târakaä sarva-viæayaä sarvathâ-viæayam akramam ceti vivekajaä jõânam
तारकं सर्वविषयं सर्वथाविषयमक्रमं चेति विवेकजं ज्ञानम्
Dieser Artikel bietet dir nicht nur eine philosophische Beschreibung von Yogasutra 3.55, sondern öffnet ein Fenster in die unmittelbare Erfahrung von Unterscheidungskraft, Zeitlosigkeit und innerer Klarheit. Du bekommst klassische Interpretationen und moderne Reflexionen, praktische Übungen für Meditation und Alltag.
Kurz zusammengefasst
- Viveka‑Khyāti – Das höchste Unterscheidungswissen zwischen dem ewigen Selbst und der vergänglichen Welt geschieht nicht sequenziell, sondern im Moment, unmittelbar erkennend.
- Intuition statt Belehrung – Vyasa betont, dieses Wissen entsteht nicht durch äußere Lehre, sondern durch innere Einsicht aus geübter Praxis.
- All‑Umfang – Es umfasst alle Bedingungen und Erscheinungsformen der gesamten Wirklichkeit, nichts bleibt ausgespart oder unverstanden.
- Jenseits linearer Zeit – Das Bewusstsein wirkt ohne Abfolge, indem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem einzelnen, simultanen Erlebnis verschmelzen.
- Praxisbezug Samyama – Durch gezielte Meditation (Konzentration → Versenkung → Verschmelzung) lässt sich Samyama als Zugang zum nicht‑sequenziellen Erkennen schrittweise erfahren.
- Alltagsintegration – Achtsamkeit und weite Wahrnehmung im Alltag (z. B. Wahrnehmen vieler Sinneseindrücke zugleich oder emotionale Beobachtung) stärken Unterscheidungskraft und Gelassenheit.
- Psychologische Resonanzräume – Studien zeigen, dass Achtsamkeit die subjektive Zeit dehnt und eine erweiterte Gegenwartserfahrung ermöglicht, was einen Ansatzpunkt für die Erfahrung von akrama bieten kann.
Details und Erläuterungen zu allen Punkten im weiteren Artikel.
Bedeutung und Übersetzung des verwendeten Sanskrits
Hier sind zunächst die Übersetzungsmöglichkeiten für die einzelnen Wörter, damit du die Übersetzung selbst für ein besseres Verständnis anpassen kannst:
- Târakam, tāraka = transzendent; das, was zum Überqueren hilft; transzendieren; hinübertragen; überstrahlen; erlösen; befreiend; ungebunden; sternartig; kristallklar; zum Überschreiten befähigen; rettend;
- Sarva = alle; alles;
- Visaya, viṣaya = Objekt; etwas mit Sinnen Wahrnehmbares; Zustand;
- Sarvatha, sarvathā = auf alle Weisen; zu allen Zeiten; gänzlich; in jeder Hinsicht; jederzeit;
- Sarvatha-Vishayam, sarvathâ–vishayam = allen Objekten zu jeder Zeit und in jedem Raum angehörend; alle Objekte gleichzeitig erkennend; ohne zeitliche Abfolge;
- Akramam, akrama, akra-mam = ungeordnet; ohne Abfolge; gleichzeitig; Verwirrung; nicht sukzessiv; diskontinuierlich;
- Cha, ca = und;
- Iti = fertig, Ende; also;
- jam: geboren aus;
- Viveka = Unterscheidungskraft; Unterscheidung; Unterscheidungsfähigkeit;
- Vivekajam, vivekaja = aus Unterscheidungskraft; von Viveka kommend; hervorgegangen aus Unterscheidung;
- Jnana, jñāna, jnânam = Wissen; Verständnis; Erkenntnis;
Zu den Quellen
Buchbesprechungen, Erläuterungen zur Auswahl der Übersetzungsvarianten und allgemeine Hinweise zur Sutraübersetzung findest du im zugehörigen Artikel. Hier nun die Kurzauflistung:
Bücher
- Mircea Eliade: Yoga – Unsterblichkeit und Freiheit
- Iyengar: Der Urquell des Yoga
- Deshpande/Bäumer: Die Wurzeln des Yoga
- Geraldine Coster: Yoga und Tiefenpsychologie
- R. Sriram: Von der Erkenntnis zur Befreiung – Das YogaSutra
- Govindan: Die Kriya Yoga Sutras des Patanjali
- Mallinson/Singleton: Roots of Yoga
- R. Palm: Der Yogaleitfaden des Patañjali
- T.K.V. Desikachar: Über Freiheit und Meditation | Das Yoga Sutra von Patanajali
- Feuerstein, Georg: Die Yoga Tradition (Amazon)
- Skuban, Ralph: Patanjalis Yogasutra (Amazon)
- Sri Swami Satchidananda: The Yoga Sutras of Patanjali (Amazon)
- Trevor Leggett: The complete Commentary by Sankara on the Yoga-Sutras* (Amazon)
Internetseiten
- Internet-Übersetzung des Yogasutras auf Yoga-Vidya.de
- Zu den Sutras auf ashtangayoga.info
- Zu den Sutras auf 12koerebe.de
- Zu den Sutras auf vedanta-yoga.de
- Openland.de (mittlerweile offline)
- Zu www.bodhi.sofiatopia.org (buddhistische Kommentare zum Yogasutra nur noch als Buch)
- sanskrit-sanscrito.com (Sutras anscheinend entfernt)
- Zur Übersetzung von Chip Hartranft (PDF)
- Die Übersetzung von Hariharananda Aranya, I. K. Taimni, Vasa Houston, Barbara Miller, Swami Satchidananda, Swami Prabhavananda, Swami Vivekananda finden sich auf dieser Seite.
- Übersetzung von James Haughton Woods
- Rainbowbody.com (ausführliche und eigene Kommentierung)
- Wisdom Library
Weitere Quellen, z. B. zu aktuellen Studien, sind direkt im Text verlinkt.
Dein Übersetzungsvorschlag
Du findest die bisherigen LeserInnen-Übersetzungen und -Ergänzungen unten.
Hast du einen eigenen Übersetzungsvorschlag?
Wie würdest du diese Sutra übersetzen? Manchmal ergeben schon kleine Wortveränderungen ganz neue Aspekte. Trau dich ... :-)
Einordnung dieser Sutra im Yogasutra
Samyama ist die Schlüsselübung im dritten Kapitel des Yogasutra zum Erreichen der geistigen Kräfte. In den Sutras III-1 bis III-7 erläutert Patanjali zunächst, was Samyama ist: die Kombination aus
- Dharana (Konzentration),
- Dhyana (Meditation) und
- Samadhi (Überbewusstsein).
In Sutra III-8 ergänzt er dann, dass der Yogi zur Erlangung der Erleuchtung über Samyama hinausgehen muss.
In den Sutras III-9 bis III-15 geht es weiter mit Erläuterungen, welche Wandlung der Geist (Chitta) vollziehen muss, um Samyama bis zur Perfektion ausüben zu können. Aufeinander aufbauend sind das die Stadien
- Nirodha-Parinama (Wandel durch Sammlung, einfache Konzentration),
- Samadhi-Parinama (Wandlung durch länger andauernde Konzentration) und
- Ekagrata-Parinama (Wandel/Transformation durch vollkommene Versenkung auf einen Punkt/ein Thema).
Der notwendige Wandel des Geistes erfolgt nach und nach, ist keine sprunghafte Entwicklung.
In den Sutras III-16 bis III-49 macht Patanjali eine ganze Reihe von Vorschlägen, worauf man Samyama lenken könnte und welche Folgen (Siddhis = Kräfte, besondere Erkenntnisse) sich jeweils daraus ergeben.
In Sutra III-55 sagt Patanjali, dass der Yogi mittels starker Unterscheidungskraft (Viveka, in den Sutras zuvor beschrieben) alle Dinge in Raum und Zeit gleichzeitig ganzheitlich in voller Transzendenz zu erfassen imstande ist.
Besondere Kräfte (Siddhis) mit Samyama erlangen
Besondere Kräfte (Siddhis) mit Samyama erlangen
Patanjalis Anleitungen zur Erlangung der Siddhis lauten generell, dass der Praktizierende Samyama gezielt auf ein Meditationsobjekt anwendet. Samyama ist die Verbindung aus anhaltender Konzentration, Meditation und schlussendlich Samadhi (Überbewusstsein) auf ein Objekt der Meditation. Skuban sieht den Vorgang von Samyama als “mentales Eindringen in ein Objekt, das den Übenden schließlich zu den feinstofflichsten Bereichen des Seins führt.” Dadurch werden die drei Eigenschaften (siehe Sutra III-13) eines Objektes voll erkannt. So wird das Objekt voll verstanden und über die Gunas auch beherrschbar. Alle Objekte sind nämlich laut Yogalehre Erscheinungsformen der drei Gunas, auch das Bewusstsein des Menschen. Der Yogi diszipliniert sein Bewusstsein und kann über bzw. in Samyama die Gunas auch außerhalb seines Bewusstseins beeinflussen oder verändern. So erklären sich gemäß Yogalehre die Siddhis.
Vibhutis, der andere Name für die Siddhis, bedeutet wörtlich weg (vi) von den Elementen (bhutas) und steht damit laut einiger Kommentatoren auch für die Abwendung von der Identifikation mit den materiellen Grundlagen unseres Lebens, yogisch: Prakriti. Hin zur Erkenntnis unserer wahren Natur: Purusha.
Die Sutras III-16 bis III-49 nennen die Objekte, auf die ein Yogi seine Samyama-Konzentration legen sollte, um besondere Kräfte zu entfalten. Iyengar betont jedoch, dass diese Siddhis sich erst bei weit fortgeschrittenen Yoga-SchülerInnen zeigen.
Ergänzend: Lange Pranayama-Praxis soll spontane Siddhis triggern können. Gerade Wechselatmung über Monate hinweg wird in manchen Berichten als „geistöffnend“ beschrieben – mit plötzlichen Hörerlebnissen oder Visionen.
Was ist Samyama?
Was ist Samyama?
Samyama besteht aus drei Stufen: Dharana (Konzentration), Dhyana (Meditation) und Samadhi (Überbewusstsein). Nur die erste Stufe von Samyama, die Konzentration auf ein Objekt, lässt sich willentlich steuern. Die darauf aufbauenden Geisteszustände Dhyana (Meditation) und Samadhi (Überbewusstsein) müssen sich laut der meisten Kommentatoren des Yogasutras von alleine einstellen und werden durch lang anhaltende Konzentration und Beseitigung der Geisteshindernisse erlangt. Feuerstein bezeichnet Samyama als 'Bündelung' von Konzentration, Meditation und Samadhi. Du findest Samyama ausführlicher in den ersten Sutras des dritten Kapitels des Yogasutra hier auf yoga-welten.de besprochen. Siehe vor allem:
Yoga Sutra III-4: Die drei (Dhahrana, Dhyana, Samadhi) zusammen auf ein Objekt oder einen Ort angewendet wird Samyama genannt
Yoga Sutra III-5: Aus der Meisterung von Samyama entsteht vollkommenes Wissen über das Wahrgenommene
Yoga Sutra III-6: Der Fortschritt im Samyama erfolgt in Stufen
Voraussetzungen und Umgang mit den Siddhis
Empfehlungen zu Voraussetzungen und zum Umgang mit den Siddhis
Viele Kommentatoren empfehlen, mit den Siddhis sehr bewusst umzugehen. Folgendes wird oft geraten:
Wer sich den Siddhis zuwendet, sollte die Yamas und Niyamas in seinem Leben verwirklicht haben. Diese sind:
Die Yamas – Selbstkontrolle
- Ahimsa – Gewaltlosigkeit
- Satya – Wahrhaftigkeit
- Asteya – Nicht-Stehlen
- Brahmacharya – Wandel in Brahma / Selbstbeherrschung / Enthaltsamkeit
- Aparigraha – Nicht-Greifen, Verzicht auf Gier
Niyamas – Verhaltensregeln
- Saucha – Reinheit
- Santosha – Zufriedenheit
- Tapas – Selbstzucht
- Svadhyaya – Selbststudium (Studium)
- Ishvarapranidhana – Verehrung des Göttlichen
Siehe dazu die Erläuterungen in "Yamas und Niyamas im täglichen Leben".
Siddhis sollten nicht zum Vergnügen, zur Selbsterhöhung oder anderen ungünstigen, egoistischen Zielen angewendet werden. Vielmehr zeigen die Siddhis (so Iyengar und andere), dass die Yogapraxis “richtig angelegt” sei.
Selbstverständlich sollte man Siddhis auch nicht dazu nutzen, um jemand anderen damit zu schaden.
Stattdessen wird eher ein “Nicht-Beachten” der Siddhis angeraten, wenn diese sich denn zeigen sollten. Iyengar schreibt, (S. 244), die Übungen bei Auftreten der Siddhis mit Glauben und Begeisterung weiterzuentwickeln, die Siddhis aber mit völligem Gleichmut zu betrachten.
Dem Yogi wird also geraten, sich nicht auf die Siddhis einzulassen, sich nicht von ihnen “mitreissen zu lassen”, um sie nicht für eigenen selbstsüchtige Bedürfnisse zu verwenden, woraus späteres Leiden folgen würde. Stattdessen solle er/sie weiter auf dem Pfad der Befreiung zu wandeln und die Siddhis eher als Prüfung ansehen, ob man nicht doch noch - trotz fortgeschrittener yogischer Entwicklung - den Verlockungen der Dualität und des Ego-Daseins nachgibt.
Swami Sivananda sagt über Siddhis:
„Yoga ist nicht dazu da, Siddhis, Kräfte, zu erlangen. Wenn ein Yogaschüler die Versuchung verspürt, Siddhis zu erlangen, wird sein weiterer Fortschritt ernsthaft verzögert. Er hat den Weg verloren. Ein Yogi, der darauf konzentriert ist, höchsten Samadhi zu erreichen, muss Siddhis zurückweisen, wo auch immer sie auftauchen. Siddhis sind Einladungen von Devatas. Nur wenn man diese Siddhis zurückweisen kann, kann man Erfolg im Yoga erlangen.“
Im tibetischen Buddhismus werden vergleichbare Fähigkeiten „Shes-rab“ genannt. Auch dort: klare Intuition, inneres Sehen, spontane Einsicht – aber nie als Ziel, sondern als Prüfstein für Demut.
Missverständnisse rund um Siddhis
Die Aussicht auf übernatürliche Kräfte fasziniert viele – und genau darin liegen einige häufige Missverständnisse begründet. Ein Irrglaube besteht darin, dass Yoga hauptsächlich dazu diene, solche Siddhis zu erlangen. Tatsächlich betont die Tradition jedoch, dass Siddhis eher Nebenprodukte auf dem spirituellen Weg sind, nicht sein Zweck. Patanjali selbst stellt im unmittelbar folgenden Sutra klar, dass diese Fähigkeiten für einen im Samadhi befindlichen Geist Upasarga – also Störungen oder Ablenkungen – darstellen, auch wenn sie in einem nach außen gewandten Bewusstseinszustand als außergewöhnliche Errungenschaften erscheinen mögen. Yogameister wie Vyasa und später Vivekananda haben daher immer wieder gemahnt, die Siddhis nicht zu überschätzen: Sie seien wie Blüten am Wegesrand – schön und bemerkenswert, aber man sollte nicht vom Weg abkommen, um nur noch Blumen zu pflücken.
Ein weiteres Missverständnis liegt darin, jede ungewöhnliche innere Wahrnehmung sofort für eine echte siddhische Fähigkeit zu halten. Insbesondere wenn Übende beginnen, sich intensiv mit Meditation zu beschäftigen, können imaginäre Bilder, Lichterscheinungen oder akustische Phänomene auftauchen. Die Yoga-Tradition fordert hier Viveka, das unterscheidende Erkenntnisvermögen: Handelt es sich wirklich um eine valide intuitive Einsicht (Pratibha) oder nur um eine Wunschprojektion des Geistes? Echte spirituelle Intuition wird traditionell durch bestimmte Qualitäten kenntlich gemacht – sie geht einher mit tiefer innerer Stille, Klarheit und Gewissheit, ohne Aufregung oder Ego-Stolz. Hingegen sind halluzinatorische Erlebnisse oder irrige „Eingebungen“ oft dramatisch, emotional aufgeladen oder selbstbezogen. Es ist ein bekanntes Risiko, dass ein Yogi, der sich zu früh auf Siddhis fokussiert, Opfer von Täuschungen werden kann. Beispielsweise könnte man glauben, die Gedanken anderer lesen zu können, während man in Wirklichkeit eigenen Fantasien nachhängt.
Schließlich gibt es das Missverständnis, Siddhis seien ein Zeichen von Erleuchtung oder spiritueller Vollendung. Historische Berichte zeigen jedoch, dass auch wenig ethische oder unreife Personen zeitweise paranormale Fähigkeiten aufweisen konnten – was nicht mit wahrer Heiligkeit gleichzusetzen ist. Im Yoga wird daher gelehrt, die Siddhis weder zu verteufeln noch zu vergötzen. Sie dürfen auftauchen, doch der richtige Umgang ist entscheidend: Ein reifer Yogi nimmt sie wahr, schenkt ihnen aber wenig Bedeutung und bleibt dem höheren Ziel, Kaivalya (der völligen Befreiung), verpflichtet. Missverständnisse klären sich letztlich durch Erfahrung und Anleitung: In der traditionellen Guru-Schüler-Beziehung wurden auftauchende Siddhi-Erlebnisse vertraulich besprochen, um sicherzustellen, dass der Schüler nicht in Fallen wie Egoismus oder Ablenkung tappt. So soll auch der moderne Übende verstehen, dass Wunder im Yoga-Kontext Prüfsteine der Haltung sind – sie verlangen nach noch mehr Demut, Vairagya und Konzentration auf den eigentlichen Weg.
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Schlüsselbegriffe von Yogasutra 3.55
- Unterscheidungskraft (viveka) – In diesem Sutra geht es um das Wissen, das aus höchster Unterscheidungskraft geboren ist. Viveka bezeichnet die Fähigkeit, fein zu unterscheiden – vor allem zwischen dem Wirklichen und dem Unwirklichen, zwischen dem ewigen Selbst und der vergänglichen Materie. Patanjali beschreibt hier den Höhepunkt dieser Unterscheidungsfähigkeit, quasi die voll entfaltete Weisheit, die Täuschung und Wahrheit klar auseinanderhält. Dieses höchste Wissen wird auch viveka-khyāti genannt, die ungetrübte Erkenntnis des Unterschieds zwischen dem, was sich verändert, und dem, was unveränderlich ist.
- Transzendierendes Wissen (tārakaṃ jñānam) – Wörtlich heißt es in der Sutra, dieses Wissen sei tāraka, also „rettend“ oder „hinüberführend“. Damit ist gemeint: Es transzendiert die gewöhnliche Erfahrung. Laut klassischem Kommentar wird es rettend genannt, weil es den Yogi über den Ozean von Geburt und Tod trägt– ein poetisches Bild dafür, dass diese Erkenntnis zur endgültigen Befreiung (Kaivalya) führt. Dieses Wissen übersteigt alle Objekte und Sinneswelten: Die gesamte Natur (Prakriti) in all ihren Zuständen – vom Grobstofflichen bis zum Feinstofflichen – liegt im Erfassungsbereich dieser Erkenntnis. Patanjali sagt, es erfasst „alle Dinge in Raum und Zeit gleichzeitig“. Mit anderen Worten: Nichts bleibt diesem erweiterten Bewusstsein verborgen, egal ob es fern oder nah, vergangen, gegenwärtig oder zukünftig ist.
- Gleichzeitig und spontan (akramam) – Besonders auffällig ist das Wort akrama, was „ohne Abfolge“ bedeutet. Die gewöhnliche Wahrnehmung folgt einer Abfolge in der Zeit – wir denken Schritt für Schritt. Doch vivekajaṁ jñānam, das Erkenntniswissen aus Unterscheidung, ist nicht sequenziell, sondern geschieht augenblicklich. Swami Vivekananda erläutert, dass es bei diesem Wissen keine sukzessive Wahrnehmung mehr gibt – der Yogi erfasst alles gleichzeitig auf einen Blick. Man könnte sagen, es ist wie ein Geistesblitz, in dem das gesamte Bild der Wirklichkeit plötzlich und ganzheitlich aufleuchtet. Dieses spontane Ganzheitswissen ist das „intuitive Wissen, das Befreiung bringt“– weit mehr als bloß intellektuelles Verstehen.
Siddhi: Alles Wissen, von allen Zeiten, ohne Reihenfolge
Was ist genau darunter zu verstehen? Es wird hier recht philosophisch. Doch der Zweck dieses Wissens für den Yogi ist gemäß Swami Vivekananda klar: Es geleitet den Yogi über das “Meer von Geburt und Tod”.
Wortwörtlich steht in der Sutra: ein transzendierendes Wissen von allen Objekten zu allen Zeiten. Wim van den Dungen: „Das Wissen der Unterscheidung bringt ein intuitives & gnostisches Wissen hervor … Das Bewusstsein ist durchsichtig geworden …” Mit diesem Wissen transzendiert und beherrscht der Yogi die Natur, so Iyengar. Noch weiter geht Swami Venkatesananda: „Solche Weisheit, die aus intuitivem und unmittelbarem Verstehen entsteht, ist der einzige Erlöser.” Manche Kommentatoren wie Sai Baba oder Filliozat deuten das “akrama” laut R Palm (S. 192) darum so, dass nach diesem nun gewonnenen Wissen “nichts mehr folgt”.
Vermutlich geht es also um eine ganz andere Art von Wissen, als das wir es verstehen. Kein “... Wissen von „Dingen“, dualistischen Denkobjekten oder Prozessen im Vergleich zu anderen Dingen, Objekten und Prozessen, dem diejenigen verfallen sind, die Sklaven reduktionistischer Logik sind …” (Rainbowbody)
Traditionelle Kommentare und Auslegungen
In der traditionellen Interpretation gilt Yogasutra 3.55 als Beschreibung des letzten Erkenntnisschritts auf dem yogischen Weg, kurz vor der völligen Befreiung. Alte Kommentatoren bezeichnen dieses höchste Wissen als tāraka jñāna, das rettende Wissen, weil es den Yogi letztlich aus dem Rad des Samsara herauslöst. Es wird auch als Zenit der Unterscheidungskraft gesehen – die Krönung von viveka, in der nichts Wahrnehmbares mehr Täuschung hervorruft. Swami Vivekananda schreibt beispielsweise, dieses Wissen umfasse das Ganze der Prakriti in all ihren Zuständen, ob grob oder subtil. Alles, was existiert, wird in dieser Erkenntnis als vergänglich durchschaut, und gleichzeitig tritt das unveränderliche Selbst klar zutage.
Klassische Yoga-Meister betonen, dass dieses Sutra nicht einfach „Allwissenheit“ im weltlichen Sinne meint, sondern eine transzendente Einsicht. Diese überragt sogar die in früheren Versen beschriebenen übernatürlichen Kenntnisse. Es ist ein Wissen jenseits der üblichen Wahrnehmung, weil es unmittelbar und ganzheitlich ist. Ein klassischer Vergleich lautet: Es ist, als würde man einen ganzen Film in einem einzigen Augenblick wahrnehmen – eine komplette Handlung in einem einzigen Bild.
Und doch soll diese höchste Erkenntnis noch ungleich viel umfangreicher und erstaunlicher sein als jeder Film. Sie wird daher im Kommentar auch als „befreiende Erkenntnis“ beschrieben, die den Yogi an die Schwelle zur endgültigen Kaivalya führt. Tatsächlich erwähnt der nächste Vers (III.56) dann die völlige Freiheit: Sobald Geist (Sattva) und Selbst (Purusha) in gleicher Reinheit strahlen, tritt Befreiung ein. Sutra 3.55 bereitet gewissermaßen genau darauf vor – es beschreibt den Zustand, der direkt vor dieser endgültigen Befreiung steht.
Ein weiterer Aspekt in traditionellen Kommentaren ist die Warnung vor Stolz an dieser hohen Schwelle. Patanjali selbst mahnt im unmittelbar vorherigen Vers (3.52), der Yogi solle nicht eitel werden, selbst wenn ihn himmlische Wesen loben. Denn Ego und Anhaftung können einen auch auf den letzten Metern noch zu Fall bringen. Die alten Lehrer erinnerten: Selbst die strahlendste Siddhi (besondere Fähigkeit) ist wertlos im Vergleich zur Freiheit. Daher wird vivekajaṁ jñānam als etwas präsentiert, das zwar alles Wissen beinhaltet, den Yogi aber gleichzeitig jenseits von weltlichem Interesse daran stehen lässt. Es ist reines Schauen der Wahrheit, ohne Wunsch, damit anzugeben – denn jegliche Regung des Ego würde dieses klare Licht sofort wieder trüben.
Moderne Gedanken und Interpretationen
Moderne Yogalehrer und Kommentatoren versuchen oft, diese schwer fassbare Erfahrung in heutige Worte zu kleiden. Man könnte Yogasutra 3.55 als Beschreibung eines Zustands kosmischen Bewusstseins verstehen – eine Art Einheitserfahrung, in der die Grenzen von Zeit und Raum als Illusion durchschaut werden. In der heutigen Achtsamkeitspraxis gibt es Ansätze, die Ähnliches anstreben: nämlich jeden Moment so bewusst zu erleben, dass man das große Ganze dahinter spürt.
Alle Objekte gleichzeitig wahrnehmen – das klingt zunächst fantastisch, fast als würde man zum Superhelden mit Röntgenblick. Doch eigentlich meint es ein inneres Erleben: vollkommene Gegenwärtigkeit und Intuition. Einige moderne Lehrer betonen, es gehe nicht darum, jedes Detail der Welt enzyklopädisch zu wissen, sondern darum, die Essenz zu erfassen. Wenn du in einem solchen Zustand bist, fühlst du dich eins mit allem, als wärst du im Zentrum eines riesigen Bewusstseinsfeldes.
Allerdings warnen zeitgenössische Lehrer auch vor einer Falle: dem subtilen spirituellen Ego. Es ist ironisch – in dem Moment, wo ein Yogi denkt „Wow, ich bin eins mit allem, ich weiß alles!“, hat sich schon wieder ein leises Ich-Gefühl eingeschlichen. Schwupp, ist die Einheit vorbei. Ein moderner Kommentar beschreibt: Ein wahrhaft fortgeschrittener Yogi kann zwar gleichzeitig die gesamte Schöpfung erfahren, eins werden mit allem, was ist, aber sobald er sich dessen bewusst wird, fühlt er sich wieder als Getrennter. Dieses Paradox zeigt, wie anspruchsvoll die Praxis ist: Man muss sogar die eigene Erleuchtungserfahrung loslassen können, ohne Stolz oder Anhaftung. Andernfalls tappt man in das, was man heute spirituellen Egoismus nennt – die Identifikation damit, „erleuchtet“ zu sein. Patanjali adressiert genau das: Das höchste Wissen darf nicht zu Überheblichkeit führen, sonst verliert es seine befreiende Kraft.
Positiv gewendet kann uns dieses Sutra aber auch mit Humor zeigen, dass echte Weisheit bescheiden macht. Jemand, der wirklich alles durchschaut, hat kein Bedürfnis mehr, sich über andere zu erheben. Vielleicht lächelt ein solcher Yogi nur still, denn er sieht in jedem Ding – und in jedem Mitmenschen – das Spiel derselben einen Realität. Moderne Ausleger verbinden das mit Mitgefühl: Wer die Einheit sieht, begegnet der Welt mit einer Gelassenheit und Liebe, weil überall das Eine leuchtet.
Praxisnähe schlägt Theorie – letztlich fragt man sich: Wie fühlt sich so etwas an? Viele Yogis berichten von Momenten tiefer Meditation, in denen Zeit und Raum zu verschwimmen scheinen. Vielleicht hattest du selbst schon einmal für Sekundenbruchteile das Gefühl, alles ist genau richtig so, alles gehört zusammen. Solche Erfahrungen mögen flüchtig sein, aber sie haben einen Nachgeschmack von dem, was Patanjali hier in vollem Ausmaß beschreibt. Sie motivieren uns, auf dem Weg weiterzugehen.
Kleiner Trost: Selbst wenn Sutra 3.55 vom nahezu Unerreichbaren spricht, kannst du im Kleinen heute schon davon kosten. Wie – dazu nun ein paar Anregungen in der Praxis.
Praxis auf dem Kissen: Samyama-Übung zu Sutra 3.55
Voraussetzungen und Vorbereitungen für Samyama und Siddhis
Voraussetzungen für Samyama und Siddhis
Um Samyama – die kombinierte Praxis von Konzentration, Meditation und Versenkung – erfolgreich üben zu können, müssen bestimmte psychologische und spirituelle Voraussetzungen erfüllt sein. Einig sind sich die traditionellen wie modernen Lehrer, dass der Geist des Übenden ausreichend gereinigt und gesammelt sein muss. Das bedeutet: innere Stabilität, relative Gedankenstille und Freiheit von starken emotionalen Aufwallungen als Grundlage. Es bedarf eines Maßes an Konzentrationskraft, Achtsamkeit und Gelassenheit gegenüber Sinnesreizen, damit die Aufmerksamkeit vollständig nach innen gelenkt werden kann. Besonders hervorgehoben wird die Haltung der Nicht-Verhaftung (Vairagya): Der Yogi soll nicht mehr an gewöhnlichen Sinnesfreuden oder Erfolgserlebnissen hängen, sondern eine innere Unabhängigkeit davon kultiviert haben.
Darüber hinaus betont der yogische Weg, dass die grundlegenden Stufen des Achtgliedrigen Pfades gefestigt sein sollen, bevor man sich höheren Techniken wie Samyama widmet. Konkret bedeutet dies: Yama und Niyama – die ethischen Prinzipien und Selbstdisziplinen – sollten im Leben des Übenden verankert sein, um mentale Unruhe und konflikthafte Begierden zu minimieren. Die Praxis von Asana (Körperübungen) und Pranayama (Atemlenkung) baut Spannungen und Rastlosigkeit ab und stabilisiert Körper und Nerven, was indirekt dem Geist zugutekommt. Pratyahara, das systematische Zurückziehen der Sinne, ist ebenfalls eine entscheidende Vorstufe: Erst wenn die Aufmerksamkeit nicht mehr unwillkürlich von äußeren Eindrücken gesteuert wird, kann echte Konzentration nach innen entstehen. Diese Vorarbeiten schaffen den Nährboden, auf dem Samyama gedeihen kann. Ein Yogi, der Schritt für Schritt diesen Pfad gegangen ist, entwickelt die geistige Stärke und Reinheit, die nötig sind, um tiefe Versenkung zu erreichen – und in deren Folge können Siddhis überhaupt erst auftauchen.
Die Rolle von Entsagung und Ethik (Vairagya, Yama, Niyama)
Entsagung/Nichtanhaftung im Yoga, auf Sanskrit Vairagya, und die ethischen Richtlinien Yama und Niyama gehören zu den fundamentalsten Anforderungen, insbesondere wenn es um den Umgang mit Siddhis geht. Vairagya bedeutet ein inneres Losgelöstsein: der Übende übt sich darin, Verlangen und Anhaftungen aufzugeben – seien es sinnliche Genüsse, materielle Güter oder auch das Streben nach außergewöhnlichen Fähigkeiten. So kann der Yogi in die Tiefe von Samyama gelangen.
Die Geisteshaltung von Vairagya ist auch hilfreich dabei, dass aufkommende Siddhis den Yogi nicht verführen. Nur wer in Gleichmut gegenüber allen Phänomenen bleibt, kann übernatürliche Wahrnehmungen haben, ohne vom eigentlichen Pfad abzukommen. Patanjali nennt Vairagya nicht umsonst bereits im ersten Kapitel als Schlüssel zur geistigen Stille: Das fortwährende Loslassen verhindert, dass der Geist neue Wellen von Begierde und Ego-Stolz bildet.
Ergänzend dazu bilden Yama und Niyama das moralische Fundament. Die fünf Yamas – etwa Gewaltlosigkeit (Ahimsa), Wahrhaftigkeit (Satya) oder Nicht-Gier (Aparigraha) – und die fünf Niyamas – etwa Reinheit (Shaucha) und Selbststudium (Svadhyaya) – sorgen dafür, dass der Charakter und Lebenswandel des Yogis ethisch ausgerichtet sind. Warum ist das so wichtig in Bezug auf Siddhis? Zum einen reinigt moralisches Verhalten das Herz und mindert egoistische Tendenzen, was die Wahrscheinlichkeit von Missbrauch oder falscher Identifikation mit Kräften reduziert. Zum anderen stabilisieren Yama und Niyama den Geist: Ein Gewissen, das frei von Schuld und Zwiespalt ist, kommt leichter zur Ruhe. Traditionell heißt es, dass Siddhis nur einem Yogi dauerhaft und gefahrlos zufallen, der Tugend und Selbstbeherrschung verkörpert. Andernfalls können Machtgefühle, Hochmut oder unethische Versuchungen die Folge sein. Daher lehren die Yogameister, dass jede Erweiterung der Fähigkeiten mit entsprechender Demut und Verantwortungsbewusstsein einhergehen muss – Qualitäten, die durch die Befolgung von Yama und Niyama kultiviert werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Vairagya und die ethische Praxis sind Förderer und Schutzmechanismus auf dem Weg zur höheren Erkenntnis. Sie erleichtern das Eindringen in lang anhaltende innere Stille bei voller Bewusstheit und bewahren den Übenden davor, die Richtung zu verlieren, wenn Siddhis auftauchen. Ein Yogi, der Entsagung übt und ethisch gefestigt ist, wird die verfeinerten Sinneswahrnehmungen zwar registrieren, aber weder missbrauchen noch für wichtiger halten als das letztendliche Ziel – die Erkenntnis des wahren Selbst (Purusha) und die Befreiung.
Vorbereitende Techniken für Samyama und verfeinerte Wahrnehmung
Um den Geist auf Samyama und mögliche subtile Wahrnehmungen vorzubereiten, empfehlen Yogalehrer seit jeher verschiedene unterstützende Techniken. Insbesondere folgende Ansätze haben sich als hilfreich erwiesen:
- Yama und Niyama hatten wir schon, empfohlen wird auch eine stabile und bequeme Sitzhaltung (Asana).
- Pratyahara (Zurückziehen der Sinne): In dieser fünften Stufe des Raja Yoga lernt der Übende, die Aufmerksamkeit von äußeren Sinnesobjekten abzuziehen. Praktisch wird Pratyahara z.B. geübt, indem man sich in Entspannung auf innere Wahrnehmungen konzentriert und äußere Reize ausblendet – etwa durch Augen schließen, in Stille sitzen oder Visualisierungen. Dadurch werden die Sinne „nach innen gezogen“. Ein trainiertes Pratyahara ist die Voraussetzung dafür, dass in Samyama die verfeinerten, inneren Sinneswahrnehmungen auftauchen können. Erst wenn die gewöhnlichen Sinnesreize an Macht verlieren, entsteht Raum für das subtile innere Hören, Sehen etc.
- Pranayama (Atemkontrolle): Gezielte Atemübungen beruhigen das Nervensystem und sammeln den Geist. Durch Regulierung (Patanjali nennt Verlängerung und Verfeinerung) des Atems – etwa mittels tiefer Bauchatmung, Wechselatmung (Nadi Shodhana) oder einfach nur der Verlängerung der Ausatmung – wird der Geist fokussiert und der Energiefluss harmonisiert. Patanjali selbst führt Pranayama als wichtige Vorstufe zu Dharana (Konzentration) an. Ein gleichmäßiger, feiner Atem fördert eine introvertierte Aufmerksamkeit und kann latente Energien (Prana) wecken. Insbesondere fortgeschrittene Pranayamas, die mit Konzentration auf Energiezentren (Chakras) verbunden sind, schulen die Wahrnehmung des inneren Raums. Dadurch wird der Yogi empfänglicher für subtile Empfindungen – eine essenzielle Vorbereitung, um in tiefere Meditation vorzudringen, wo sich Siddhis zeigen könnten.
- Optional: Yoga Nidra (Yogischer Tiefenentspannungszustand): Yoga Nidra ist eine geführte Meditation, die den Körper in vollständige Entspannung versetzt, während der Geist hellwach bleibt. In diesem Schwebezustand zwischen Wachen und Schlaf treten Gehirnwellen auf, die für Aufnahmefähigkeit und Intuition förderlich sind. Die Praxis von Yoga Nidra hilft, unbewusste Verspannungen und mentale Blockaden abzubauen. Sie schult außerdem die Fähigkeit, bewusst ins Unterbewusstsein hineinzulauschen, ohne einzuschlafen. Diese Fertigkeit – entspannt und zugleich aufmerksam nach innen zu schauen – ist eine direkte Vorbereitung auf Samyama. Ein Yogi, der Yoga Nidra meistert, kann seine Aufmerksamkeit lange nach innen richten, was die Kontinuität von Dharana/Dhyana fördert. Zugleich fördert Yoga Nidra einen Zeuge-Geist („Sakshi-Bhava“), der Phänomene beobachten kann, ohne sich damit zu identifizieren – hilfreich, um etwaige Siddhi-Erfahrungen nüchtern zu betrachten. Hier findest du die konkrete Übungsanleitung.
- Optional: Japa (Mantra-Wiederholung): Die Rezitation oder mentale Wiederholung eines Mantras gilt als eine der wirkungsvollsten Konzentrationshilfen. Durch Japa wird der rastlose Geist schrittweise beruhigt und auf einen Klang oder eine heilige Silbe ausgerichtet. Das kontinuierliche Wiederholen – ob laut, leise oder innerlich – bündelt die Gedankenströme und führt zu tiefer Meditation. In vielen Yoga-Traditionen heißt es, ein Mantra reinige den Geist und öffne das Herz. Praktisch bewirkt Japa, dass störende Gedanken in den Hintergrund treten und eine spirituelle Schwingung den Vordergrund einnimmt. Dies bereitet auf Samyama vor, indem das Mantra wie ein Anker für Dharana dient und nahtlos in Dhyana übergehen kann. Zudem kann intensives Mantra-Japa dazu führen, dass der Übende das Mantra schließlich innerlich „hört“, ohne aktives Tun – eine Form von subtiler Wahrnehmung, die als Siddhi betrachtet werden könnte (z.B. Nada-Anubhava, das innere Klang-Erlebnis). Selbst wenn solche Phänomene nicht explizit gesucht werden, stärkt Japa in jedem Fall die Konzentration, Hingabe und Vairagya. Diese Qualitäten schützen und begleiten den Yogi, falls sich verfeinerte Sinneswahrnehmungen einstellen.
Zusammengefasst dienen Pratyahara, Pranayama, Yoga Nidra und Japa als (nicht unbedingt notwendige aber) hilfreiche Bausteine in der Vorbereitung auf Samyama. Sie entwickeln die nötige geistige Disziplin, Sammlung und Reinheit, um die im Yoga-Sutra beschriebenen Fähigkeiten zu ermöglichen (garantieren aber deren Auftreten nicht). Gleichzeitig fördern sie die Haltung von Losgelöstheit und innerer Ruhe, sodass der Yogi bereit ist, Siddhis weder zu erzwingen noch zu fürchten, sondern sie im richtigen Geist zu integrieren. Jede dieser Techniken ist für sich schon eine wertvolle Übung; im Zusammenspiel ebnen sie den Weg zu den tieferen Erfahrungen des Yoga – bis hin zur Pratibha, dem aufblitzenden inneren Wissen, und darüber hinaus zum endgültigen Ziel des Yoga, der Verwirklichung des Selbst.
🌀 Samyama-Reife-Check
Samyama – die Kombination aus Konzentration, Meditation und tiefer Versenkung – ist eine hochentwickelte Praxis im Yoga. Doch ist sie für jeden und zu jeder Zeit sinnvoll? Mit diesem kurzen Selbsttest kannst du einschätzen, ob dein Geist bereit ist, sich auf diese subtile Form des inneren Forschens einzulassen.
So geht's: Beantworte die Fragen ehrlich und spontan. Am Ende erhältst du eine Einschätzung und eine Empfehlung für deinen nächsten Schritt.
Zeitleiste: Pfad zu Samyama und den Siddhis
Diese Zeitleiste zeigt dir die Stufen des Yogawegs, die nötig sind, um in den Zustand von Samyama zu kommen – und wie daraus Siddhis (verfeinerte Sinneswahrnehmungen) spontan entstehen können.
🪷 Yama & Niyama
Ethische Grundlagen & Selbstdisziplin: z. B. Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Reinheit. Sie bereiten deinen Geist auf Tiefe und Klarheit vor.
🧘 Asana
Stabiler, bequemer Sitz. Der Körper wird still, der Atem ruhig – beides ist nötig für längere innere Versenkung.
🌬️ Pranayama
Atemkontrolle als Brücke zur inneren Wahrnehmung, Pantanjali empfiehlt, Ausatmung und Einatmung und Anhalten zu verlängern und zu verfeinern. Dieses Pranayama beruhigt das Nervensystem und bereitet den Geist auf Fokus vor.
👁️ Pratyahara
Zurückziehen der Sinne. Der Blick geht nach innen. Die Außenwelt verliert an Bedeutung. Jetzt beginnt echte Sammlung.
🎯 Dharana
Konzentration auf ein Objekt (z. B. Licht, Atem, Mantra). Der Geist bleibt bei einem Punkt – erste Form von Meditation.
🧘♀️ Dhyana
Meditation. Der Fokus wird fließend, mühelos. Es gibt keine Unterbrechungen mehr – reines Verweilen im Beobachteten.
🌌 Samadhi
Verschmelzen mit dem Objekt. Kein „Ich meditiere“ mehr – nur noch reines Sein. Dies ist der Eingang in tiefe Einsicht.
✨ Übergang zu Samyama
Wenn Dharana, Dhyana und Samadhi auf dasselbe Objekt gerichtet sind – ohne Unterbrechung –, kann daraus Samyama entstehen. Dann ist der Geist hochfokussiert, durchlässig und empfänglich für tiefe, intuitive Erkenntnis.
🌟 Was entsteht daraus?
Spontan kann es geschehen, dass sich ein Siddhi zeigt, du z. B. feiner hörst, spürst, siehst – nicht mit den Sinnen, sondern von innen heraus. Denke immer daran: Siddhis sind kein Ziel, aber ein möglicher Meilenstein auf deinem Weg.
Sukadev nennt drei Voraussetzungen für dieses Siddhi:
- Unterscheidungskraft Viveka vollends ausgebildet
- Ganz in der Gegenwart leben
- Konzentration auf den Augenblick, seine Folge und das Geschehen zwischen Augenblick und dem darauf folgenden … (siehe Sutra III-54 zuvor).
Wie übt man nun so etwas Abstraktes? Patanjali gibt im Vers 3.53 einen konkreten Hinweis: Durch Samyama auf den Augenblick und seinen Ablauf erlangt man aus Unterscheidung geborene Erkenntnis. Mit Samyama ist die Kombination aus Konzentration, Meditation und verschmolzenem Versenkungszustand gemeint. Eine mögliche Übung (weitere Vorschläge findest du in den Sutras zuvor, z. B. bei Sutra III-53) auf dem Meditationskissen könnte so aussehen:
Achtsamkeit der Momente
Setze dich in eine ruhige Meditationshaltung und richte deine Aufmerksamkeit auf den Fluss der Zeit im Hier und Jetzt. Nimm einen einzelnen Atemzug oder Herzschlag wahr – genau diesen einen Moment. Dann den nächsten. Spüre bewusst die feinen Unterschiede zwischen jetzt und jetzt. Diese Praxis, Moment für Moment zu betrachten, schult dich darin, die Illusion der linearen Zeit zu durchschauen.
Du erkennst allmählich: Was wir als Zeit wahrnehmen, ist eigentlich eine Aneinanderreihung vieler Jetzts. Wenn du dich tief darauf einlässt, merkst du vielleicht, dass zwischen diesen Augenblicken ein Raum von Stille liegt.
Das Unveränderliche erkennen
Während du so die winzigen Veränderungen von Moment zu Moment beobachtest – den wechselnden Atem, die Geräusche von draußen, die Empfindungen im Körper – frage dich: Was bleibt die ganze Zeit über gleich?
Lenke den Blick nach innen auf den Beobachter selbst. Da ist ein Teil in dir, der jeden dieser Momente neutral wahrnimmt, ohne sich zu verändern. Dieses bewusste Gewahrsein in dir ist wie ein stiller Hintergrund, vor dem die Szenen des Augenblicks kommen und gehen.
Konzentriere dich in deiner Samyama-Meditation immer wieder auf diesen stillen Hintergrund. Hier wächst deine viveka, deine Unterscheidungskraft: Du erfährst direkt den Unterschied zwischen dem Veränderlichen (den Inhalten jedes Moments) und dem Unveränderlichen (dem Bewusstsein dahinter).
Verschmelzung in Ganzheit
Je vertrauter dir diese Übung wird, desto mehr kannst du versuchen, dein Bewusstsein zu weiten. Lass die einzelnen Momente nicht nur nacheinander auftauchen, sondern nimm sie gleichzeitig wahr. Das klingt zunächst unmöglich – wie soll man mehrere Augenblicke gleichzeitig erfassen?
Praktisch heißt es, einen Zustand tiefer Konzentration zu erreichen, in dem das Denken völlig still wird. Ohne Gedankenfluss gibt es auch kein Erleben von „Vorher“ und „Nachher“. Alle Eindrücke bilden dann ein einziges, umfassendes Feld im Geist. Du sitzt einfach da, hellwach, und alles geschieht auf einmal in deinem Bewusstsein.
Diese Art von Samyama kann dir erste Blitzlichter der Erfahrung geben, die Patanjali meint. Es kann sich anfühlen, als ob die Zeit stillsteht: Du nimmst den gesamten Körper auf einmal wahr, alle Geräusche um dich zugleich, ohne Hin- und Herschweifen.
Vielleicht taucht ein Gefühl tiefer Ruhe oder Ehrfurcht auf. Das ist natürlich noch nicht das volle „Wissen aller Dinge“, aber es ist ein Schritt in Richtung ganzheitlicher Wahrnehmung.
Solche Übungen bereiten den Geist darauf vor, irgendwann die in Sutra 3.55 beschriebene Perspektive einzunehmen – wenn auch für den Anfang nur für Sekunden. Wichtig ist, geduldig zu sein und nicht zielhaft etwas „Besonderes“ erzwingen zu wollen. Die Samyama-Früchte reifen durch beständige Übung.
Praxis im Alltag: Anwendung von Sutra 3.55
Nicht nur im formalen Sitzen, auch im Alltag kann man Elemente dieses Sutras üben. Natürlich bewegen wir uns dabei auf einer bescheideneren Ebene – dennoch lässt sich die Unterscheidungskraft und ganzheitliche Achtsamkeit Schritt für Schritt ins tägliche Leben integrieren. Hier ein paar konkrete Beispiele:
Weitwinkel-Achtsamkeit
Im Alltag sind wir oft im Tunnelblick – wir fokussieren jeweils nur auf eines: das Handy, das Gespräch, die Aufgabe vor uns. Übe hin und wieder bewusst das Gegenteil: einen weiten Bewusstseinsmodus. Beispiel: Du gehst spazieren und nimmst dir vor, alles um dich her gleichzeitig wahrzunehmen. Spüre den Boden unter den Füßen, während du gleichzeitig die Geräusche um dich registrierst – den Wind, vielleicht Vogelgezwitscher – und auch die visuellen Eindrücke in die Peripherie deines Blickfelds aufnimmst.
Das ist herausfordernd, denn der Geist hüpft gerne von einem Ding zum nächsten. Versuche, ihn sanft auf alles zugleich ruhen zu lassen, ohne zu sehr an einem Detail hängen zu bleiben. Du könntest feststellen, dass sich für einen Moment ein ganzheitliches Gefühl einstellt: Du bist mitten im Ganzen, kein separater Beobachter mehr, sondern fühlst dich als Teil der Szene. Diese Übung schult das, was Sutra 3.55 beschreibt – nämlich viele Eindrücke gleichzeitig zu halten – im Kleinen. Sie kann sich sehr lebendig anfühlen: Die Welt wirkt für einen Moment intensiver, farbiger, weil du dich ihr völlig öffnest.
Unterscheiden zwischen Rolle und Selbst
Im Alltag spielen wir viele Rollen – Partner, Lehrer, Schülerin, Kollege – und jede Rolle bringt Gedanken, Emotionen und Pflichten mit sich. Viveka im Alltag zu üben kann bedeuten, dich immer wieder daran zu erinnern, wer oder was du nicht bist.
Zum Beispiel gerätst du in einer Diskussion in Streit und spürst Zorn oder Verletzung. In dem Moment übe einen inneren Schritt zurück:
- Nimm wahr, da ist Zorn in mir, da ist Verletztheit.
- Erinnere dich: Diese Gefühle sind Objekte im Feld deines Bewusstseins – sie kommen und gehen.
- Frage dich: Wer nimmt diese Emotionen wahr? Es ist dieses stille Du hinter dem Du.
Indem du das fühlst, übst du im Alltag die gleiche Unterscheidung wie der meditierende Yogi: Das Veränderliche (Emotionen, Gedanken) vom Unveränderlichen (dem bewussten Zeugen in dir) zu unterscheiden. Diese Praxis bringt einen spürbaren Effekt: Du nimmst das Drama etwas heraus. Plötzlich bist du nicht mehr komplett der Wütende oder die Verletzte, sondern du hast Wut, du hast Schmerz – und dahinter gibt es einen Raum in dir, der unberührt bleibt.
Diese Erkenntnis im Kleinen verleiht Gelassenheit. Manche Yogis berichten, dass es sich anfühlt, als würde man innerlich einen stabilen Beobachtungspunkt finden, von dem aus die Wellen des Alltags weniger überwältigend wirken. Genau dieses Gefühl – in der Welt sein, aber nicht von ihr überwältigt – ist ein Alltagsaspekt der großen Unterscheidungs-Erkenntnis aus Sutra 3.55.
Alles in Einem sehen
Eine weitere Übung für fortgeschrittene Achtsamkeit im Alltag ist, die Verbundenheit der Dinge zu spüren.
Wenn du zum Beispiel das nächste Mal in einer Warteschlange stehst oder im Stau sitzt, nutze die Gelegenheit für ein kleines Ganzheits-Meditationsspiel: Stell dir vor, du könntest die gesamte Situation von oben sehen und von innen fühlen – gleichzeitig. Die Menschen um dich sind getrennte Individuen, ja, aber alle haben Wünsche, Sorgen, Hoffnungen – genau wie du. In der Schlange atmen alle die gleiche Luft, alle Herzen schlagen im gleichen Rhythmus des Lebens. Versuche für ein paar Augenblicke, das Verbindende zu fühlen, nicht das Trennende.
Diese empathische Weite ist eine alltagstaugliche Übersetzung des Sutra-Prinzips „alles als Ganzes erfassen“. Es entsteht dabei häufig ein Gefühl von Verständnis und Frieden – fast so, als würdest du dich auf einer Metaebene über den kleinen Ärger, z. B. übers Warten. Du transzendierst im Kleinen die Situation, weil du das große Bild dahinter spürst. Genau darum geht es im Kern: das Große im Kleinen zu erkennen.
Diese Beispiele zeigen: Man muss kein vollkommener Meister sein, um von Patanjalis Weisheit zu profitieren. Yogasutra 3.55 erinnert uns daran, dass Yoga viel mit Perspektive zu tun hat. Je mehr du übst, dein Bewusstsein zu schulen – mal fokussiert punktuell, mal weit und alles umfassend – desto näher kommst du diesem Gefühl, alle Dinge gleichzeitig ganzheitlich in Transzendenz zu erfassen. Natürlich ist es ein langer Weg bis zu jener ultimativen Erkenntnis, die Patanjali beschreibt. Aber jeder kleine Schritt, jede Alltagssituation, in der du bewusst Unterscheidung übst oder das Ganze hinter den Teilen erahnst, ist wertvoll. Yoga ist Praxis. Indem du spürst, wovon die Philosophie spricht, statt es nur zu theoretisieren, bekommt der Weg Charakter und Tiefe. Und vielleicht merkst du irgendwann schmunzelnd: Das höchste Wissen ist nicht irgendein fremdes Mysterium – es zeigt sich im Grunde in jedem Moment, wenn du ganz da bist und das Wahre vom Unwahren scheidest. Genau darin liegt die Schönheit von Patanjalis Lehre: Sie führt vom Meditationskissen mitten hinein ins pralle Leben – und vielleicht auch wieder zurück.
Psychologische Resonanzräume: Zeit, Achtsamkeit und akrama
Für diejenigen, die sich fragen, ob das in Yogasutra 3.55 beschriebene Erleben – also das gleichzeitige Erfassen aller Dinge jenseits von Zeitabfolge (akrama) – nur spirituelles Wunschdenken ist oder ob es auch eine gewisse psychologische Plausibilität hat, lohnt sich ein Blick in die Forschung zur subjektiven Zeitwahrnehmung unter Achtsamkeitseinfluss.
Eine wegweisende Studie stammt von Marc Wittmann (2015), veröffentlicht in Consciousness and Cognition. Er untersuchte, wie achtsames Gewahrsein den subjektiven Zeitfluss verändert. Das Ergebnis: Menschen, die achtsam atmen oder sich innerlich „weiten“, berichten von einer deutlich gedehnten Zeitwahrnehmung – ihre Erfahrung des Moments wird weiter, reicher, und weniger linear. Abstrakt heißt es:
„An increased awareness of oneself coincides with an increased awareness of time. […] The subjective passage of time slows down, and time appears to stretch, allowing a more detailed perception of internal and external states.“ (Ein gesteigertes Selbstbewusstsein geht mit einem gesteigerten Zeitbewusstsein einher. […] Der subjektive Zeitablauf verlangsamt sich, und die Zeit scheint sich zu dehnen, was eine detailliertere Wahrnehmung innerer und äußerer Zustände ermöglicht.)
Weitere Beobachtungen aus Studien zur Meditation:
- Studien zeigen, dass meditierende Menschen visuelle Feinwahrnehmung steigern: Sie nehmen Lichtblitze besser wahr und weniger optische Täuschungen, dadurch wirkt die Wahrnehmung "luftiger".
- Forschung im Jahr 2024 weist nach: Mindfulness kann das Gefühl von Zeitreichtum steigern, indem neue Erlebnisse im Alltag bewusst wahrgenommen werden – das hilft, das Gefühl zu verlangsamen.
- Eine Studie mit Zen-Meistern fand heraus: Sie sehen visuelle Illusionen deutlich seltener fehl, weil ihr Geist klare Wahrnehmungsfilter eingestellt hat – das erinnert an vivka-khyāti.
- Neuro-Wissenschaftler fanden: Regelmäßige Meditationspraxis führt zu dickerer grauer Hirnsubstanz u.a. im Inselkortex – was mit erhöhter Körper- und Zeitsensibilität zusammenhängt.
- Forscher beobachteten, dass Schweigen allein – ohne Meditation – die Zeitwahrnehmung verändert: Menschen fühlten sich entspannter und Zeit verging „langsamer“, wie bei tiefer Gegenwärtigkeit.
- Die Kognitionspsychologin Ellen Langer, Mutter der Achtsamkeitsforschung, zeigte, dass Menschen, die sich jünger fühlen, geistig tatsächlich wacher werden und Zeit intensiver erleben.
Das bedeutet: Auch aus wissenschaftlicher Perspektive ist zumindest nicht-sequenzielles, zeitloses Erleben – wie es Sutra 3.55 beschreibt – nachvollziehbar. Dieses moderne Ergebnis öffnet einen Resonanzraum zwischen uralter Yogaphilosophie – viveka-khyāti –, und zeitgenössischer Bewusstseinsforschung. Die alte Intuition des Yoga: Ganzheit entsteht nicht durch Akkumulation, sondern durch radikale Präsenz, wird hier in gewisser Weise psychologisch belegt.
Kommentar von Vyasa zu Sutra 3.55: über das höchste Wissen im Yoga – eine Auslegung
Erläuterungen zu Vyasa
Vyasa war ein indischer Philosoph des 5. bzw. 6. Jahrhunderts nach Christi, der den ältesten überlieferten Kommentar zum Yogasutra des Patanjali schrieb. Der Text wird Yogabhashya (wörtlich "Kommentar (Bhashya) zur Yogaphilosophie") genannt und um 600 nach Christi datiert. Vyasas Kommentare zu den Sutras sind oftmals recht kurz.
Ohne Vyasas Kommentar wären viele Sutras heute fast unverständlich. Manche Gelehrte sagen, der Text ist erst durch den Kommentar wirklich „lesbar“.
Vyāsa war vielleicht/wahrscheinlich kein einzelner Autor, sondern ein Titel, der mehrere Kommentatoren der indischen Tradition umfasst. Die Stimme, die wir im Yogasutra-Kommentar hören, ist also vielleicht ein Chor.
Vyasas Yogabhashya wurde im 8./9. Jh. von Shankara (788–820 n. Chr, indischer Gelehrter, Vedanta-Philosoph, Begründer der Advaitavedānta-Tradition) kommentiert. Sein Kommentar nennt sich Yogabhashyavivarana, Vivarana ist ein Unterkommentar.
Auch Vachaspati Mishra hat einen frühen, berühmten Kommentar zum Yogasutra geschrieben. (Meine Quellen für diese Kommentare waren unterschiedliche Bücher und Webseiten, zum Beispiel Legget (siehe Literatur) und wisdomlib.org/hinduism/book/yoga-sutras-with-commentaries/). Ich gebe hier diese Kommentare in für mich relevanten Auszügen in Worten wieder, die für mich den Sinn in heutigen Worten am besten wiedergeben. Dies ist explizit kein Bemühen, die Originalkommentare wortgetreu wiederzugeben. Fehlinterpretationen sind natürlich in meiner Verantwortung.
Du siehst etwas anders, hast einen Fehler gefunden oder möchtest etwas ergänzen? Bitte schreibe dies unten bei "Ergänzungen von dir".
Die Kommentare von Vyasa, Mishra und Shankara sind oft wörtlich übersetzt worden, zum Beispiel bei den oben angegebenen Quellen.
Der indische Philosoph Vyasa, einer der bedeutendsten Kommentatoren des Yogasutra, beschreibt das in Sutra 3.55 gemeinte Wissen mit Worten, die zunächst schlicht wirken – und doch eine geistige Tiefe eröffnen, die nur mit Geduld zu erschließen ist.
🧠 „Es ist intuitiv“ – Wissen jenseits von Belehrung
Vyasa beschreibt das höchste Wissen als intuitiv – und zwar nicht im Sinne einer plötzlichen Eingebung aus dem Nichts. Gemeint ist: Dieses Wissen entsteht nicht durch Belehrung von außen, sondern aus einem inneren Prozess der Einsicht. Es baut auf bereits entwickeltem Verständnis auf – genauer gesagt: auf dem, was durch lange Praxis, durch viveka, die Unterscheidungskraft, bereits gereift ist.
Wer dieses Wissen erreicht, erinnert sich nicht im Kopf, sondern erkennt vielleicht mit dem Herzen. Es ist, als würde sich etwas entfalten, das längst da war – aber bisher im Verborgenen lag. Nicht Professorenweisheit, sondern ein Wiedererkennen der tieferen Struktur der Wirklichkeit.
🌍 „Hat alles für seinen Wirkungskreis“ – Nichts bleibt außen vor
Vyasa betont: Dieses Wissen erfasst alles, was es zu erkennen gibt. Es gibt nichts, das außerhalb seines „Wirkungskreises“ liegt. Kein Gedanke, keine mögliche Handlung, kein Wesen, keine Erfahrung, die nicht unter dieses Licht fiele.
Damit ist nicht gemeint, dass der Yogi in diesem Zustand über eine Art „Google des Kosmos“ verfügt. Sondern eher: Sein Bewusstsein ist so weit, dass alles darin Platz hat – ohne dass es geordnet, sortiert oder erklärt werden müsste. Alles darf da sein. Und in dieser bedingungslosen Gegenwärtigkeit wird alles erkennbar.
🔍 „Hat alle Bedingungen für seinen Wirkungskreis“ – Das Ganze, mit allen Teilen
Was Vyasa hier meint, ist subtil, aber entscheidend: Das unterscheidende Wissen des Yogi erfasst nicht nur das Objekt selbst, sondern auch alle Bedingungen, unter denen es existiert – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Ursachen, Wirkungen, feine Zwischentöne. Es ist ein ganzheitliches Schauen: Der Yogi sieht nicht nur den Baum, sondern auch den Wind, der ihn geformt hat, den Regen, der ihn nährte, und den Samen, der ihn hervorbrachte – auf einmal.
Das bedeutet auch: Dieses Wissen ist nicht selektiv, sondern vollständig. Es schaut das Ding nicht losgelöst vom Ganzen, sondern in Beziehung zu allem, was es bedingt hat – kontextuell, könnte man heute sagen. Und genau das macht es so tiefgründig.
🕰️ „Hat keine Abfolge“ – Jenseits der linearen Zeit
Ein besonders herausfordernder Satz: „Hat keine Abfolge.“ Vyasa meint hier, dass dieses Wissen nicht Schritt für Schritt funktioniert. Es „denkt“ nicht – es sieht.
In der gewöhnlichen Erkenntnis folgen Gedanken aufeinander. Das eine ergibt das andere. Ursache, Wirkung. Linear. Aber das Wissen, von dem Vyasa spricht, ist augenblicklich. Alles erscheint auf einmal, wie in einem flackernden Moment absoluter Klarheit. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – sie sind nicht getrennt, sondern liegen wie übereinandergelegte Folien im selben Lichtkegel.
Ein Vergleich: Stell dir vor, du blickst nicht mehr auf die Noten einer Melodie in Reihe, sondern du hörst das ganze Musikstück auf einmal. Ein einziger Moment reicht, um alles zu durchdringen.
✨ „Dies ist das gesamte unterscheidende Wissen“ – Mehr als nur Yoga
Am Ende sagt Vyasa: „Dies ist das gesamte unterscheidende Wissen. Das Licht des Yoga ist nur ein Teil davon.“
Das ist bemerkenswert: Er macht deutlich, dass selbst das, was der Yoga an Erkenntnis schenkt – madhumatī, die süße, lichtvolle Stufe der Einsicht – nur ein Abschnitt auf dem Weg ist. Das unterscheidende Wissen (viveka-khyāti) ist mehr als yogische Erkenntnis. Es ist der Gipfel, der Punkt, an dem das Ich sich auflöst in das, was bleibt.
Vyasa bleibt hier fast nüchtern – aber gerade das verleiht dem Satz Wucht. Denn er sagt damit indirekt: Selbst der Yoga ist nur ein Werkzeug. Was zählt, ist das, was durch ihn sichtbar wird – die Essenz der Wahrheit, nicht der Weg dorthin.
🧘♀️ Was heißt das für die Praxis?
Diese Auslegung mag philosophisch klingen, aber sie hat eine ganz praktische Konsequenz:
Du kannst dieses Wissen nicht „lernen“ wie Vokabeln. Du kannst es auch nicht beschleunigen oder „wollen“. Aber du kannst dich darauf vorbereiten, indem du still wirst. Indem du lernst, genauer hinzusehen – nicht nur auf das, was du tust, sondern auf das, woher dein Erkennen kommt. Du kannst üben, die Welt nicht nur als Summe von Dingen, sondern als Zusammenklang von Bedingungen zu sehen.
Und manchmal – vielleicht mitten in einer schlichten Alltagshandlung – öffnet sich für einen Moment der Blick, und du siehst mehr als die Dinge. Du siehst das Ganze. Nicht mit den Augen, sondern mit einem Wissen, das sich nicht denken lässt, aber dennoch sicher ist.
Genereller Übungsvorschlag zu Sutra III-55
In den letzten Sutras betont Patanjali die Früchte vom vollumfänglichen Leben in diesem Moment. Suche diese Woche darum immer wieder den jetzigen Moment auf, spüre durch deinen Körper, schaue deine Gedanken und Gefühle an, beobachte die Abfolge der Augenblicke.
Meine Erkenntnisse/Erfahrungen bei/mit dieser Übung
... oder kannst du eine andere Übung zum besseren Verständnis bzw. zum Erfahren dieser Sutra ergänzen?
Siehe auch folgende Sutras
Yoga Sutra I-36: Oder durch Konzentration auf ein inneres Licht, das frei von Leid ist
Yoga Sutra II-34: Gedanken und Zweifel, die zu schädigendem Verhalten führen – egal ob dies selbst getan, in Auftrag gegeben oder nur begünstigt wird, egal ob durch Gier, Ärger oder Verblendung motiviert, egal ob in der Ausführung mild, mittelmäßig
Yoga Sutra II-52: Wenn dies erreicht ist, löst sich der Schleier um das innere Licht auf
Yoga Sutra III-36: Weltliche Erfahrungen wie Vergnügen und Genuss beruhen (nur) auf der fehlenden Unterscheidung zwischen dem wahren Selbst (Purusha) und dem eigenen (reinen/sattvigen) Intellekt (Buddhi).
Ergänzungen und Fragen von dir zur Sutra
Ist etwas unklar geblieben? Kannst du etwas ergänzen oder korrigieren?
Der Stoff der Sutras ist für uns heutige Menschen nicht leicht zu verstehen. Ist im obigen Text irgendetwas nicht ganz klar geworden? Oder kannst du etwas verdeutlichen oder berichtigen? Eine eigene Erfahrung schildern ... Vielen Dank vorab für jeden entsprechenden Hinweis oder eine Anregung:
Videos zu Sutra III-55
Das höchste Wissen – Kommentar von Sukadev zu Yoga Sutra – Kap. 3, Vers 55
Länge: 3 Minuten
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Was ist "Vivek Jnana"? – Kommentar von Anvita Dixit zu Yogasutra 3.55 (bei ihr Sutra 3.54)
Länge: 6 Minuten
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Video von Ahnand Krishna zur Sutra
Kräfte von Samyama, Class 62: Asha Nayaswami zu Sutra 3:53-4.1
Länge: 74 Minuten
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