Abgrenzung“ oder Unterscheidbarkeit
  • Tulyayoḥ – „der beiden Gleichen“, also zweier ähnlicher Objekte
  • Pratipattiḥ – Erkenntnis, Verstehen oder „Durchschauen“

Zusammengesetzt ergibt sich die ungefähre Bedeutung: „Aus diesem (zuvor erlangten) unterscheidenden Wissen entsteht das Verständnis für den Unterschied zwischen zwei ähnlichen Objekten, die normalerweise durch Art, Merkmale oder Ort nicht zu unterscheiden sind.“ Anders formuliert: Die gesteigerte Unterscheidungskraft befähigt den Yogi, zwei Dinge auseinanderzuhalten, selbst wenn sie nach gewöhnlichen Maßstäben als identisch erscheinen. Das Wort tataḥ („daraus, dadurch“) verweist auf das vorherige Sutra 3.53: Dort erlangt der Yogi ein besonderes Wissen, geboren aus Viveka (Unterscheidungsvermögen), das die Grundlage für die in 3.54 beschriebene Fähigkeit bildet.

Viveka 2.0: Die Unterscheidungskraft wird feiner

Die Sutra zuvor erläuterte, dass wir durch tiefe Konzentration (Samyama) auf den gegenwärtigen Augenblick und seine Abfolge hohe Unterscheidungskraft (Viveka) erwerben. Wird diese weiter ausgebildet, kann der Yogi immer feiner unterscheiden. Auch wenn die Objekte/Verhältnisse sehr ähnlich sind.

Sich die Objekte nicht in

  • Art/Herkunft/Klasse
  • Merkmalen/Eigenschaften
  • Ort/Position

unterscheiden lassen. Sich Objekte/Gegebenheiten also sehr ähneln. Der Yogi erkennt trotzdem einen Unterschied, so denn einer vorhanden ist.

Hinweis: Auch wenn kein Unterschied erkennbar ist, so unterscheiden sich Objekte doch zumindest “von Moment zu Moment” (R. Palm, S. 191).

Ich denke, Hauptaussage dieser Sutra ist, dass Patanjali einem entwickelten Yogi ein sehr hohes Erkenntnisvermögen bescheinigt. Die Organe des Erkennens müssen ja sehr weit entwickelt sein, um die hier beschriebenen kaum vorhandenen Unterschiede erkennen zu können. Diese Sensibilität auf allen Sinnesebenen scheint mir damit ein charakteristisches Kennzeichen eines spirituell entwickelten Menschen zu sein.

Sukadev interpretiert dies (auch) als die Fähigkeit eines Yogis, vorurteilsfreier und mit höheren Freiheitsgraden zu (inter-)agieren.

R. Sriram sieht hier die “wirkliche Unterscheidungsfähigkeit” gemeint, die auch “merkmalfreie Dinge” unterscheiden bzw. auseinanderhalten kann.

Govindan zitiert Chapple und Viraj: “... dass ein yogin in der Lage ist, zwei identische Dinge auseinanderzuhalten, obwohl sie den gleichen Raum einnehmen – aber zu unterschiedlichen Zeiten”.

Klassische Kommentare und Beispiele

Klassische Yoga-Kommentatoren veranschaulichen diese Sutra-Lehre mit einprägsamen Beispielen aus dem Alltag. Üblicherweise unterscheiden wir Objekte durch ihre Art, ihre Merkmale oder ihren Standort. Ist etwas von anderer Art (jāti), sagen wir etwa: „Das eine ist eine Kuh, das andere ein Pferd.“ Gehören zwei Dinge zur selben Art, achten wir auf individuelle Merkmale (lakṣaṇa): „Diese zwei Kühe – die eine hat schwarze Augen, die andere auffällige Flecken.“ Und sollten auch die Merkmale nahezu gleich sein, bleibt oft noch die Position (deśa) als Anhaltspunkt: „Die Frucht hier vorne ist eine andere als die dort hinten.“


Zwei nahezu identischen Gewürznelken (Nelkenfrüchte)

Doch nun das Gedankenexperiment: Zwei Früchte liegen nebeneinander, gleicher Art, gleich aussehend, keine noch so feine Unterschiede in Farbe oder Form. Wenn jemand unbemerkt ihre Plätze tauscht, wäre ein gewöhnlicher Beobachter ratlos – man könnte nicht mehr erkennen, welche Frucht ursprünglich links oder rechts lag. Für einen yogischen Meister mit geschulter Unterscheidungskraft hingegen offenbart selbst dieses Versteckspiel noch einen Unterschied. In den Überlieferungen heißt es, ein solcher Yogi könne die vertauschten Objekte dennoch auseinanderhalten, da ihm winzigste Veränderungen auffallen. Der Yogi bemerkt etwa minimale Spuren des jeweiligen Zeitpunktes oder andere infinitesimale Unterschiede in der Beschaffenheit der Objekte, die für normale Sinne unzugänglich sind.

Was für uns wie zwei vollkommen identische Ringe wirkt – vertauscht und unvermeidbar verwechselt –, durchschaut der Yogi mit Leichtigkeit. Diese Fähigkeit wird ausdrücklich auf viveka-jñāna, das aus tiefer Meditation geborene Unterscheidungswissen, zurückgeführt und nicht etwa auf Magie. Patanjali erklärt im vorherigen Sutra, dass durch Samyama (die Kombination aus Konzentration, Meditation und Versenkung) auf die Abfolge von Augenblicken ein höheres Erkenntnisvermögen entsteht– daraus erwächst die hier beschriebene feinstoffliche Wahrnehmung.

Interessanterweise gilt diese Meisterschaft der Differenzierung im Yogasutra nicht bloß als kurioser Sinnestrick, sondern als Teilaspekt von der erhabenen Kräfte – dem Allwissen oder umfassenden Bewusstsein. In Sutra III.50 war von Sarvajña (Allwissenheit) die Rede; nun wird klar: Wer die feinsten Unterschiede in den Phänomenen wahrnehmen kann, erlangt damit einen Baustein jener vollständigen Erkenntnis. Die yogische Literatur deutet an, dass der Geist dadurch völlig eingestimmt auf die Wirklichkeit ist – nichts entgeht mehr der Bewusstheit des Yogi.

Wisse noch:

  • In der Samkhya-Philosophie gibt es kein Gotteskonzept. Unterscheidungskraft ist dort kein Gnadengeschenk, sondern eine geistige Fähigkeit, die jede:r entwickeln kann.
  • Viveka ist laut Shankara der erste Schritt zur Befreiung. In der Vedanta-Tradition ist viveka das Fundament jeder spirituellen Praxis – noch vor Ethik, Konzentration oder Hingabe.

Tiefere philosophische Deutung

Über das konkrete Sinnesphänomen hinaus sehen Philosophen der Yoga-Tradition in Sutra III.54 auch einen Fingerzeig auf die höchste aller Unterscheidungen.

Einige Lehrer interpretieren die „zwei ähnlichen Objekte“ allegorisch als Symbole für das wahre Selbst und das illusorische Selbst.

Gemeint sind damit der Purusha – das unveränderliche reine Bewusstsein – und Prakriti, verkörpert im individuellen Menschen, also unser Körper-Geist-Persönlichkeitskomplex. Auf den ersten Blick erscheinen sich transzendente Seele und individuelles Ego so ähnlich wie zwei identische Früchte – schließlich erleben wir unser Ego normalerweise als Selbst. Doch mit der in Sutra 3.53 erlangten erhöhten Intelligenz (viveka-khyāti) gewinnt der Yogi die Klarheit, diese beiden voneinander zu unterscheiden. Patanjali bietet somit die Möglichkeit, den Unterschied zwischen dem ewig gleichen Zuschauer (Purusha) und dem wandelbaren Schauspiel (die Eigenschaften von Körper und Geist) wirklich zu erkennen.

Wir Menschen neigen dazu, uns mit unserer momentanen Persönlichkeit voll zu identifizieren – wir glauben, das kleine Ich sei alles, was real ist. Das Yogasutra jedoch warnt: Diese Verwechslung ist eine Falle, aus der uns die geschulte Unterscheidungskraft befreien kann. In der klassischen Auslegung wird genau diese letztendliche Unterscheidung als Schlüssel zur Befreiung (moksha) betrachtet. Patanjali lehrt, dass die höchste Form von viveka darin besteht, das Unveränderliche von dem Veränderlichen zu scheiden. Wenn es dem Yogi gelingt, sogar den allerfeinsten Unterschied zwischen reinem Bewusstsein und dessen Reflexion im Geist auszumachen, erreicht er den Zustand völliger Freiheit, Kaivalya.

Diese letzte Erkenntnis – die Unterscheidung des Purusha von der reinsten Form der Materie (dem sattvigen Buddhi) – führt laut Yoga Darśana unmittelbar zur absoluten Unabhängigkeit des Geistes. Die beiden werden „gleichsam auf eine Stufe gestellt“ und das Selbst bleibt für sich allein, frei von aller Verstrickung. Anders gesagt:

Hat der Yogi diese Grenze durchschaut, gibt es nichts mehr, was ihn an Unwissenheit bindet.

Praxisnaher Einblick: wachere Sinne, klareres Selbst

Für uns heutige Praktizierende mag die in III.54 beschriebene Fähigkeit fast übermenschlich klingen. Doch die zugrundeliegende Idee – die Verfeinerung der Wahrnehmung – ist etwas, das man tatsächlich üben kann und sogar im Kleinen erfahren könnte. Viele Yoga- und Meditationsschüler berichten, dass sich mit fortschreitender Praxis ihre Sinneswahrnehmung schärft. Man beginnt, Nuancen wahrzunehmen: Geräusche, die vorher im Alltag untergingen; Stimmungen, die plötzlich klarer fühlbar sind; körperliche Empfindungen, die differenzierter wahrgenommen werden. In der Stille der Meditation merkt man vielleicht, dass kein Atemzug dem anderen gleicht, jeder Moment eine eigene Textur hat. Genau dieses wache Verweilen im Augenblick – voll konzentriert und doch entspannt – schult die innere Feinwahrnehmung.

Spannenderweise untermauert auch die moderne Wissenschaft solche Erfahrungen. In einer Studie etwa verbesserte ein mehrmonatiges intensives Meditationstraining die Fähigkeit der Teilnehmer, kleinste Unterschiede in visuellen Reizen zu erkennen; zugleich blieb ihre Aufmerksamkeit länger stabil. Mit anderen Worten: Geistestraining kann die sensorische Diskriminationsfähigkeit messbar erhöhen. Was die Yogis als siddhi (besondere Fähigkeit) beschreiben, ist zumindest ansatzweise im Labor nachvollziehbar – wenn auch ohne den spirituellen Kontext. Für uns könnte das heißen:

Achtsamkeit schult nicht nur den Geist, sie verfeinert auch die Sinne.

Wie aber fühlt sich diese höchste Unterscheidung an? Yogische Texte sprechen davon, dass es sich weniger um ein analytisches Denken als um ein intuitives Erkennen handelt. In Sutra III.55 wird das resultierende Wissen als transzendent (tāraka), alles umfassend und außerhalb der Zeit (akrama) beschrieben. Es ist, als würde man direkt die Essenz der Dinge wahrnehmen – ein spontanes Durchschauen der Wirklichkeit, ohne erst Informationen zusammensuchen zu müssen. Tatsächlich heißt es, dieses höchste Wissen sei nicht konstruiert, sondern aufgedeckt: Es enthüllt sich dem Geist, der gelernt hat, hinter die Oberfläche der Erscheinungen zu blicken.

Für den Yogi bedeutet das in der Praxis: Je aufmerksamer und feiner er die Welt erlebt, desto mehr lüftet sich der Schleier der Täuschung. Was dem ungeübten Auge als gleichförmig erschien, entpuppt sich bei näherer Wahrnehmung als unendlich reich an Unterschiedlichkeiten – und zugleich zeichnet sich hinter all dem Wandel etwas Zeitloses, Unveränderliches ab.

Paradox? Genau hierin liegt der tiefere Charme des Yogawegs. Indem man alles in seiner Einzigartigkeit erkennt, offenbart sich schließlich das Eine dahinter. Oder mit Patanjalis Worten:

Hat man alle Objekte bis in ihre feinsten Unterschiede durchschaut und als vergängliche Konstrukte entlarvt, tritt am Ende das ewige Bewusstsein zutage – das wahre Selbst, unverstellt und frei.

Wie du das Sutra III.54 in der Meditation üben kannst

(Spoiler: Es hat viel mit Hinsehen zu tun. Und noch mehr mit Nicht-Wegsehen.)

Dieses Sutra klingt erstmal wie ein Talent für Zauberkünstler: Zwei Dinge unterscheiden können, obwohl sie gleich aussehen, gleich gebaut sind und am selben Ort liegen. Klingt überirdisch – und doch ist genau das der Stoff, aus dem Bewusstseinsarbeit gemacht ist. Die gute Nachricht: Du musst nicht erst auf einem Berg sitzen, mit Turban und Schlangenflöte, um das zu üben. Dein Meditationskissen reicht völlig.

Voraussetzungen und Vorbereitungen für Samyama und Siddhis

Voraussetzungen für Samyama und Siddhis

Um Samyama – die kombinierte Praxis von Konzentration, Meditation und Versenkung – erfolgreich üben zu können, müssen bestimmte psychologische und spirituelle Voraussetzungen erfüllt sein. Einig sind sich die traditionellen wie modernen Lehrer, dass der Geist des Übenden ausreichend gereinigt und gesammelt sein muss. Das bedeutet: innere Stabilität, relative Gedankenstille und Freiheit von starken emotionalen Aufwallungen als Grundlage. Es bedarf eines Maßes an Konzentrationskraft, Achtsamkeit und Gelassenheit gegenüber Sinnesreizen, damit die Aufmerksamkeit vollständig nach innen gelenkt werden kann. Besonders hervorgehoben wird die Haltung der Nicht-Verhaftung (Vairagya): Der Yogi soll nicht mehr an gewöhnlichen Sinnesfreuden oder Erfolgserlebnissen hängen, sondern eine innere Unabhängigkeit davon kultiviert haben.

Darüber hinaus betont der yogische Weg, dass die grundlegenden Stufen des Achtgliedrigen Pfades gefestigt sein sollen, bevor man sich höheren Techniken wie Samyama widmet. Konkret bedeutet dies: Yama und Niyama – die ethischen Prinzipien und Selbstdisziplinen – sollten im Leben des Übenden verankert sein, um mentale Unruhe und konflikthafte Begierden zu minimieren. Die Praxis von Asana (Körperübungen) und Pranayama (Atemlenkung) baut Spannungen und Rastlosigkeit ab und stabilisiert Körper und Nerven, was indirekt dem Geist zugutekommt. Pratyahara, das systematische Zurückziehen der Sinne, ist ebenfalls eine entscheidende Vorstufe: Erst wenn die Aufmerksamkeit nicht mehr unwillkürlich von äußeren Eindrücken gesteuert wird, kann echte Konzentration nach innen entstehen. Diese Vorarbeiten schaffen den Nährboden, auf dem Samyama gedeihen kann. Ein Yogi, der Schritt für Schritt diesen Pfad gegangen ist, entwickelt die geistige Stärke und Reinheit, die nötig sind, um tiefe Versenkung zu erreichen – und in deren Folge können Siddhis überhaupt erst auftauchen.

Die Rolle von Entsagung und Ethik (Vairagya, Yama, Niyama)

Entsagung/Nichtanhaftung im Yoga, auf Sanskrit Vairagya, und die ethischen Richtlinien Yama und Niyama gehören zu den fundamentalsten Anforderungen, insbesondere wenn es um den Umgang mit Siddhis geht. Vairagya bedeutet ein inneres Losgelöstsein: der Übende übt sich darin, Verlangen und Anhaftungen aufzugeben – seien es sinnliche Genüsse, materielle Güter oder auch das Streben nach außergewöhnlichen Fähigkeiten. So kann der Yogi in die Tiefe von Samyama gelangen.

Die Geisteshaltung von Vairagya ist auch hilfreich dabei, dass aufkommende Siddhis den Yogi nicht verführen. Nur wer in Gleichmut gegenüber allen Phänomenen bleibt, kann übernatürliche Wahrnehmungen haben, ohne vom eigentlichen Pfad abzukommen. Patanjali nennt Vairagya nicht umsonst bereits im ersten Kapitel als Schlüssel zur geistigen Stille: Das fortwährende Loslassen verhindert, dass der Geist neue Wellen von Begierde und Ego-Stolz bildet.

Ergänzend dazu bilden Yama und Niyama das moralische Fundament. Die fünf Yamas – etwa Gewaltlosigkeit (Ahimsa), Wahrhaftigkeit (Satya) oder Nicht-Gier (Aparigraha) – und die fünf Niyamas – etwa Reinheit (Shaucha) und Selbststudium (Svadhyaya) – sorgen dafür, dass der Charakter und Lebenswandel des Yogis ethisch ausgerichtet sind. Warum ist das so wichtig in Bezug auf Siddhis? Zum einen reinigt moralisches Verhalten das Herz und mindert egoistische Tendenzen, was die Wahrscheinlichkeit von Missbrauch oder falscher Identifikation mit Kräften reduziert. Zum anderen stabilisieren Yama und Niyama den Geist: Ein Gewissen, das frei von Schuld und Zwiespalt ist, kommt leichter zur Ruhe. Traditionell heißt es, dass Siddhis nur einem Yogi dauerhaft und gefahrlos zufallen, der Tugend und Selbstbeherrschung verkörpert. Andernfalls können Machtgefühle, Hochmut oder unethische Versuchungen die Folge sein. Daher lehren die Yogameister, dass jede Erweiterung der Fähigkeiten mit entsprechender Demut und Verantwortungsbewusstsein einhergehen muss – Qualitäten, die durch die Befolgung von Yama und Niyama kultiviert werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Vairagya und die ethische Praxis sind Förderer und Schutzmechanismus auf dem Weg zur höheren Erkenntnis. Sie erleichtern das Eindringen in lang anhaltende innere Stille bei voller Bewusstheit und bewahren den Übenden davor, die Richtung zu verlieren, wenn Siddhis auftauchen. Ein Yogi, der Entsagung übt und ethisch gefestigt ist, wird die verfeinerten Sinneswahrnehmungen zwar registrieren, aber weder missbrauchen noch für wichtiger halten als das letztendliche Ziel – die Erkenntnis des wahren Selbst (Purusha) und die Befreiung.

Vorbereitende Techniken für Samyama und verfeinerte Wahrnehmung

Um den Geist auf Samyama und mögliche subtile Wahrnehmungen vorzubereiten, empfehlen Yogalehrer seit jeher verschiedene unterstützende Techniken. Insbesondere folgende Ansätze haben sich als hilfreich erwiesen:

  • Yama und Niyama hatten wir schon, empfohlen wird auch eine stabile und bequeme Sitzhaltung (Asana).
  • Pratyahara (Zurückziehen der Sinne): In dieser fünften Stufe des Raja Yoga lernt der Übende, die Aufmerksamkeit von äußeren Sinnesobjekten abzuziehen. Praktisch wird Pratyahara z.B. geübt, indem man sich in Entspannung auf innere Wahrnehmungen konzentriert und äußere Reize ausblendet – etwa durch Augen schließen, in Stille sitzen oder Visualisierungen. Dadurch werden die Sinne „nach innen gezogen“. Ein trainiertes Pratyahara ist die Voraussetzung dafür, dass in Samyama die verfeinerten, inneren Sinneswahrnehmungen auftauchen können. Erst wenn die gewöhnlichen Sinnesreize an Macht verlieren, entsteht Raum für das subtile innere Hören, Sehen etc.
  • Pranayama (Atemkontrolle): Gezielte Atemübungen beruhigen das Nervensystem und sammeln den Geist. Durch Regulierung (Patanjali nennt Verlängerung und Verfeinerung) des Atems – etwa mittels tiefer Bauchatmung, Wechselatmung (Nadi Shodhana) oder einfach nur der Verlängerung der Ausatmung – wird der Geist fokussiert und der Energiefluss harmonisiert. Patanjali selbst führt Pranayama als wichtige Vorstufe zu Dharana (Konzentration) an. Ein gleichmäßiger, feiner Atem fördert eine introvertierte Aufmerksamkeit und kann latente Energien (Prana) wecken. Insbesondere fortgeschrittene Pranayamas, die mit Konzentration auf Energiezentren (Chakras) verbunden sind, schulen die Wahrnehmung des inneren Raums. Dadurch wird der Yogi empfänglicher für subtile Empfindungen – eine essenzielle Vorbereitung, um in tiefere Meditation vorzudringen, wo sich Siddhis zeigen könnten.
  • Optional: Yoga Nidra (Yogischer Tiefenentspannungszustand): Yoga Nidra ist eine geführte Meditation, die den Körper in vollständige Entspannung versetzt, während der Geist hellwach bleibt. In diesem Schwebezustand zwischen Wachen und Schlaf treten Gehirnwellen auf, die für Aufnahmefähigkeit und Intuition förderlich sind. Die Praxis von Yoga Nidra hilft, unbewusste Verspannungen und mentale Blockaden abzubauen. Sie schult außerdem die Fähigkeit, bewusst ins Unterbewusstsein hineinzulauschen, ohne einzuschlafen. Diese Fertigkeit – entspannt und zugleich aufmerksam nach innen zu schauen – ist eine direkte Vorbereitung auf Samyama. Ein Yogi, der Yoga Nidra meistert, kann seine Aufmerksamkeit lange nach innen richten, was die Kontinuität von Dharana/Dhyana fördert. Zugleich fördert Yoga Nidra einen Zeuge-Geist („Sakshi-Bhava“), der Phänomene beobachten kann, ohne sich damit zu identifizieren – hilfreich, um etwaige Siddhi-Erfahrungen nüchtern zu betrachten. Hier findest du die konkrete Übungsanleitung.
  • Optional: Japa (Mantra-Wiederholung): Die Rezitation oder mentale Wiederholung eines Mantras gilt als eine der wirkungsvollsten Konzentrationshilfen. Durch Japa wird der rastlose Geist schrittweise beruhigt und auf einen Klang oder eine heilige Silbe ausgerichtet. Das kontinuierliche Wiederholen – ob laut, leise oder innerlich – bündelt die Gedankenströme und führt zu tiefer Meditation. In vielen Yoga-Traditionen heißt es, ein Mantra reinige den Geist und öffne das Herz. Praktisch bewirkt Japa, dass störende Gedanken in den Hintergrund treten und eine spirituelle Schwingung den Vordergrund einnimmt. Dies bereitet auf Samyama vor, indem das Mantra wie ein Anker für Dharana dient und nahtlos in Dhyana übergehen kann. Zudem kann intensives Mantra-Japa dazu führen, dass der Übende das Mantra schließlich innerlich „hört“, ohne aktives Tun – eine Form von subtiler Wahrnehmung, die als Siddhi betrachtet werden könnte (z.B. Nada-Anubhava, das innere Klang-Erlebnis). Selbst wenn solche Phänomene nicht explizit gesucht werden, stärkt Japa in jedem Fall die Konzentration, Hingabe und Vairagya. Diese Qualitäten schützen und begleiten den Yogi, falls sich verfeinerte Sinneswahrnehmungen einstellen.

Zusammengefasst dienen Pratyahara, Pranayama, Yoga Nidra und Japa als (nicht unbedingt notwendige aber) hilfreiche Bausteine in der Vorbereitung auf Samyama. Sie entwickeln die nötige geistige Disziplin, Sammlung und Reinheit, um die im Yoga-Sutra beschriebenen Fähigkeiten zu ermöglichen (garantieren aber deren Auftreten nicht). Gleichzeitig fördern sie die Haltung von Losgelöstheit und innerer Ruhe, sodass der Yogi bereit ist, Siddhis weder zu erzwingen noch zu fürchten, sondern sie im richtigen Geist zu integrieren. Jede dieser Techniken ist für sich schon eine wertvolle Übung; im Zusammenspiel ebnen sie den Weg zu den tieferen Erfahrungen des Yoga – bis hin zur Pratibha, dem aufblitzenden inneren Wissen, und darüber hinaus zum endgültigen Ziel des Yoga, der Verwirklichung des Selbst.

🌀 Samyama-Reife-Check

Samyama – die Kombination aus Konzentration, Meditation und tiefer Versenkung – ist eine hochentwickelte Praxis im Yoga. Doch ist sie für jeden und zu jeder Zeit sinnvoll? Mit diesem kurzen Selbsttest kannst du einschätzen, ob dein Geist bereit ist, sich auf diese subtile Form des inneren Forschens einzulassen.

So geht's: Beantworte die Fragen ehrlich und spontan. Am Ende erhältst du eine Einschätzung und eine Empfehlung für deinen nächsten Schritt.

1. Wie leicht fällt es dir, Gedanken im Geist kommen und gehen zu lassen, ohne ihnen zu folgen?





2. Wie sieht deine Meditationspraxis aktuell aus?





3. Wie reagierst du auf innere Unruhe oder Reizüberflutung?





4. Kannst du dich länger auf ein inneres Objekt (z. B. Atem, Mantra, Lichtpunkt) konzentrieren?





5. Wie gehst du mit spirituellen Erfahrungen um?





6. Hast du das Gefühl, dass deine spirituelle Praxis dich transformiert?





7. Wie reagierst du auf Stille?





Zeitleiste: Pfad zu Samyama und den Siddhis

Diese Zeitleiste zeigt dir die Stufen des Yogawegs, die nötig sind, um in den Zustand von Samyama zu kommen – und wie daraus Siddhis (verfeinerte Sinneswahrnehmungen) spontan entstehen können.

🪷 Yama & Niyama

Ethische Grundlagen & Selbstdisziplin: z. B. Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Reinheit. Sie bereiten deinen Geist auf Tiefe und Klarheit vor.

🧘 Asana

Stabiler, bequemer Sitz. Der Körper wird still, der Atem ruhig – beides ist nötig für längere innere Versenkung.

🌬️ Pranayama

Atemkontrolle als Brücke zur inneren Wahrnehmung, Pantanjali empfiehlt, Ausatmung und Einatmung und Anhalten zu verlängern und zu verfeinern. Dieses Pranayama beruhigt das Nervensystem und bereitet den Geist auf Fokus vor.

👁️ Pratyahara

Zurückziehen der Sinne. Der Blick geht nach innen. Die Außenwelt verliert an Bedeutung. Jetzt beginnt echte Sammlung.

🎯 Dharana

Konzentration auf ein Objekt (z. B. Licht, Atem, Mantra). Der Geist bleibt bei einem Punkt – erste Form von Meditation.

🧘‍♀️ Dhyana

Meditation. Der Fokus wird fließend, mühelos. Es gibt keine Unterbrechungen mehr – reines Verweilen im Beobachteten.

🌌 Samadhi

Verschmelzen mit dem Objekt. Kein „Ich meditiere“ mehr – nur noch reines Sein. Dies ist der Eingang in tiefe Einsicht.

✨ Übergang zu Samyama

Wenn Dharana, Dhyana und Samadhi auf dasselbe Objekt gerichtet sind – ohne Unterbrechung –, kann daraus Samyama entstehen. Dann ist der Geist hochfokussiert, durchlässig und empfänglich für tiefe, intuitive Erkenntnis.

🌟 Was entsteht daraus?

Spontan kann es geschehen, dass sich ein Siddhi zeigt, du z. B. feiner hörst, spürst, siehst – nicht mit den Sinnen, sondern von innen heraus. Denke immer daran: Siddhis sind kein Ziel, aber ein möglicher Meilenstein auf deinem Weg.

Patanjali nennt Samyama, die Kombination aus drei aufeinander aufbauenden inneren Praktiken:

  1. Dharana – gerichtete Aufmerksamkeit (Konzentration)
  2. Dhyana – fließende Meditation (Versenkung in das Objekt)
  3. Samadhi – vollständige Verschmelzung (Verschwinden der Trennung zwischen Beobachter und Objekt)

als Schlüsselübung zur Entfaltung der Siddhis in diesem dritten Kapitel des Yogasutras. Folgendermaßen könntest du nun üben:

Übung: Feinheit statt Drama

Setz dich in deine gewohnte Meditationshaltung. Augen schließen. Atmen. Nichts Besonderes.

Dann richte deine Aufmerksamkeit auf etwas, das auf den ersten Blick… völlig gleichförmig wirkt. Am besten: dein Atem.

Aber diesmal machst du kein „Ich-beobachte-meinen-Atem-und-bin-ganz-ruhig“-Programm. Du gehst in die Tiefe. Du versuchst, Unterschiede zu entdecken. Zwischen dem Einatmen und dem nächsten Einatmen. Zwischen dem Ausatmen und dem, was kurz danach geschieht.

Frage dich:

  • Ist jeder Atemzug wirklich gleich?
  • Wie fühlt sich das Einatmen in der linken Lunge an im Vergleich zur rechten?
  • Gibt es einen Unterschied zwischen dem ersten Ausatmen und dem vierten?

Klingt albern? Nur auf den ersten Blick. Denn was du da trainierst, ist genau das, worum’s in diesem Sutra geht: Pratipattiḥ – eine Wahrnehmung, die das vermeintlich Gleiche nicht einfach durchwinkt. Du beginnst, zu differenzieren, ohne zu analysieren. Das ist subtil. Und irgendwann bemerkst du vielleicht: Das „Immergleiche“ lebt. Kein Atemzug ist je wie der vorige.

In dieser meditativen Schulung von Unterscheidungskraft – der Fähigkeit, das Eine im Anderen zu erkennen – trainierst du nichts Geringeres als die Grundlage für innere Freiheit. Denn wer Unterschiede sieht, wo andere bloß „schon wieder dasselbe“ wahrnehmen, erkennt irgendwann auch: Ich bin nicht meine Gedanken. Ich bin nicht dieses Gefühl. Und: Ich bin nicht mein altes Muster.

Optional: mit Klang arbeiten

Statt Atem kannst du Klang nehmen. Eine Klangschale. Oder Naturgeräusche. Achte auf Nuancen: Woher kommt der Klang? Was ist das Erste, was du hörst? Und was bleibt übrig, wenn der Ton verklungen ist?

Je feiner deine Aufmerksamkeit wird, desto mehr wirst du erleben, dass es nie einfach nur ein Geräusch ist. Jedes hat seinen Charakter, seinen „Fingerabdruck“. Genau wie deine Gedanken, deine Impulse, deine Ängste. Und irgendwann wird klar: Wenn ich das wahrnehmen kann – bin ich es dann?

Wie du das Sutra im Alltag üben kannst

(Denn der Alltag ist eigentlich die beste Yogamatte.)

Jetzt mal ehrlich: Die meisten von uns sitzen keine sechs Stunden am Tag auf dem Kissen. Der Alltag ist die große Bühne – und dort kannst du dieses Sutra mindestens genauso gut trainieren. Sogar effektiver, weil das Leben dich nicht fragt, ob du bereit bist. Es wirft dir einfach einen „Test“ vor die Füße.

1. Unterscheide: Wiederholung oder wirklich neu?

Jeder Tag hat Routinen. Zähneputzen. Busfahren. Mails beantworten. Alles wirkt bekannt – und genau da wird’s spannend. Üb dich darin, in scheinbar Gleichem das Ungleiche zu erkennen.

Beispiel: Du sitzt in einem Meeting. Der Kollege bringt mal wieder dasselbe Argument. Statt zu denken „Boah, immer der gleiche Sermon“, horch hinein: Ist es wirklich gleich? Oder hat sich etwas verschoben? Die Tonlage? Der Blick? Deine eigene Reaktion?

Der Trick ist: Du trainierst deine Bewusstseinsmuskeln, ohne dass jemand davon etwas merkt. Du wirst stiller Beobachter – nicht passiv, sondern feinsinnig präsent. Und plötzlich eröffnen sich dir Details, die andere übersehen: Körpersprache, Untertöne, Pausen. Du beginnst, Dinge zu spüren, bevor sie gesagt werden.

2. Unterscheide dich selbst von dir selbst

Ein Widerspruch? Nein – ein Schlüssel. Wir alle sind voller Automatismen: Wenn A passiert, reagiere ich mit B. Dieses Sutra lädt dich ein, dich selbst zu beobachten, als wärst du zwei gleich wirkende Objekte.

Beispiel: Du bist zum dritten Mal in dieser Woche genervt vom Verkehr. Aber diesmal hältst du inne: Ist es dasselbe Genervtsein? Oder steckt diesmal eher Müdigkeit dahinter? Vielleicht eine andere Erwartung an den Tag?

Was du damit übst, ist Selbst-Bewusstheit, nicht Selbstoptimierung. Du trennst langsam, was aus Gewohnheit gleich erscheint, aber in Wahrheit aus verschiedenen inneren Quellen stammt. Das ist Viveka – die Unterscheidungskraft, die dich Stück für Stück freier macht.

3. Erkenne Muster – aber sei nicht ihr Sklave

Stell dir vor, du stehst jeden Morgen am gleichen Bahnsteig. Die Menschen scheinen dieselben, du denkst: „Alles wie immer.“ Und das ist der Moment, in dem das Sutra lebendig werden kann.

Was wäre, wenn du wirklich hinschaust? Wer hat heute ein anderes Tempo? Wer wirkt abwesender als gestern? Du musst nicht zum Sozialforscher mutieren. Aber du könntest beginnen, das Leben zu sehen, statt durch Routinen zu rauschen.

Und was bringt’s?

Nicht viel. Außer vielleicht…

  • feinere Wahrnehmung
  • subtileres Fühlen
  • ein geschulterer Geist
  • weniger Identifikation mit der eigenen Dramaserie
  • und irgendwann: eine verdammt klare Sicht auf das, was wirklich ist

Das ist keine esoterische Marotte. Es ist gelebter Yoga. Der Weg aus der Gleichmacherei des Denkens hin zu einer wachen, unterscheidenden Präsenz, die nicht nur auf dem Kissen sitzt, sondern auch am Schreibtisch, auf der Straße, im Gespräch – überall dort, wo du wirklich bist. Geistesschulung!

Und das ist das Faszinierende an diesem Sutra: Es wirkt leise. Es kommt unscheinbar daher. Aber wenn du es wirklich übst, verändert es deine Sicht – auf die Welt, auf andere, auf dich. Und irgendwann siehst du: Die Dinge sind nicht gleich. Nicht mal du bist gleich. Und das ist gut so.

Kommentar von Vyasa zu Sutra 3.54: über die Kunst, das Ähnliche zu unterscheiden

Erläuterungen zu Vyasa

Vyasa war ein indischer Philosoph des 5. bzw. 6. Jahrhunderts nach Christi, der den ältesten überlieferten Kommentar zum Yogasutra des Patanjali schrieb. Der Text wird Yogabhashya (wörtlich "Kommentar (Bhashya) zur Yogaphilosophie") genannt und um 600 nach Christi datiert. Vyasas Kommentare zu den Sutras sind oftmals recht kurz.

Ohne Vyasas Kommentar wären viele Sutras heute fast unverständlich. Manche Gelehrte sagen, der Text ist erst durch den Kommentar wirklich „lesbar“.

Vyāsa war vielleicht/wahrscheinlich kein einzelner Autor, sondern ein Titel, der mehrere Kommentatoren der indischen Tradition umfasst. Die Stimme, die wir im Yogasutra-Kommentar hören, ist also vielleicht ein Chor.

Vyasas Yogabhashya wurde im 8./9. Jh. von Shankara (788–820 n. Chr, indischer Gelehrter, Vedanta-Philosoph, Begründer der Advaitavedānta-Tradition) kommentiert. Sein Kommentar nennt sich Yogabhashyavivarana, Vivarana ist ein Unterkommentar.

Auch Vachaspati Mishra hat einen frühen, berühmten Kommentar zum Yogasutra geschrieben. (Meine Quellen für diese Kommentare waren unterschiedliche Bücher und Webseiten, zum Beispiel Legget (siehe Literatur) und wisdomlib.org/hinduism/book/yoga-sutras-with-commentaries/). Ich gebe hier diese Kommentare in für mich relevanten Auszügen in Worten wieder, die für mich den Sinn in heutigen Worten am besten wiedergeben. Dies ist explizit kein Bemühen, die Originalkommentare wortgetreu wiederzugeben. Fehlinterpretationen sind natürlich in meiner Verantwortung.

Du siehst etwas anders, hast einen Fehler gefunden oder möchtest etwas ergänzen? Bitte schreibe dies unten bei "Ergänzungen von dir".

Die Kommentare von Vyasa, Mishra und Shankara sind oft wörtlich übersetzt worden, zum Beispiel bei den oben angegebenen Quellen.

 

Vyasa, der älteste und einflussreichste Kommentator der Yogasutren, widmet diesem Sutra eine überraschend handfeste und beinahe alltagsnahe Betrachtung: Wie unterscheidet man zwei Dinge voneinander, die scheinbar gleich sind? Und was genau ist es, das unsere Wahrnehmung überhaupt dazu befähigt?

Er beginnt mit einem Denkspiel, das fast schon wie eine Übung für meditative Feinwahrnehmung wirkt:

„Stell dir zwei Dinge vor, die sich nach außen nicht unterscheiden: gleiche Art, gleiche Merkmale, gleicher Ort.“

Das ist der Prüfstein, an dem sich die Unterscheidungskraft (viveka) messen lässt. Und Vyasa bringt dafür klassische Beispiele aus dem Alltag:

  • 🐄 Beispiel 1: Zwei Tiere
    Wenn Gattung und Standort verschieden sind, ist die Unterscheidung leicht: „Das hier ist eine Kuh, das dort ist ein Pferd.“
  • 🐄 Beispiel 2: Zwei Kühe
    Wenn die Tiere am selben Ort stehen, aber unterschiedliche Merkmale haben – etwa eine Kuh mit schwarzen Augen und eine mit geflecktem Fell – unterscheiden wir sie anhand dieser qualitativen Unterschiede.
  • 🌸 Beispiel 3: Zwei gleich aussehende Blumen
    Wenn Gattung und Merkmale gleich sind, bleibt oft nur der Ort als Anhaltspunkt: „Diese Blüte ist die vordere, jene die hintere.“

Doch jetzt wird es subtil – und philosophisch interessant:

Was, wenn alles gleich ist?

Angenommen, jemand vertauscht zwei Gewürznelkenfrüchte, die zuvor deutlich getrennt lagen – die eine vorne, die andere hinten. Beide sehen gleich aus, sind am selben Ort. Und du hast in diesem Moment nicht hingeschaut.
Wie sollst du jetzt noch sagen, welche welche ist?

Vyasa sagt: Mit gewöhnlichen Mitteln – also Gattung, Merkmale oder Ort – geht es nicht mehr. Der Unterschied ist verloren.

Aber: Für den geschulten Geist eines Yogī ist dieser Unterschied nicht verloren. Denn dieser erkennt einen subtileren Aspekt der Realität: 🕰 Die Verbindung von Raum und Zeit.

Er sieht nicht nur „wo“ etwas ist – sondern auch „wann“ es dort war.

„Der Raum, in dem sich die vordere Frucht befand, war an einen anderen Zeitmoment gebunden als der der hinteren Frucht.“

Es ist nicht die Frucht selbst, die sich unterscheidet. Es ist ihr Verhältnis zur Abfolge der Zeit, das sich verändert hat. Ein feiner, aber entscheidender Unterschied – einer, den nur ein Geist erkennt, der tief in die Struktur der Erscheinungen geschaut hat.

Das gleiche Prinzip – bei Atomen

Vyasa überträgt dieses Modell sogar auf Atome – also auf die feinsten Bausteine der Materie (aus Sicht der altindischen Philosophie). Selbst wenn zwei Atome identisch erscheinen, können sie unterschieden werden – durch ihre zeitlich-räumliche Position, also durch das, was er den „sequentiellen Begriff von Raum und Zeit“ nennt.

Man könnte fast sagen: Was für die moderne Physik die Raum-Zeit-Krümmung ist, ist für Vyasa das Mittel zur geistigen Durchdringung der Welt – allerdings nicht durch Messgeräte, sondern durch innere Schau.

Alternative Sicht: Die feinstofflichen Unterschiede

Nicht alle sehen das so subtil. Vyasa erwähnt auch eine andere Sichtweise – aus der Schule der Vaiśeṣika-Philosophie: Manche behaupten, dass alles durch viśeṣa, also feinstoffliche Unterschiede, getrennt sei – durch minimale Unterschiede in Form, Ort, Entfernung oder Gattung. Diese seien objektiv vorhanden, auch wenn wir sie nicht erkennen können.

Vyasa geht noch einen Schritt weiter. Für ihn liegt der Schlüssel in einer geistigen Unterscheidungskraft, die sich nicht auf äußere Merkmale verlässt, sondern den Verlauf der Zeit durchdringen kann. Und diesen Zugang hält er – mit Nachdruck – für ausschließlich dem Yogi vorbehalten, der durch tiefes Samyama (Konzentration, Meditation, Versenkung) Zugang zu diesem Wissen erhält.

Mehr zu: Neurowissenschaft und Yogasutra III.54: Eine spannende Brücke

Was Patanjali in Sutra III.54 beschreibt – die Fähigkeit, feinste Unterschiede zu erkennen, wo für gewöhnliche Augen nichts als Gleichheit herrscht – ist längst nicht mehr nur spirituelles Ideal. Die moderne Neurowissenschaft liefert Hinweise darauf, dass genau diese differenzierende Klarheit durch Meditation auch physiologisch nachweisbar ist.

In einer wegweisenden Studie von Davidson et al. (2003), veröffentlicht in Psychosomatic Medicine, wurde untersucht, wie sich achtsamkeitsbasierte Meditation auf das Gehirn und das Immunsystem auswirkt. Die Ergebnisse zeigten: Bereits nach acht Wochen intensiver Achtsamkeitspraxis zeigte sich eine erhöhte Aktivität im linken präfrontalen Cortex – jenem Hirnareal, das für Bewertung, bewusste Reaktion und feinsinnige Entscheidungsprozesse zuständig ist.

Was heißt das konkret?
Dass durch regelmäßige meditative Praxis die kognitive Unterscheidungsfähigkeit messbar zunimmt. Also genau das, worauf Patanjali mit dem Begriff pratipattiḥ abzielt: die Schulung eines Geistes, der nicht alles über einen Kamm schert, sondern die Unterschiede erkennt, fühlt – und nicht vorschnell bewertet. Ein Geist, der Nuancen nicht übersieht, sondern durch sie hindurch sieht.

Weitere Studien

Weitere relevante, wissenschaftlich fundierte Studien, die sich direkt oder indirekt auf das beziehen, was Yogasutra III.54 beschreibt: nämlich die geschulte Fähigkeit zur feinen Unterscheidung, zu bewusster Wahrnehmung, zu Differenzierung jenseits der Oberfläche.

🧠 Verbesserte sensorische Differenzierung durch Meditation

Studie: MacLean, K. A., Ferrer, E., Aichele, S. R., et al. (2010)
Titel: Intensive Meditation Training Improves Perceptual Discrimination and Sustained Attention
Veröffentlicht in: Psychological Science, 21(6), 829–839
DOI:10.1177/0956797610371339

Ergebnis:
Teilnehmende eines dreimonatigen, intensiven Meditationsretreats konnten feinere visuelle Reize besser unterscheiden und ihre Aufmerksamkeit über längere Zeit stabil halten – im Vergleich zu einer Kontrollgruppe.

Relevanz für Yogasutra III.54:
Zeigt deutlich, dass langes, systematisches Training des Geistes nicht nur die Aufmerksamkeit schult, sondern auch die Fähigkeit, Unterschiede zu erkennen, wo andere nichts Besonderes sehen. Die Autoren sprechen von einer "steigenden Sensitivität für subtile sensorische Information" – also genau das, was im Sutra als pratipattiḥ angedeutet wird.

🧠 Achtsamkeit verändert die „Default-Modus“-Vernetzung im Gehirn

Studie: Brewer, J. A., Worhunsky, P. D., Gray, J. R., et al. (2011)
Titel: Meditation Experience is Associated with Differences in Default Mode Network Activity and Connectivity
Veröffentlicht in: PNAS, 108(50), 20254–20259
DOI:10.1073/pnas.1112029108

Ergebnis:
Erfahrene Meditierende zeigen eine verminderte Aktivität im „Default Mode Network“ (DMN) – jenem Hirnnetzwerk, das für automatisches Denken, Selbstbezogenheit und Tagträumen verantwortlich ist. Stattdessen zeigen sie erhöhte Gegenwartsbezogenheit und differenzierte Wahrnehmung von inneren Zuständen.

Relevanz:
Patanjali spricht von einem Geist, der sich aus den Mustern der Gewohnheit herauslöst und beginnt, subtilere Unterschiede zu erkennen. Diese Studie liefert die neurologische Basis dafür: Die automatische Gleichmacherei des Geistes wird reduziert.

🧠 Achtsamkeit stärkt metakognitive Selbstwahrnehmung

Studie: Allen, M., Smallwood, J., Christensen, J., Gramm, D., Rasmussen, B., Jensen, C. G. et al. (2013). The Balanced Mind: The Variability of Task-Unrelated Thoughts Predicts Error Monitoring. Frontiers in Human Neuroscience, 7:743.
DOI: 10.3389/fnhum.2013.00743

Ergebnis:
Menschen, die durch Meditation geschult sind, berichten nicht nur von reduzierter Zerstreutheit, sondern auch von einer erhöhten Fähigkeit, eigene Gedanken zu erkennen und voneinander zu unterscheiden, ohne sich mit ihnen zu identifizieren.

Relevanz:
Diese metakognitive Klarheit ist das psychologische Pendant zu Patanjalis viveka-khyāti: Das Erkennen, dass ein Gedanke ein Gedanke ist – und nicht du selbst. Die feine Unterscheidung zwischen Inhalt und Beobachter, zwischen Form und Essenz.

🧠 Trainierbarkeit der Unterscheidung zwischen Emotionen

Farb, N. A. S., Anderson, A. K., Mayberg, H., Bean, J., McKeon, D. & Segal, Z. V. (2010). Minding One’s Emotions: Mindfulness Training Alters the Neural Expression of Sadness. Emotion, 10(1), 25–33.
DOI: 10.1037/a0017151
Zugriff: PMC5017873 – Volltext auf PubMed Central verfügbar

Ergebnis:
Nach einem achtwöchigen MBSR-Kurs (Mindfulness-Based Stress Reduction) konnten Teilnehmende traurige Gedanken und emotionale Zustände differenzierter erleben, ohne sich darin zu verlieren. Die Aktivierungsmuster im Gehirn verschoben sich zugunsten von Regionen, die mit wahrnehmender Distanz verbunden sind.

Relevanz:
Patanjali spricht von der Fähigkeit, tulya-jāti-lakṣaṇa-deśaḥ zu durchschauen – selbst ähnliche Erscheinungen klar voneinander zu unterscheiden. Diese Studie zeigt: Auch auf emotionaler Ebene wird diese feine Differenzierungsfähigkeit trainierbar.

📚 Fazit: Wissenschaft und Sutra – kein Gegensatz

Diese Studien deuten auf folgendes hin: Was im Yogasutra III.54 fast wie eine übernatürliche Fähigkeit klingt, lässt sich in der Sprache der Neurowissenschaft als trainierbare mentale Differenzierung beschreiben. Ein Geist, der lernt, Unterschiede zu erkennen, statt alles in Schubladen zu packen, verändert nicht nur seine Wahrnehmung – sondern auch sein Selbstbild, seine Beziehung zu Emotionen und letztlich seine Freiheit.

Quintessenz

Sutra III.54 mag auf den ersten Blick „nur“ eine mystische Fähigkeit beschreiben, doch eigentlich lehrt es den unschätzbaren Wert der Unterscheidungskraft auf dem spirituellen Weg. Für Yoga-Lehrende und -Praktizierende ist dies eine Erinnerung, sowohl im Alltag die Details achtsam wahrzunehmen als auch in der Innenschau sorgfältig zwischen dem Vergänglichen und dem Ewigen zu differenzieren. Die Viveka-Kraft wächst mit der Übung – und mit ihr wächst das Verständnis der Welt und des Selbst in all ihren Facetten.

Allgemeiner Übungsvorschlag zu Sutra III-54

Achte diese Woche im Alltag auf Dinge oder Phänomene, die scheinbar sehr ähnlich sind, auf eine bewusst deutliche und unterscheidende Wahrnehmung.

Meine Erkenntnisse/Erfahrungen bei/mit dieser Übung

... oder kannst du eine andere Übung zum besseren Verständnis bzw. zum Erfahren dieser Sutra ergänzen?

 

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Ergänzungen und Fragen von dir zur Sutra

Ist etwas unklar geblieben? Kannst du etwas ergänzen oder korrigieren?

Der Stoff der Sutras ist für uns heutige Menschen nicht leicht zu verstehen. Ist im obigen Text irgendetwas nicht ganz klar geworden? Oder kannst du etwas verdeutlichen oder berichtigen? Eine eigene Erfahrung schildern ... Vielen Dank vorab für jeden entsprechenden Hinweis oder eine Anregung:

 

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Videos zu Sutra III-54

Unterscheidungskraft kultivieren - Samyama auf den Moment – Kommentar von Sukadev zu Yoga Sutra – Kap. 3, Vers 53 und 54

Länge: 6 Minuten

Youtube-Video

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Zeit transzendieren – Kommentar von Anvita Dixit zu Yogasutra 3.54 (bei ihr Sutra 3.53)

Länge: 13 Minuten

Youtube-Video

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Video von Ahnand Krishna zur Sutra

Kräfte von Samyama, Class 62: Asha Nayaswami zu Sutra 3:53-4.1

Länge: 74 Minuten

Youtube-Video

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Geschrieben von

Peter Bödeker
Peter Bödeker

Peter hat Volkswirtschaftslehre studiert und arbeitet seit seinem Berufseinstieg im Bereich Internet und Publizistik. Nach seiner Tätigkeit im Agenturbereich und im Finanzsektor ist er seit 2002 selbständig als Autor und Betreiber von Internetseiten. Als Vater von drei Kindern treibt er in seiner Freizeit gerne Sport, meditiert und geht seiner Leidenschaft für spannende Bücher und ebensolche Filme nach. Zum Yoga hat in seiner Studienzeit in Hamburg gefunden, seine ersten Lehrer waren Hubi und Clive Sheridan.

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