mann spiegel bart klar 250Sattva-purushayoh shuddhi-sâmye kaivalyam
सत्त्वपुरुषयोः शुद्धिसाम्ये कैवल्यम्

Wer sich mit dem Yogasutra 3.56 beschäftigt, stößt auf eine radikal klare Aussage: Wirkliche Befreiung geschieht, wenn der Geist so durchsichtig wird, dass nichts als das Selbst durch ihn leuchtet. Klingt poetisch? Ist es auch – aber dahinter verbirgt sich eine präzise spirituelle Mechanik, die man fühlen, üben und manchmal sogar messen kann. In diesem Artikel findest du eine Annäherung an diese Sutra: mit klassischen Kommentaren, modernen Perspektiven und Praxisanleitungen.

Kurz zusammengefasst

  • Yogasutra 3.56 erklärt den Endpunkt des Yogawegs: Wenn Sattwa (die innere Intelligenz) so rein ist wie Purusha (das wahre Selbst), wird Kaivalya, die vollständige Befreiung, erreicht.
  • Vyāsas Kommentar vertieft den philosophischen Kern: Befreiung geschieht, wenn der Geist durch alle Reinigungsprozesse hindurch nur noch Purusha als Objekt behält – egal, ob mit oder ohne intellektuelles Unterscheidungsvermögen.
  • Klassische und moderne Interpretationen zusammengeführt: Stimmen von Vyāsa, B.K.S. Iyengar, Georg Feuerstein u. a. zeigen unterschiedliche Perspektiven auf das Zusammenspiel von Buddhi, Sattwa und Kaivalya.
  • Praxistaugliche Umsetzung mit Samyama: Konkrete Meditationsanleitungen und Reflexionsimpulse ermöglichen es, das Sutra direkt auf dem Kissen und im Alltag zu üben.
  • Wissenschaftliche Studien liefern Belege: Neurowissenschaftliche Arbeiten stützen die yogische Idee, dass geistige Klarheit, Selbstwahrnehmung und Unterscheidungskraft durch Meditation gefördert werden.

Details und Erläuterungen zu allen Punkten im weiteren Artikel.

Bedeutung und Übersetzung des verwendeten Sanskrits

Hier sind zunächst die Übersetzungsmöglichkeiten für die einzelnen Wörter, damit du die Übersetzung selbst für ein besseres Verständnis anpassen kannst:

  • Sattva = Reinheit; eine der drei Gunas; klar; Sein; Dasein; reiner Geist; 
  • Purusha, puruṣa = Bewusstsein; wahre Natur; wahres Selbst; Seele;
  • Shuddhi, śuddhi = Reinheit; Klarheit; Läuterung; Reinigung;
  • Samya, sāmya, sâmye, samye = Gleichheit; Ähnlichkeit; Gleichmäßigkeit; Gleichgewicht; Gleichsein; Identität;
  • Kaivalya, kaivalyam = Befreiung; Erlösung; Freiheit; All-Eins-Sein; Alleinsein;

Übersetzungsvarianten und -hinweise (Quellen)

Hervorhebungen weisen auf Besonderheiten der jeweiligen Übersetzung hin. Übertragungen aus dem Englischen sind Eigenübersetzungen.

  • Roots: „Wenn der reine Intellekt und das Selbst gleichermaßen rein sind ...“
  • Sukadev: „... gleiche Reinheit in purusha und sattva ...“
  • Deshpande/Bäumer: „Wenn die absolute Reinheit in dem psycho-physischen Wesen (sattva) und im >inneren Menschen< (purusa) gleich ist ...“
  • Dr. R. Steiner: „... wenn die Reinheit der physischen Natur dem wahren Selbst (Purusha) ähnlich wird.“
  • Coster: „-“
  • Feuerstein: „... so [ist das] Alleinsein [der Macht der Schau] fest begründet.“
  • Paul Deussen (1908): „Nachdem Sattvam und Purusha gleicherweise geklärt sind, erfolgt Absolutheit."
  • R. Palm: „Sind Sein und Geistseele ... vollkommene Unabhängigkeit.“
  • R. Sriram: „... so ist Kaivalya [die Freiheit] errungen.“
  • Govindan: „... liegt die totale Befreiung.“
  • Iyengar: „... hat der Yogi Kaivalya erreicht, die Vollendung im Yoga.“
  • Chip Hartranft: „Sobald die Leuchtkraft und Transparenz des Bewusstseins so destilliert sind wie das reine Bewusstsein ... “
  • R. Skuban: „Wenn das Bewusstsein so rein geworden ist wie Purusha ...“
  • T.K.V. Desikachar: „Wenn unser Geist mit dem in uns, was erkennt, vollständig identisch ist ...“
  • G. Pradīpaka: „Wenn Gleichheit (sāmye) der Reinheit (śuddhi) zwischen Buddhisattva -- d.h. sattvischer Buddhi -- (sattva) (und) Puruṣa (puruṣayoḥ) besteht ...“
  • 12koerbe.de (dort: 55): „wenn Seinslicht und Allgeist in Reinheit übereinstimmen ...“
  • Hariharananda Aranya: „... findet die Befreiung statt.“
  • I. K. Taimni: „... wenn Gleichheit der Reinheit zwischen Parusa und Sattva besteht.“
  • Vyasa Houston: „... - Kaivalya - das Alleinsein (des Sehens).“
  • Barbara Miller: „Absolute Freiheit entsteht, wenn ...“
  • Swami Satchidananda: „Wenn der ruhige Geist Reinheit erlangt, die der des Selbst gleichkommt ...“
  • Swami Prabhavananda: „... wenn der Geist so rein wird wie der Atman selbst.“
  • Swami Vivekananda: „Durch die Ähnlichkeit der Reinheit zwischen dem Sattva und dem Purusa ...“
  • Wim van den Dungen (buddhistischer Kommentar zum Yogasutra): „... mit der Gleichheit in der Reinheit des Seins & Purusa ...“
  • Rainbowbody: „... werden die Hindernisse beseitigt (suddhi) und somit das Tor zu kaivalyam (absolute, erhabene Auflösung des Selbst/Ego, was nichts anderes als bedingungslose Befreiung ist) offengelegt und geöffnet.”

Zu den Quellen

Buchbesprechungen, Erläuterungen zur Auswahl der Übersetzungsvarianten und allgemeine Hinweise zur Sutraübersetzung findest du im zugehörigen Artikel. Hier nun die Kurzauflistung:

Bücher

Internetseiten

Weitere Quellen, z. B. zu aktuellen Studien, sind direkt im Text verlinkt.

Dein Übersetzungsvorschlag

Du findest die bisherigen LeserInnen-Übersetzungen und -Ergänzungen unten.

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Wie würdest du diese Sutra übersetzen? Manchmal ergeben schon kleine Wortveränderungen ganz neue Aspekte. Trau dich ... :-)

 

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Einordnung dieser Sutra im Yogasutra

Samyama ist die Schlüsselübung im dritten Kapitel des Yogasutra zum Erreichen der geistigen Kräfte. In den Sutras III-1 bis III-7 erläutert Patanjali zunächst, was Samyama ist: die Kombination aus

  • Dharana (Konzentration),
  • Dhyana (Meditation) und
  • Samadhi (Überbewusstsein).

In Sutra III-8 ergänzt er dann, dass der Yogi zur Erlangung der Erleuchtung über Samyama hinausgehen muss.

In den Sutras III-9 bis III-15 geht es weiter mit Erläuterungen, welche Wandlung der Geist (Chitta) vollziehen muss, um Samyama bis zur Perfektion ausüben zu können. Aufeinander aufbauend sind das die Stadien

  1. Nirodha-Parinama (Wandel durch Sammlung, einfache Konzentration),
  2. Samadhi-Parinama (Wandlung durch länger andauernde Konzentration) und
  3. Ekagrata-Parinama (Wandel/Transformation durch vollkommene Versenkung auf einen Punkt/ein Thema). 

Der notwendige Wandel des Geistes erfolgt nach und nach, ist keine sprunghafte Entwicklung.

In den Sutras III-16 bis III-49 macht Patanjali eine ganze Reihe von Vorschlägen, worauf man Samyama lenken könnte und welche Folgen (Siddhis = Kräfte, besondere Erkenntnisse) sich jeweils daraus ergeben.

Sutra III-56 ist krönender Abschluss des dritten Kapitels des Yogasutras: Wenn der menschliche Geist so rein wird wie sein wahres Selbst (Purusha), dann hat dieser Mensch Kaivalya, die absolute Freiheit, das Ziel des Yoga, erreicht.

Besondere Kräfte (Siddhis) mit Samyama erlangen

Besondere Kräfte (Siddhis) mit Samyama erlangen

Patanjalis Anleitungen zur Erlangung der Siddhis lauten generell, dass der Praktizierende Samyama gezielt auf ein Meditationsobjekt anwendet. Samyama ist die Verbindung aus anhaltender Konzentration, Meditation und schlussendlich Samadhi (Überbewusstsein) auf ein Objekt der Meditation. Skuban sieht den Vorgang von Samyama als “mentales Eindringen in ein Objekt, das den Übenden schließlich zu den feinstofflichsten Bereichen des Seins führt.” Dadurch werden die drei Eigenschaften (siehe Sutra III-13) eines Objektes voll erkannt. So wird das Objekt voll verstanden und über die Gunas auch beherrschbar. Alle Objekte sind nämlich laut Yogalehre Erscheinungsformen der drei Gunas, auch das Bewusstsein des Menschen. Der Yogi diszipliniert sein Bewusstsein und kann über bzw. in Samyama die Gunas auch außerhalb seines Bewusstseins beeinflussen oder verändern. So erklären sich gemäß Yogalehre die Siddhis. 

Vibhutis, der andere Name für die Siddhis, bedeutet wörtlich weg (vi) von den Elementen (bhutas) und steht damit laut einiger Kommentatoren auch für die Abwendung von der Identifikation mit den materiellen Grundlagen unseres Lebens, yogisch: Prakriti. Hin zur Erkenntnis unserer wahren Natur: Purusha.

Die Sutras III-16 bis III-49  nennen die Objekte, auf die ein Yogi seine Samyama-Konzentration legen sollte, um besondere Kräfte zu entfalten. Iyengar betont jedoch, dass diese Siddhis sich erst bei weit fortgeschrittenen Yoga-SchülerInnen zeigen.

Ergänzend: Lange Pranayama-Praxis soll spontane Siddhis triggern können. Gerade Wechselatmung über Monate hinweg wird in manchen Berichten als „geistöffnend“ beschrieben – mit plötzlichen Hörerlebnissen oder Visionen.

Was ist Samyama?

Was ist Samyama?

Samyama besteht aus drei Stufen: Dharana (Konzentration), Dhyana (Meditation) und Samadhi (Überbewusstsein). Nur die erste Stufe von Samyama, die Konzentration auf ein Objekt, lässt sich willentlich steuern. Die darauf aufbauenden Geisteszustände Dhyana (Meditation) und Samadhi (Überbewusstsein) müssen sich laut der meisten Kommentatoren des Yogasutras von alleine einstellen und werden durch lang anhaltende Konzentration und Beseitigung der Geisteshindernisse erlangt. Feuerstein bezeichnet Samyama als 'Bündelung' von Konzentration, Meditation und Samadhi. Du findest Samyama ausführlicher in den ersten Sutras des dritten Kapitels des Yogasutra hier auf yoga-welten.de besprochen. Siehe vor allem:

Yoga Sutra III-4: Die drei (Dhahrana, Dhyana, Samadhi) zusammen auf ein Objekt oder einen Ort angewendet wird Samyama genannt

Zur Sutra


Yoga Sutra III-5: Aus der Meisterung von Samyama entsteht vollkommenes Wissen über das Wahrgenommene

Zur Sutra


Yoga Sutra III-6: Der Fortschritt im Samyama erfolgt in Stufen

Zur Sutra


Voraussetzungen und Umgang mit den Siddhis

Empfehlungen zu Voraussetzungen und zum Umgang mit den Siddhis

Viele Kommentatoren empfehlen, mit den Siddhis sehr bewusst umzugehen. Folgendes wird oft geraten:

Wer sich den Siddhis zuwendet, sollte die Yamas und Niyamas in seinem Leben verwirklicht haben. Diese sind:

Die Yamas – Selbstkontrolle

  • Ahimsa – Gewaltlosigkeit
  • Satya – Wahrhaftigkeit
  • Asteya – Nicht-Stehlen
  • Brahmacharya – Wandel in Brahma / Selbstbeherrschung / Enthaltsamkeit
  • Aparigraha – Nicht-Greifen, Verzicht auf Gier

Niyamas – Verhaltensregeln

  • Saucha – Reinheit
  • Santosha – Zufriedenheit
  • Tapas – Selbstzucht
  • Svadhyaya – Selbststudium (Studium)
  • Ishvarapranidhana – Verehrung des Göttlichen

Siehe dazu die Erläuterungen in "Yamas und Niyamas im täglichen Leben".

Siddhis sollten nicht zum Vergnügen, zur Selbsterhöhung oder anderen ungünstigen, egoistischen Zielen angewendet werden. Vielmehr zeigen die Siddhis (so Iyengar und andere), dass die Yogapraxis “richtig angelegt” sei.

Selbstverständlich sollte man Siddhis auch nicht dazu nutzen, um jemand anderen damit zu schaden.

Stattdessen wird eher ein “Nicht-Beachten” der Siddhis angeraten, wenn diese sich denn zeigen sollten. Iyengar schreibt, (S. 244), die Übungen bei Auftreten der Siddhis mit Glauben und Begeisterung weiterzuentwickeln, die Siddhis aber mit völligem Gleichmut zu betrachten.

Dem Yogi wird also geraten, sich nicht auf die Siddhis einzulassen, sich nicht von ihnen “mitreissen zu lassen”, um sie nicht für eigenen selbstsüchtige Bedürfnisse zu verwenden, woraus späteres Leiden folgen würde. Stattdessen solle er/sie weiter auf dem Pfad der Befreiung zu wandeln und die Siddhis eher als Prüfung ansehen, ob man nicht doch noch - trotz fortgeschrittener yogischer Entwicklung - den Verlockungen der Dualität und des Ego-Daseins nachgibt.

Swami Sivananda sagt über Siddhis:

„Yoga ist nicht dazu da, Siddhis, Kräfte, zu erlangen. Wenn ein Yogaschüler die Versuchung verspürt, Siddhis zu erlangen, wird sein weiterer Fortschritt ernsthaft verzögert. Er hat den Weg verloren. Ein Yogi, der darauf konzentriert ist, höchsten Samadhi zu erreichen, muss Siddhis zurückweisen, wo auch immer sie auftauchen. Siddhis sind Einladungen von Devatas. Nur wenn man diese Siddhis zurückweisen kann, kann man Erfolg im Yoga erlangen.“

Im tibetischen Buddhismus werden vergleichbare Fähigkeiten „Shes-rab“ genannt. Auch dort: klare Intuition, inneres Sehen, spontane Einsicht – aber nie als Ziel, sondern als Prüfstein für Demut.

Missverständnisse rund um Siddhis

Die Aussicht auf übernatürliche Kräfte fasziniert viele – und genau darin liegen einige häufige Missverständnisse begründet. Ein Irrglaube besteht darin, dass Yoga hauptsächlich dazu diene, solche Siddhis zu erlangen. Tatsächlich betont die Tradition jedoch, dass Siddhis eher Nebenprodukte auf dem spirituellen Weg sind, nicht sein Zweck. Patanjali selbst stellt im unmittelbar folgenden Sutra klar, dass diese Fähigkeiten für einen im Samadhi befindlichen Geist Upasarga – also Störungen oder Ablenkungen – darstellen, auch wenn sie in einem nach außen gewandten Bewusstseinszustand als außergewöhnliche Errungenschaften erscheinen mögen. Yogameister wie Vyasa und später Vivekananda haben daher immer wieder gemahnt, die Siddhis nicht zu überschätzen: Sie seien wie Blüten am Wegesrand – schön und bemerkenswert, aber man sollte nicht vom Weg abkommen, um nur noch Blumen zu pflücken.

Ein weiteres Missverständnis liegt darin, jede ungewöhnliche innere Wahrnehmung sofort für eine echte siddhische Fähigkeit zu halten. Insbesondere wenn Übende beginnen, sich intensiv mit Meditation zu beschäftigen, können imaginäre Bilder, Lichterscheinungen oder akustische Phänomene auftauchen. Die Yoga-Tradition fordert hier Viveka, das unterscheidende Erkenntnisvermögen: Handelt es sich wirklich um eine valide intuitive Einsicht (Pratibha) oder nur um eine Wunschprojektion des Geistes? Echte spirituelle Intuition wird traditionell durch bestimmte Qualitäten kenntlich gemacht – sie geht einher mit tiefer innerer Stille, Klarheit und Gewissheit, ohne Aufregung oder Ego-Stolz. Hingegen sind halluzinatorische Erlebnisse oder irrige „Eingebungen“ oft dramatisch, emotional aufgeladen oder selbstbezogen. Es ist ein bekanntes Risiko, dass ein Yogi, der sich zu früh auf Siddhis fokussiert, Opfer von Täuschungen werden kann. Beispielsweise könnte man glauben, die Gedanken anderer lesen zu können, während man in Wirklichkeit eigenen Fantasien nachhängt.

Schließlich gibt es das Missverständnis, Siddhis seien ein Zeichen von Erleuchtung oder spiritueller Vollendung. Historische Berichte zeigen jedoch, dass auch wenig ethische oder unreife Personen zeitweise paranormale Fähigkeiten aufweisen konnten – was nicht mit wahrer Heiligkeit gleichzusetzen ist. Im Yoga wird daher gelehrt, die Siddhis weder zu verteufeln noch zu vergötzen. Sie dürfen auftauchen, doch der richtige Umgang ist entscheidend: Ein reifer Yogi nimmt sie wahr, schenkt ihnen aber wenig Bedeutung und bleibt dem höheren Ziel, Kaivalya (der völligen Befreiung), verpflichtet. Missverständnisse klären sich letztlich durch Erfahrung und Anleitung: In der traditionellen Guru-Schüler-Beziehung wurden auftauchende Siddhi-Erlebnisse vertraulich besprochen, um sicherzustellen, dass der Schüler nicht in Fallen wie Egoismus oder Ablenkung tappt. So soll auch der moderne Übende verstehen, dass Wunder im Yoga-Kontext Prüfsteine der Haltung sind – sie verlangen nach noch mehr Demut, Vairagya und Konzentration auf den eigentlichen Weg.

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Schlüsselbegriffe dieser Sutra

  • Sattwa – Im Kontext von Yoga-Sutra 3.56 wird Sattwa meist als die reinste Form des Geistes oder Intellekts (Buddhi) angesehen. Es handelt sich um den klarsten, durchscheinenden Aspekt des Denkprinzips, der frei von Unreinheiten oder Trübungen ist.
  • PurushaPurusha bezeichnet das wahre Selbst, die reine Bewusstheit jenseits aller Veränderungen. Es ist der unveränderliche Beobachter, völlig unabhängig von der Materie (Prakriti) und den Aktivitäten des Geistes. Purusha wird in den Kommentaren als ewig rein und frei beschrieben – der stille Zeuge allen Geschehens.
  • KaivalyaKaivalya bedeutet Befreiung oder vollkommene Unabhängigkeit des Selbst. Wörtlich heißt es „Alleinsein“ (Isolation) im spirituellen Sinn. Kaivalya wird erreicht, wenn Sattwa und Purusha in ihrer Reinheit völlig übereinstimmen – der Geist spiegelt dann das Selbst so rein wider, dass nichts als unverfälschtes reines Bewusstsein übrig bleibt. Es ist der Endzustand des Yoga, in dem der Yogi in seiner wahren Natur ruht und absolute Freiheit erfährt. Mehr dazu unten.

Klassische und moderne Interpretation von Yoga-Sutra 3.56

In den klassischen Kommentaren wird hervorgehoben, dass Patanjali hier den Abschluss des spirituellen Weges beschreibt. Sattwa wird dabei mit dem Buddhi, dem Intellekt oder inneren Geistprinzip, gleichgesetzt. Gemeint ist der Geist in seinem absolut geklärten Zustand, frei von allen Eindrücken der anderen beiden Gunas (Rajas und Tamas). Ist dieser Geist so rein wie der Purusha selbst, verliert er seine eigenständige Wirksamkeit – er wird gewissermaßen durchsichtig. Die klassische Lehre sagt, der Intellekt werde im Moment der Gleichheit mit Purusha „vernichtet“, so dass Purusha allein in seiner vollen Größe und Freiheit verbleibt. Dieses völlige „Alleinsein“ des Bewusstseins ist Kaivalya. Die uralten Samkhya-Philosophen formulierten es so: Sobald Purusha seine eigene isolierte Natur vollständig erkennt, ziehen sich die Gunas (die Urkräfte der Natur) zurück und werden inaktiv. Nichts in der materiellen Welt hat dann noch Einfluss auf den Yogi – er hat die Vollendung erreicht.

Was meint Reinheit?

Roots schreibt: „Wenn der reine Intellekt (Buddhhisattva), gereinigt von den Unreinheiten der Leidenschaft (Rajas) und Trägheit (Tamas), sich nur mit der Erkenntnis seines Unterschieds zum Selbst befasst und seine Keime des [weiteren] Leidens verbrannt werden, dann ist es ist, als ob es genauso rein geworden wäre wie das Selbst.”

Rajas liebt Veränderung, Tamas liebt Stillstand – doch Sattwa liebt Wahrheit. Alle drei sind notwendig – keiner ist „böse“.

Iyengar schreibt, dass alle Hüllen der Seele so rein werden müssen wie purusha, die Seele, selbst. Dann kommt es zur Harmonie, dann können die Gunas den Yogi nicht mehr einschränken. Der Schleier der Unwissenheit ist gelüftet.

Darum sei es für einen Yogi so wichtig, sich völlig zu reinigen. Körperlich und geistig. Sich von allen Wünschen und Abneigungen zu befreien, reine Nahrung zu sich zu nehmen und auch bei der geistigen Kost auf Reinheit zu achten. Bei den eigenen Worten, dem Umgang mit Mit-Lebewesen auf Reinheit abzielen.

Der reine Geist sei, so Desikachar, frei von jeder Färbung, “frei von jeder aus ihm selbst heraus entstehenden Charakteristik”.

Man könnte sagen, Patanjali beschreibt hier den Augenblick, in dem der Spiegel des Geistes absolut makellos geworden ist. Der Geist reflektiert das Licht des Selbst 1:1 – ohne Verzerrung, ohne Ablenkung. Theoretisch klingt das fast schlicht: Bring deinen Geist zur völligen Klarheit, und voilà: Befreiung. Doch jeder, der schon einmal versucht hat, seine Gedanken im Meditation-sitz zur Ruhe zu bringen, weiß um die Herausforderung. Diese Sutra zeigt jedenfalls die Richtung auf: Die höchste Yoga-Erkenntnis (viveka-jñāna) besteht darin, selbst feinste Unterschiede wahrzunehmen und schließlich Geist und Seele als getrennt, aber gleich rein zu erkennen. Der Yogi unterscheidet also so lange, bis kein Schleier der Unwissenheit mehr bleibt – dann stellt sich jene vollkommene innere Freiheit ein, die Patanjali Kaivalya nennt.

Sattwa ist nicht das Ziel, sondern das letzte Werkzeug. In der klassischen Sicht ist sogar Sattwa ein Hindernis, wenn man daran haftet.

Kaivalya, Befreiung

Viele Yogis halten Samadhi für das Ziel des Yogaweges – doch Patanjali geht weiter: Erst nach dharma-megha-samadhi beginnt der Zustand jenseits aller Zustände: Kaivalya.

Was bedeutet das Erreichen von Kaivalya für die/den Yogi(ni)? Sukadev beschreibt, dass das Universum dann für diese(n) aufhöre zu existieren. Prakriti, die Natur/das Universum, höre auf zu arbeiten. Man sei endgültig befreit und ruhe im bzw. sei Teil vom Unendlichen.

Eigentlich sei jeder schon dieser Purusha. Man müsse halt nur rein genug werden …

Feuerstein übersetzt Kaivalya mit “Alleinsein”. Hier sei die “transzendentale Verwirklichung” mit dem Selbst (Purusha) als einzige Wirklichkeit gemeint.

Die lang gepflegte Meditation, so Sriram, führt zu der Erfahrung, dass unser Fühlen und Denken eins mit unserem innersten Kern werden.

Moderne Kommentatoren betonen oft die Praxisnähe dieses Sutra. So bedeutet es für heutige Yogis weniger trockenes Philosophieren, sondern eine innere Erfahrung von Klarheit. Stell dir vor, dein Geist wäre so ruhig und klar wie ein Bergsee im Morgengrauen – kein Windhauch kräuselt die Oberfläche. In diesem stillen See spiegelt sich der Himmel vollkommen – so ähnlich soll der Yogi sich in Yoga-Sutra 3.56 fühlen.

Der Geist, vollkommen beruhigt und geläutert von allen Eindrücken, reflektiert das Selbst unverfälscht. „Wenn unser Geist so klar geworden ist, dass er nicht mehr von Konditionierungen befleckt wird, ist die Einheit im unmittelbaren reinen Bewusstsein erreicht“, erläutert ein moderner Yogalehrer treffend. Es gibt dann keine Differenz mehr zwischen Soll- und Ist-Zustand – das Sein fällt zusammen, was der Yogi innerlich ist und was er als Ideal anstrebte, ist nicht länger zweierlei. Dieser Zustand wird auch als reines Sein beschrieben, unverhüllt vom denkenden Geist.

Ein kleines Paradox schwingt in Patanjalis Worten ebenfalls mit: Einerseits bleibt Purusha als Beobachter immer unverändert und getrennt vom materiellen Geist – andererseits soll der Yogi im Moment der Erleuchtung erkennen, dass sein gereinigter Geist dem Selbst an Reinheit völlig gleichkommt. Dieses Gleich-Sein ohne Eins-Werden klingt zunächst widersprüchlich, trägt aber zur endgültigen Loslösung bei: Der Yogi kann weder den Geist noch den Purusha mehr als „mich“ oder „mein“ vereinnahmen. Er haftet an nichts mehr an – nicht einmal an der eigenen spiritualisierten Intelligenz.

Ohne etwas, woran der Verstand sich klammern könnte, kommt das mentale Rauschen tatsächlich zum Stillstand. Übrig bleibt vermutlich nur eine tiefe Stille, in der der Yogi in seinem wahren Wesen ruht. Patanjali umschreibt diesen Endzustand bereits im Anfang des Yoga-Sutra (I.3) als „das Ruhen des Sehenden in seiner wahren Natur“.

Yoga Sutra I-3: Dann ruht der Wahrnehmende in seiner wahren Natur

Zur Sutra


Das Wahre Selbst übernimmt das Ruder

In der Praxis zeigt sich dieses Kaivalya wohl darin, wie man dem Leben begegnet. Ein Yogi, der solch einen Bewusstseinszustand erreicht hat, bleibt unangetastet von äußeren Umwälzungen oder inneren Stimmungsschwankungen. Swami Sivananda beschreibt, der befreite Weise fühle sich „immer frei, unveränderlich, anfangslos und endlos, jenseits von Raum, Zeit und Kausalität“ – völlig gefestigt im Frieden des Selbst.

Moderne Lehrer formulieren es etwas greifbarer: Der Yogi handelt „autonom aus dem Purusha heraus“, unbeeinflusst von den Launen des Körpers oder der Gedanken. Mit klarem Unterscheidungsvermögen erkennt er in jeder Lebenslage, was wahr und wesentlich ist, und lässt sich von den „Schleiern“ der Illusion nicht mehr täuschen. So jemand strahlt im Alltag eine außergewöhnliche Gelassenheit und Freiheit aus – er lebt in der Welt, doch die Welt vermag ihn nicht mehr zu binden.

Purusha sieht nie weg – laut Samkhya ist Purusha der ewig bewusste Zeuge, selbst dann, wenn das Ich sich vergessen hat.

Geht Buddha noch einen Schritt weiter?

Wim van den Dungen interpretiert das Yogasutra vor dem Hintergrund der Lehren des Buddha. Er schreibt zu dieser Sutra: „Wenn „purusa“ und „prakriti“ radikal getrennt worden sind und der Seher erkannt wird, ist das Bewusstsein gleich der Reinheit des Seins selbst, ein Zustand der Verfeinerung, der der essentiellen Reinheit des Sehers entspricht. Dann ist nur noch der Seher anwesend.” Und das ist dann Kaivalya.

Wim van den Dungen übersetzt Kaivalya ebenfalls als Alleinsein und betont, dass der Buddha diesen Zustand auch noch als Leiden ansehen würde. Wenn auch nur als eine „sehr subtile Art von Leiden”.

Wim van den Dungen zieht das Fazit: „Indem er das Erwachen als Alleinsein definierte, tappte unser Lehrer [er meint Patanjali] in die ultimative Falle des Leidens, indem er vergeblich versuchte, das Leid zu vermeiden, indem er sich radikal von ihm isolierte.” Seine Lösung für das Herauskommen aus dieser Falle lautet: „In der richtigen Sichtweise wird das Leiden transzendiert, indem man erkennt, dass keine Substanzen existieren … Dies ist die Umkehrung des Alleinseins und entspringt der Vision der grenzenlosen Ganzheit.”

Mit anderen Worten: Wim van den Dungen empfiehlt dem Yogi, mit dem Erreichen von Kaivalya doch noch einmal in die Lehrreden des Buddha zu schauen, um den spirituellen Weg ganz zum Ende zu gehen.

Wie du Yoga-Sutra 3.56 praktisch üben kannst

Mal ehrlich: So ein Vers wie „Wenn die innere Intelligenz so rein ist wie das Selbst, dann erfolgt Befreiung“ klingt zunächst eher wie ein spirituelles Gedicht als wie eine Anleitung fürs tägliche Üben. Doch gerade in diesen poetischen Formulierungen steckt oft der direkteste Hinweis für deine Praxis. Du musst nur wissen, wo du hinhören musst. Also, wie nähert man sich diesem Sutra ganz konkret? Zwei Wege: auf dem Kissen (in der Samyama-Praxis) – und im ganz normalen Leben (mit all seinen herrlichen Zumutungen).

🧘 Auf dem Kissen: Samyama auf die Reinheit der inneren Intelligenz

Voraussetzungen und Vorbereitungen für Samyama und Siddhis

Voraussetzungen für Samyama und Siddhis

Um Samyama – die kombinierte Praxis von Konzentration, Meditation und Versenkung – erfolgreich üben zu können, müssen bestimmte psychologische und spirituelle Voraussetzungen erfüllt sein. Einig sind sich die traditionellen wie modernen Lehrer, dass der Geist des Übenden ausreichend gereinigt und gesammelt sein muss. Das bedeutet: innere Stabilität, relative Gedankenstille und Freiheit von starken emotionalen Aufwallungen als Grundlage. Es bedarf eines Maßes an Konzentrationskraft, Achtsamkeit und Gelassenheit gegenüber Sinnesreizen, damit die Aufmerksamkeit vollständig nach innen gelenkt werden kann. Besonders hervorgehoben wird die Haltung der Nicht-Verhaftung (Vairagya): Der Yogi soll nicht mehr an gewöhnlichen Sinnesfreuden oder Erfolgserlebnissen hängen, sondern eine innere Unabhängigkeit davon kultiviert haben.

Darüber hinaus betont der yogische Weg, dass die grundlegenden Stufen des Achtgliedrigen Pfades gefestigt sein sollen, bevor man sich höheren Techniken wie Samyama widmet. Konkret bedeutet dies: Yama und Niyama – die ethischen Prinzipien und Selbstdisziplinen – sollten im Leben des Übenden verankert sein, um mentale Unruhe und konflikthafte Begierden zu minimieren. Die Praxis von Asana (Körperübungen) und Pranayama (Atemlenkung) baut Spannungen und Rastlosigkeit ab und stabilisiert Körper und Nerven, was indirekt dem Geist zugutekommt. Pratyahara, das systematische Zurückziehen der Sinne, ist ebenfalls eine entscheidende Vorstufe: Erst wenn die Aufmerksamkeit nicht mehr unwillkürlich von äußeren Eindrücken gesteuert wird, kann echte Konzentration nach innen entstehen. Diese Vorarbeiten schaffen den Nährboden, auf dem Samyama gedeihen kann. Ein Yogi, der Schritt für Schritt diesen Pfad gegangen ist, entwickelt die geistige Stärke und Reinheit, die nötig sind, um tiefe Versenkung zu erreichen – und in deren Folge können Siddhis überhaupt erst auftauchen.

Die Rolle von Entsagung und Ethik (Vairagya, Yama, Niyama)

Entsagung/Nichtanhaftung im Yoga, auf Sanskrit Vairagya, und die ethischen Richtlinien Yama und Niyama gehören zu den fundamentalsten Anforderungen, insbesondere wenn es um den Umgang mit Siddhis geht. Vairagya bedeutet ein inneres Losgelöstsein: der Übende übt sich darin, Verlangen und Anhaftungen aufzugeben – seien es sinnliche Genüsse, materielle Güter oder auch das Streben nach außergewöhnlichen Fähigkeiten. So kann der Yogi in die Tiefe von Samyama gelangen.

Die Geisteshaltung von Vairagya ist auch hilfreich dabei, dass aufkommende Siddhis den Yogi nicht verführen. Nur wer in Gleichmut gegenüber allen Phänomenen bleibt, kann übernatürliche Wahrnehmungen haben, ohne vom eigentlichen Pfad abzukommen. Patanjali nennt Vairagya nicht umsonst bereits im ersten Kapitel als Schlüssel zur geistigen Stille: Das fortwährende Loslassen verhindert, dass der Geist neue Wellen von Begierde und Ego-Stolz bildet.

Ergänzend dazu bilden Yama und Niyama das moralische Fundament. Die fünf Yamas – etwa Gewaltlosigkeit (Ahimsa), Wahrhaftigkeit (Satya) oder Nicht-Gier (Aparigraha) – und die fünf Niyamas – etwa Reinheit (Shaucha) und Selbststudium (Svadhyaya) – sorgen dafür, dass der Charakter und Lebenswandel des Yogis ethisch ausgerichtet sind. Warum ist das so wichtig in Bezug auf Siddhis? Zum einen reinigt moralisches Verhalten das Herz und mindert egoistische Tendenzen, was die Wahrscheinlichkeit von Missbrauch oder falscher Identifikation mit Kräften reduziert. Zum anderen stabilisieren Yama und Niyama den Geist: Ein Gewissen, das frei von Schuld und Zwiespalt ist, kommt leichter zur Ruhe. Traditionell heißt es, dass Siddhis nur einem Yogi dauerhaft und gefahrlos zufallen, der Tugend und Selbstbeherrschung verkörpert. Andernfalls können Machtgefühle, Hochmut oder unethische Versuchungen die Folge sein. Daher lehren die Yogameister, dass jede Erweiterung der Fähigkeiten mit entsprechender Demut und Verantwortungsbewusstsein einhergehen muss – Qualitäten, die durch die Befolgung von Yama und Niyama kultiviert werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Vairagya und die ethische Praxis sind Förderer und Schutzmechanismus auf dem Weg zur höheren Erkenntnis. Sie erleichtern das Eindringen in lang anhaltende innere Stille bei voller Bewusstheit und bewahren den Übenden davor, die Richtung zu verlieren, wenn Siddhis auftauchen. Ein Yogi, der Entsagung übt und ethisch gefestigt ist, wird die verfeinerten Sinneswahrnehmungen zwar registrieren, aber weder missbrauchen noch für wichtiger halten als das letztendliche Ziel – die Erkenntnis des wahren Selbst (Purusha) und die Befreiung.

Vorbereitende Techniken für Samyama und verfeinerte Wahrnehmung

Um den Geist auf Samyama und mögliche subtile Wahrnehmungen vorzubereiten, empfehlen Yogalehrer seit jeher verschiedene unterstützende Techniken. Insbesondere folgende Ansätze haben sich als hilfreich erwiesen:

  • Yama und Niyama hatten wir schon, empfohlen wird auch eine stabile und bequeme Sitzhaltung (Asana).
  • Pratyahara (Zurückziehen der Sinne): In dieser fünften Stufe des Raja Yoga lernt der Übende, die Aufmerksamkeit von äußeren Sinnesobjekten abzuziehen. Praktisch wird Pratyahara z.B. geübt, indem man sich in Entspannung auf innere Wahrnehmungen konzentriert und äußere Reize ausblendet – etwa durch Augen schließen, in Stille sitzen oder Visualisierungen. Dadurch werden die Sinne „nach innen gezogen“. Ein trainiertes Pratyahara ist die Voraussetzung dafür, dass in Samyama die verfeinerten, inneren Sinneswahrnehmungen auftauchen können. Erst wenn die gewöhnlichen Sinnesreize an Macht verlieren, entsteht Raum für das subtile innere Hören, Sehen etc.
  • Pranayama (Atemkontrolle): Gezielte Atemübungen beruhigen das Nervensystem und sammeln den Geist. Durch Regulierung (Patanjali nennt Verlängerung und Verfeinerung) des Atems – etwa mittels tiefer Bauchatmung, Wechselatmung (Nadi Shodhana) oder einfach nur der Verlängerung der Ausatmung – wird der Geist fokussiert und der Energiefluss harmonisiert. Patanjali selbst führt Pranayama als wichtige Vorstufe zu Dharana (Konzentration) an. Ein gleichmäßiger, feiner Atem fördert eine introvertierte Aufmerksamkeit und kann latente Energien (Prana) wecken. Insbesondere fortgeschrittene Pranayamas, die mit Konzentration auf Energiezentren (Chakras) verbunden sind, schulen die Wahrnehmung des inneren Raums. Dadurch wird der Yogi empfänglicher für subtile Empfindungen – eine essenzielle Vorbereitung, um in tiefere Meditation vorzudringen, wo sich Siddhis zeigen könnten.
  • Optional: Yoga Nidra (Yogischer Tiefenentspannungszustand): Yoga Nidra ist eine geführte Meditation, die den Körper in vollständige Entspannung versetzt, während der Geist hellwach bleibt. In diesem Schwebezustand zwischen Wachen und Schlaf treten Gehirnwellen auf, die für Aufnahmefähigkeit und Intuition förderlich sind. Die Praxis von Yoga Nidra hilft, unbewusste Verspannungen und mentale Blockaden abzubauen. Sie schult außerdem die Fähigkeit, bewusst ins Unterbewusstsein hineinzulauschen, ohne einzuschlafen. Diese Fertigkeit – entspannt und zugleich aufmerksam nach innen zu schauen – ist eine direkte Vorbereitung auf Samyama. Ein Yogi, der Yoga Nidra meistert, kann seine Aufmerksamkeit lange nach innen richten, was die Kontinuität von Dharana/Dhyana fördert. Zugleich fördert Yoga Nidra einen Zeuge-Geist („Sakshi-Bhava“), der Phänomene beobachten kann, ohne sich damit zu identifizieren – hilfreich, um etwaige Siddhi-Erfahrungen nüchtern zu betrachten. Hier findest du die konkrete Übungsanleitung.
  • Optional: Japa (Mantra-Wiederholung): Die Rezitation oder mentale Wiederholung eines Mantras gilt als eine der wirkungsvollsten Konzentrationshilfen. Durch Japa wird der rastlose Geist schrittweise beruhigt und auf einen Klang oder eine heilige Silbe ausgerichtet. Das kontinuierliche Wiederholen – ob laut, leise oder innerlich – bündelt die Gedankenströme und führt zu tiefer Meditation. In vielen Yoga-Traditionen heißt es, ein Mantra reinige den Geist und öffne das Herz. Praktisch bewirkt Japa, dass störende Gedanken in den Hintergrund treten und eine spirituelle Schwingung den Vordergrund einnimmt. Dies bereitet auf Samyama vor, indem das Mantra wie ein Anker für Dharana dient und nahtlos in Dhyana übergehen kann. Zudem kann intensives Mantra-Japa dazu führen, dass der Übende das Mantra schließlich innerlich „hört“, ohne aktives Tun – eine Form von subtiler Wahrnehmung, die als Siddhi betrachtet werden könnte (z.B. Nada-Anubhava, das innere Klang-Erlebnis). Selbst wenn solche Phänomene nicht explizit gesucht werden, stärkt Japa in jedem Fall die Konzentration, Hingabe und Vairagya. Diese Qualitäten schützen und begleiten den Yogi, falls sich verfeinerte Sinneswahrnehmungen einstellen.

Zusammengefasst dienen Pratyahara, Pranayama, Yoga Nidra und Japa als (nicht unbedingt notwendige aber) hilfreiche Bausteine in der Vorbereitung auf Samyama. Sie entwickeln die nötige geistige Disziplin, Sammlung und Reinheit, um die im Yoga-Sutra beschriebenen Fähigkeiten zu ermöglichen (garantieren aber deren Auftreten nicht). Gleichzeitig fördern sie die Haltung von Losgelöstheit und innerer Ruhe, sodass der Yogi bereit ist, Siddhis weder zu erzwingen noch zu fürchten, sondern sie im richtigen Geist zu integrieren. Jede dieser Techniken ist für sich schon eine wertvolle Übung; im Zusammenspiel ebnen sie den Weg zu den tieferen Erfahrungen des Yoga – bis hin zur Pratibha, dem aufblitzenden inneren Wissen, und darüber hinaus zum endgültigen Ziel des Yoga, der Verwirklichung des Selbst.

🌀 Samyama-Reife-Check

Samyama – die Kombination aus Konzentration, Meditation und tiefer Versenkung – ist eine hochentwickelte Praxis im Yoga. Doch ist sie für jeden und zu jeder Zeit sinnvoll? Mit diesem kurzen Selbsttest kannst du einschätzen, ob dein Geist bereit ist, sich auf diese subtile Form des inneren Forschens einzulassen.

So geht's: Beantworte die Fragen ehrlich und spontan. Am Ende erhältst du eine Einschätzung und eine Empfehlung für deinen nächsten Schritt.

1. Wie leicht fällt es dir, Gedanken im Geist kommen und gehen zu lassen, ohne ihnen zu folgen?





2. Wie sieht deine Meditationspraxis aktuell aus?





3. Wie reagierst du auf innere Unruhe oder Reizüberflutung?





4. Kannst du dich länger auf ein inneres Objekt (z. B. Atem, Mantra, Lichtpunkt) konzentrieren?





5. Wie gehst du mit spirituellen Erfahrungen um?





6. Hast du das Gefühl, dass deine spirituelle Praxis dich transformiert?





7. Wie reagierst du auf Stille?





Zeitleiste: Pfad zu Samyama und den Siddhis

Diese Zeitleiste zeigt dir die Stufen des Yogawegs, die nötig sind, um in den Zustand von Samyama zu kommen – und wie daraus Siddhis (verfeinerte Sinneswahrnehmungen) spontan entstehen können.

🪷 Yama & Niyama

Ethische Grundlagen & Selbstdisziplin: z. B. Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Reinheit. Sie bereiten deinen Geist auf Tiefe und Klarheit vor.

🧘 Asana

Stabiler, bequemer Sitz. Der Körper wird still, der Atem ruhig – beides ist nötig für längere innere Versenkung.

🌬️ Pranayama

Atemkontrolle als Brücke zur inneren Wahrnehmung, Pantanjali empfiehlt, Ausatmung und Einatmung und Anhalten zu verlängern und zu verfeinern. Dieses Pranayama beruhigt das Nervensystem und bereitet den Geist auf Fokus vor.

👁️ Pratyahara

Zurückziehen der Sinne. Der Blick geht nach innen. Die Außenwelt verliert an Bedeutung. Jetzt beginnt echte Sammlung.

🎯 Dharana

Konzentration auf ein Objekt (z. B. Licht, Atem, Mantra). Der Geist bleibt bei einem Punkt – erste Form von Meditation.

🧘‍♀️ Dhyana

Meditation. Der Fokus wird fließend, mühelos. Es gibt keine Unterbrechungen mehr – reines Verweilen im Beobachteten.

🌌 Samadhi

Verschmelzen mit dem Objekt. Kein „Ich meditiere“ mehr – nur noch reines Sein. Dies ist der Eingang in tiefe Einsicht.

✨ Übergang zu Samyama

Wenn Dharana, Dhyana und Samadhi auf dasselbe Objekt gerichtet sind – ohne Unterbrechung –, kann daraus Samyama entstehen. Dann ist der Geist hochfokussiert, durchlässig und empfänglich für tiefe, intuitive Erkenntnis.

🌟 Was entsteht daraus?

Spontan kann es geschehen, dass sich ein Siddhi zeigt, du z. B. feiner hörst, spürst, siehst – nicht mit den Sinnen, sondern von innen heraus. Denke immer daran: Siddhis sind kein Ziel, aber ein möglicher Meilenstein auf deinem Weg.

Samyama – also Konzentration, Meditation und Versenkung in einem Atemzug – ist laut Patanjali die Königsdisziplin. Und hier wird es spannend: In Sutra 3.56 kannst du Samyama auf Sattwa richten, die durchsichtige, feine Intelligenz deines Geistes. Aber Achtung – hier geht’s nicht um Denken im üblichen Sinne. Du schaust nicht auf Gedankeninhalte, sondern auf die Qualität dessen, was bewusst wahrnimmt.

➤ So könnte deine Samyama-Sitzung aussehen:

  1. Komm zur Ruhe. Setz dich bequem und stabil hin. Schaffe einen inneren Raum – nicht steril, sondern lebendig still.
  2. Spüre den Geist. Nicht die Gedanken, sondern den Raum hinter den Gedanken. Beobachte, wie fein oder grob, klar oder trüb dieser Raum gerade ist. Kein Urteil, nur schauen.
  3. Richte deine Aufmerksamkeit auf die Klarheit selbst. Frage dich innerlich: Wie durchsichtig ist meine Wahrnehmung gerade? Oder: Wie stark ist mein Geist noch von Wollen, Reagieren, Erinnern getönt?
  4. Tauche tiefer. Sobald du merkst, dass dein Geist sich stabilisiert, lass den Fokus los – nicht das Bewusstsein. Gib dich dem Zustand hin, der bleibt, wenn alles andere schweigt.
  5. Spüre die Nähe. In seltenen Momenten kann es sein, dass du das Gefühl hast: Jetzt bin ich ganz nah an dem, was ich wirklich bin. Das ist keine Erleuchtung – aber ein zartes Echo davon.

🪶 Wie fühlt sich das an? Still, weit, fast durchscheinend. Und doch völlig lebendig. Kein „Aha“-Moment mit Trompeten, eher ein flüchtiges „Oh...“, das kommt und vergeht.

Tipp: Taste dich an dieses Samyama heran wie an ein scheues Tier. Je mehr du willst, desto schneller rennt es davon. Je stiller du wirst, desto eher bleibt es sitzen.

Meine Erkenntnisse/Erfahrungen bei/mit dieser Übung

... oder kannst du eine andere Übung zum besseren Verständnis bzw. zum Erfahren dieser Sutra ergänzen?

 

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☕ Im Alltag: Sattwa kultivieren im ganz normalen Leben

Da beißt die Maus kein Faden ab: Wenn du dieses Sutra nur auf dem Meditationskissen übst, bleibst du stecken. Die eigentliche Feinjustierung passiert draußen, im echten Leben: beim Einkaufen, in Gesprächen, im Stau, im Streit, im Alltag eben. Denn da zeigt sich, wie klar oder vernebelt dein Geist wirklich ist.

🛠 Konkrete Übungsideen für den Alltag:

  • „Wie klar ist mein Blick gerade?“
    Stell dir diese Frage mitten im Gespräch. Vor allem dann, wenn du spürst, dass dich etwas triggert. Vielleicht macht dein Gegenüber gerade dicht, kritisiert dich, ist unlogisch. Was passiert mit deiner inneren Intelligenz? Wird sie trüb? Reaktiv? Oder bleibt sie klar, weit, feinfühlig?
    Übung: Nimm dich selbst in diesen Momenten wie unter ein Vergrößerungsglas. Nicht bewerten – nur beobachten. Das ist schon Samyama.
  • „Kann ich den Reiz vorbeiziehen lassen?“
    In der Kaffeeküche erzählt jemand den immer gleichen Unsinn. Dein Gehirn will reagieren. Aber du lässt es. Du atmest. Du spürst die Reibung, doch du gehst nicht mit. Du kultivierst Sattwa – also geistige Durchlässigkeit ohne Reaktion.
    → Das ist nicht Unterdrückung, sondern feine Unterscheidungskraft. Der Unterschied? Unterdrückung spannt den Bauch an. Unterscheidung bringt Ruhe.
  • „Was wäre jetzt die Sicht aus dem Purusha heraus?“
    Ja, das klingt erstmal nicht greifbar. Aber übersetzt könnte es heißen: Wie würde jemand handeln, der nichts braucht, nichts fürchten muss und vollkommen klar sieht? Das kannst du als Mini-Mantra nehmen in hitzigen Situationen – zum Beispiel, wenn du zu schnell urteilst, dich vergleichen willst oder dich überfordert fühlst.
    → Es geht um die kleine innere Drehung: vom Reiz zur Präsenz.
  • Allgemeiner Übungsvorschlag zu Sutra III-56
    Denke darüber nach, was Kaivalya für dich bedeutet. Nutze dann diese Vision als Ausrichtung für deine Motivation.

Diese Sutra liefert dir also in gewissem Sinne einen Kompass: Kläre deinen Geist so weit, dass er das Selbst nicht mehr verdunkelt. Das geht nicht auf Knopfdruck. Aber du kannst es üben – immer wieder. Und manchmal, ganz plötzlich, ist da dieser Moment von Transparenz: Die Gedanken machen Pause, die Welt verliert ihre Kanten – und etwas in dir erkennt sich (irgendwann) selbst.

Was ist für dich der schwierigste Aspekt auf dem Weg zur inneren Klarheit?

 

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Forschungslage zu Sutra III-56: der klare Geist

🧠 Studie zu Achtsamkeit & kognitiver Klarheit

Quelle: Zeidan et al. (2010), Mindfulness meditation improves cognition: Evidence of brief mental training, Consciousness and Cognition

Kernaussage: Schon wenige Tage einfacher Achtsamkeitsmeditation verbessern signifikant Aufmerksamkeit, kognitive Flexibilität und Informationsverarbeitung – also die „Klarheit des inneren Spiegels“, wie Patanjali es nennen würde.

 

🔍 Studie zu Selbstwahrnehmung und innerer Klarheit

Quelle: Farb et al. (2007), Attending to the present: Mindfulness meditation reveals distinct neural modes of self-reference, Social Cognitive and Affective Neuroscience

Kernaussage: Achtsamkeit verändert messbar, wie das Gehirn das Selbst wahrnimmt – es trennt die narrative Selbstbezogenheit von einer erfahrungsbasierten, offenen Gegenwärtigkeit (klingt nach Purusha vs. Buddhi, oder?).

Interpretationsmöglichkeit: Was Patanjali als das Erkennen des Purusha beschreibt, hat die Hirnforschung in andere Worte gefasst: Meditierende aktivieren andere Hirnregionen, wenn sie das Selbst aus einer offenen, gegenwärtigen Perspektive betrachten. Das Selbst wird weniger als Geschichte wahrgenommen – mehr als stiller Beobachter.

🧘 Langzeitstudie zu Meditation und mentaler Disziplin

Quelle: MacLean et al. (2010), Intensive meditation training improves perceptual discrimination and sustained attention, Psychological Science

Kernaussage: Tiefe Meditationspraxis verbessert nicht nur Konzentration, sondern auch die Fähigkeit, feinere Unterschiede zu erkennen – viveka-khyāti lässt grüßen.

Interpretationsmöglichkeit: In der Praxis zeigt sich Sattwa oft als subtile Fähigkeit, feine Unterschiede zu bemerken – zwischen Reiz und Reaktion, Wunsch und Wahrheit. Und tatsächlich bestätigt eine Studie von MacLean et al. (2010): Intensive Meditation schärft unsere Fähigkeit zur Unterscheidung. Oder wie Patanjali sagen würde: Buddhi wird sattwig.

Kommentar von Vyasa zu Sutra 3.56

Erläuterungen zu Vyasa

Vyasa war ein indischer Philosoph des 5. bzw. 6. Jahrhunderts nach Christi, der den ältesten überlieferten Kommentar zum Yogasutra des Patanjali schrieb. Der Text wird Yogabhashya (wörtlich "Kommentar (Bhashya) zur Yogaphilosophie") genannt und um 600 nach Christi datiert. Vyasas Kommentare zu den Sutras sind oftmals recht kurz.

Ohne Vyasas Kommentar wären viele Sutras heute fast unverständlich. Manche Gelehrte sagen, der Text ist erst durch den Kommentar wirklich „lesbar“.

Vyāsa war vielleicht/wahrscheinlich kein einzelner Autor, sondern ein Titel, der mehrere Kommentatoren der indischen Tradition umfasst. Die Stimme, die wir im Yogasutra-Kommentar hören, ist also vielleicht ein Chor.

Vyasas Yogabhashya wurde im 8./9. Jh. von Shankara (788–820 n. Chr, indischer Gelehrter, Vedanta-Philosoph, Begründer der Advaitavedānta-Tradition) kommentiert. Sein Kommentar nennt sich Yogabhashyavivarana, Vivarana ist ein Unterkommentar.

Auch Vachaspati Mishra hat einen frühen, berühmten Kommentar zum Yogasutra geschrieben. (Meine Quellen für diese Kommentare waren unterschiedliche Bücher und Webseiten, zum Beispiel Legget (siehe Literatur) und wisdomlib.org/hinduism/book/yoga-sutras-with-commentaries/). Ich gebe hier diese Kommentare in für mich relevanten Auszügen in Worten wieder, die für mich den Sinn in heutigen Worten am besten wiedergeben. Dies ist explizit kein Bemühen, die Originalkommentare wortgetreu wiederzugeben. Fehlinterpretationen sind natürlich in meiner Verantwortung.

Du siehst etwas anders, hast einen Fehler gefunden oder möchtest etwas ergänzen? Bitte schreibe dies unten bei "Ergänzungen von dir".

Die Kommentare von Vyasa, Mishra und Shankara sind oft wörtlich übersetzt worden, zum Beispiel bei den oben angegebenen Quellen.

Was bedeutet es eigentlich, wenn Geist und Purusha „gleich rein“ werden? In seinem Kommentar zum Yogasutra 3.56 greift Vyāsa tief in die Schatztruhe yogischer Metaphysik – und serviert uns eine Kostprobe spiritueller Endzustände, die es in sich haben. 

🧠 Wenn Geist und Selbst gleich rein sind

Vyāsa beschreibt diesen Moment als einen, der über jegliches Wollen hinausgeht. Ob jemand bereits unterscheidendes Wissen (viveka-khyāti) besitzt oder nicht – wenn der Geist so durchlässig, klar und sattwig geworden ist, dass er dem reinen Purusha gleichkommt, tritt ein radikaler Wendepunkt ein: Kaivalya, die absolute Unabhängigkeit.

Was bedeutet das?
Reinheit ist hier kein moralischer Begriff. Sie meint die vollständige Abwesenheit von Verfälschung – keine Gier, kein Widerstand, kein Automatismus. Der Geist – in seiner Essenz – reflektiert das Selbst so ungetrübt, dass keine Differenz mehr besteht. Und das, sagt Vyāsa, reicht aus. Ob du ein Gelehrter bist oder ein ganz normaler Mensch: Wenn dieser Zustand erreicht ist, ist Befreiung da.

🧹 Der Geist wird gereinigt – und dann entlassen

Vyāsa malt ein eindrucksvolles Bild: Die Guṇas – diese drei alles durchdringenden Qualitäten von Natur und Geist (Tamas, Rajas, Sattwa) – erfüllen irgendwann ihren Zweck. Wie eine Schaufel, die man benutzt hat, um etwas auszugraben – und dann zur Seite legt.

Der sogenannte „werdende Wille“ (eine schöne Umschreibung für den inneren Antrieb, das Ich-bin-Ich zu stärken) wird geläutert – sprich: vom Einfluss von Rajas (Unruhe, Aktivität) und Tamas (Trägheit, Vernebelung) befreit. Was übrig bleibt, ist ein durchscheinendes inneres Bewusstsein, das nur noch Purusha als Gegenstand hat.

Es ist, als wäre der Geist zur Ruhe gekommen, weil er endlich nichts mehr will – nicht einmal Erkenntnis. Denn, wie Vyāsa sagt:

„Der, in dem der Same des Leidens verbrannt ist, braucht kein Wissen mehr.“

🔥 Wenn alles Brennmaterial aufgebraucht ist

Dann verwendet Vyasa eine kraftvolle Metapher: Die Samen des Leidens verbrennen. Und was passiert, wenn nichts mehr brennt? Richtig – es gibt keine Hitze, kein Leiden, keine neuen Gedankenwellen, keine Reaktionen. Das Feuer des Geistes hat sich selbst verzehrt. Und das Wissen, das uns vorher als Werkzeug gedient hat, wird – fast beiläufig – zurückgelegt.

Es geht nicht mehr um Wissen über etwas. Sondern um das, was bleibt, wenn nichts mehr zwischen dir und dem Sein steht.

Und jetzt kommt der eigentliche Knaller: Selbst jemand ohne systematisches Unterscheidungswissen (ohne Philosophie, ohne Yogalehrerausbildung) kann diesen Zustand erreichen – sofern die innere Essenz (Buddhi) gereinigt ist. Kein Zertifikat oder Studium nötig.

🌞 Wenn die Welt aufhört, sich zu zeigen

Vyāsa schreibt weiter: Wenn keine Unwissenheit mehr da ist, wenn keine Reaktionen mehr aus altem Schmerz geboren werden – dann gibt es auch keine Handlungen mehr mit karmischen Folgen. Keine neuen Eindrücke, keine Anhaftungen, keine Wünsche. Die Guṇas, diese unermüdlichen Architekten deiner Erfahrung, hören einfach auf, sich zu zeigen. Sie wissen: Job erledigt.

Und dann?
Dann bleibt Purusha allein zurück, still, leuchtend, unabhängig – kevala, wie es im Sanskrit heißt.

Fazit: Freiheit ist kein Verdienst – sondern ein Zustand

Vyāsa öffnet in diesem Kommentar ein Tor: Der Zustand völliger Befreiung ist nicht Ergebnis einer To-do-Liste, sondern das, was geschieht, wenn du aufhörst, etwas zu werden. Wenn der Geist sich reinigt, hört er auf zu agieren. Und wenn die Welt aufhört, sich durch deine Gedanken zu spiegeln, bleibt nur das Selbst übrig. Ohne Zutat. Ohne Zusatz.

Und das – sagt Vyāsa – genügt.

 

Siehe auch folgende Sutras

Yoga Sutra I-2: Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Bewegungen im Geist

Hier weiterlesen


Yoga Sutra I-3: Dann ruht der Wahrnehmende in seiner wahren Natur

Hier weiterlesen


Yoga Sutra II-23: Der Sinn der Vereinigung unseres Wahren Selbstes mit der äußeren Welt besteht darin, dass wir unsere Wahre Natur und deren Kräfte erkennen.

Hier weiterlesen


Yoga Sutra III-49: Daraus [aus der Beherrschung der Sinne] folgt die Schnelligkeit des Geistes, Wahrnehmung unabhängig von den körperlichen Sinnesorganen und Beherrschung/Meisterschaft der Urnatur

Hier weiterlesen


Yoga Sutra III-50: Durch tiefgehendes Erkennen des Unterschiedes zwischen Sattwa (reine und lichtvolle Geist) und Purusha (dem wahren Selbst) erlangt der Yogi Allmacht (Oberhoheit über alle Wesen) und Allwissenheit

Hier weiterlesen


Yoga Sutra IV-26: Dann neigt sich der Geist zur Unterscheidungskraft und richtet sich von selbst auf das Erreichen der Freiheit (kaivalya) aus

Hier weiterlesen


Schlussgedanken

Abschließend lässt sich Yoga-Sutra 3.56 auch als Einladung verstehen: Nicht jenseits der Welt wird Freiheit gefunden, sondern mitten im Leben, indem wir unseren eigenen Geist veredeln. B.K.S. Iyengar übersetzt diesen Vers poetisch mit den Worten: „Wenn die Reinheit der Intelligenz der Reinheit der Seele gleicht…“. Das klingt wie ein hoher Anspruch – und das ist es auch. Gleichzeitig erinnert es uns daran, worauf all die Übung auf der Yogamatte letztlich abzielt. Meditation gipfelt in der Erfahrung, in der Fühlen und Denken eins mit dem unsterblichen Wesenskern sind, kommentiert der indische Gelehrte R. Sriram zu diesem Vers.

Anders gesagt: Yoga ist gelungen, wenn unser Denken (die innere Intelligenz) so rein und still geworden ist, dass es mit dem leuchtenden Kern unseres Selbst völlig im Einklang steht. Dieses Ziel mag hoch gesteckt sein, doch es verleiht der täglichen Praxis eine tiefe Perspektive – Schritt für Schritt nähert sich der Übende diesem Zustand von Klarheit, Freiheit und innerem Frieden.

Ergänzungen und Fragen von dir zur Sutra

Ist etwas unklar geblieben? Kannst du etwas ergänzen oder korrigieren?

Der Stoff der Sutras ist für uns heutige Menschen nicht leicht zu verstehen. Ist im obigen Text irgendetwas nicht ganz klar geworden? Oder kannst du etwas verdeutlichen oder berichtigen? Eine eigene Erfahrung schildern ... Vielen Dank vorab für jeden entsprechenden Hinweis oder eine Anregung:

 

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Videos zu Sutra III-56

Kaivalya durch Reinheit – Kommentar von Sukadev zu Yoga Sutra – Kap. 3, Vers 56

Länge: 5 Minuten

Youtube-Video

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Was ist Kaivalya? – Kommentar von Anvita Dixit zu Yogasutra 3.55 (bei ihr Sutra 3.54)

Länge: 10 Minuten

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Video von Ahnand Krishna zur Sutra

Kräfte von Samyama, Class 62: Asha Nayaswami zu Sutra 3:53-4.1

Länge: 74 Minuten

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Geschrieben von

Peter Bödeker
Peter Bödeker

Peter hat Volkswirtschaftslehre studiert und arbeitet seit seinem Berufseinstieg im Bereich Internet und Publizistik. Nach seiner Tätigkeit im Agenturbereich und im Finanzsektor ist er seit 2002 selbständig als Autor und Betreiber von Internetseiten. Als Vater von drei Kindern treibt er in seiner Freizeit gerne Sport, meditiert und geht seiner Leidenschaft für spannende Bücher und ebensolche Filme nach. Zum Yoga hat in seiner Studienzeit in Hamburg gefunden, seine ersten Lehrer waren Hubi und Clive Sheridan.

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