
Geschichte: Der Weise und das Menschenopfer
Die folgende Geschichte vom buddhistischen Mönch Adhimutta Thero wird in zahlreichen Variationen im Zusammenhang mit dem 110. Vers des Dhamapada erzählt. Wir betrachten die Geschehnisse, durch die Augen von Aidan Lavette, der zufällig zugegen war.
Einst reiste eine fünfköpfige Reisegruppe durch einen dichten Wald in Richtung des Jetavana Klosters. Sie vertrauten der Führung Adhimutta Theros, dem äußeren Anschein nach ein Bikkhu, ein scheinbar ganz normaler buddhistischer Wandermönch, wie sie zu der Zeit zu Tausenden durch die Lande zogen. In Wahrheit war Adhimutta ein Arhat, er hatte Gier, Hass und Verblendung vollständig abgelegt. Niemand in der Gruppe wusste davon, doch instinktiv folgten alle seiner Führung.
Aidan hatte sich der Gruppe angeschlossen, weil er mit seinen Geister-Augen in der Auras des Mönches ein goldwarmes Grundleuchten erkannte. Er wollte wissen, was für ein Mensch sich hinter diesem Leuchten verbarg.
Die Menschen der Gruppe waren von unterschiedlichem Charakter. Aidan stufte einen faulen jungen Mann Anfang 20 als besonders hervorstechend ein. Dieser war groß wie ein Baum und so enorm dick, dass die Gruppe wegen ihm alle Stunde eine Rast einlegen musste. Nie beteiligte der Faulpelz sich an den gemeinsamen Arbeiten für die Errichtung des Nachtlagers oder der Zubereitung des Essens. Nachts terrorisierte er alle mit dröhnendem Geschnarche. Selbst Aidan – obwohl nur Geist – fand keine Ruhe.
Neben dem Dicken schritt ein berufsmäßiger Betrüger auf dem steinigen Waldpfad. Der Gauner wollte dem Kloster ein schlechtes Stück Land zu einem horrenden Preis verkaufen. Natürlich hatte der Spitzbube das niemandem gesagt, doch Adhimutta hatte genau wie Aidan seinen Charakter durchschaut.
Dann war da noch die siebenjährige Samkicca. Sie war eine hochentwickelte alte Seele, die im Kloster ein Leben als Nonne beginnen wollte. Sie führte einen Esel, auf dem ein todkranker Mann mehr lag als saß. Dieser wollte unter der Führung der Mönche des Klosters den Übergang in das nächste Leben beschreiten.
Hinter den Beiden schritten am Ende zwei Handwerker, die im Kloster auf Arbeit hofften.
Mit einem Mal wurde die Gruppe mitten im Wald von einer Horde Räuber umringt, 20 finstere Gestalten, deren Gesichter eisige Härte verströmten. Kurz befiel Aidan eine furchtbare Angst. Doch dann machte er sich klar, dass die Halunken einem Geist ja nichts anhaben konnten. Sofort beruhigte er sich wieder.
Der Anführer der Bande trat vor die Gruppe und verkündete: "Wir werden heute den Wächtern des Waldes ein Opfer von menschlichem Fleisch und Blute bringen. Sucht einen aus eurer Gruppe aus, dem dieses Schicksal zuteil wird." Grinsend blickte er dabei wie selbstverständlich Adhimutta an. Der Mönch sollte wählen.
Adhimutta schaute gelassen auf die Gruppe hinter ihm. Er sah, wie die seine Mitreisenden alle bis auf die junge Samkicca auf den todkranken Mann auf dem Esel linsten. Auch Aidan schien der Kranke als die logische Wahl. Oder würde der Mönch sich selbst opfern?
Doch Adhimutta entgegnete dem Räuber: "Ich kann keine Auswahl treffen. Mir sind alle gleich lieb." Gelassen blickte er dem Räuberhauptmann in die Augen.
Dieser grinste höhnisch und spöttelte: "Ihr seid doch ein Mönch, der allem auf Erden entsagt habt. Wollt ihr euch nicht selbst zur Verfügung stellen? Oder endet eurer Mitgefühl für andere hier, wo es um euer Leben geht?" Die Räuber begannen zu lachen.
Aidan lauschte gespannt auf die Antwort des Mönches.
Als sich das Gelächter gelegt hatte, antwortete Adhimutta völlig ruhig: "Ich liebe mich so, wie ich alle um mich herum liebe, auch euch, die ihr uns droht. Wieso sollte ich mich für dein Opfer hervorheben?"
Aidan erkannte keinerlei Zeichen von Angst oder Erregung in der Aura des Mönches. Seine Hände waren vor dem Bauch gefaltet, die Lippen zeigten ein leichtes Lächeln. So gelassen hatte Aidan bisher noch keinen Menschen in einer Gefahr gesehen.
Mit der Antwort hatte der Räuberhauptmann nicht gerechnet. Dann lächelte der Mönch auch noch. Wie konnte der so gelassen bleiben? Dem Räuber wurde mulmig zumute. Er spürte, dass dieser Mensch völlig gleichmütig das Kommende erwartete. Das wollte er aber noch einmal überprüfen. Er würde dem Geistigen lehren, wieso die Räuber in diesem Wald so gefürchtet waren!
"So wähle ich. Und zwar dich." Er zeigte direkt auf Adhimutta. Dabei grinste er zu seinen Räuberkumpanen hinüber. Wie wollte sich der Mönch da herauswinden? Nun würde dieser eingebildete Asket lernen, was Furcht bedeutet! Die Räuber lachten.
Doch Adhimutta machte keinerlei Anstalten, sich seinem Schicksal zu entziehen. Gelassen drehte er sich um und wünschte der Gruppe eine gute Weiterreise. Dann wandte er sich dem Anführer zu und trat abwartend in den Ring der Räuber.
Diese hatten längst ihr Lachen eingestellt und waren vom Auftreten Adhimuttas derart ergriffen, dass die ersten ihm zu Füßen fielen. Am Ende sank auch der Räuberhauptmann zu Boden und sprach: "Oh Ehrwürdiger, wir erkennen in dir wahre Tugend und Vollkommenheit. Bisher hielten wir euch Mönche für schwache Wesen, die im Ernstfall auch nicht mehr an ihre Lehre glauben würden. Du jedoch bist wahrhaftig. Bitte lehre uns den Pfad, der uns zu deiner Furchtlosigkeit und Liebe führt."
Nacherzählt (verschiedene Quellen) von Peter Bödeker
Dhammapada Vers 110
"Besser als hundert Jahre im Leben einer unmoralischen Person, die keine Kontrolle über seine Sinne hat, ist ein Tag im Leben einer tugendhaften Person, die die Entwicklungspraxis für Ruhe und Einsicht kultiviert hat."
Alternativübersetzung
"Besser als hundert Jahre unkonzentriert und ohne Tugend, verbracht, ist ein Tag in der Versenkung des Jhana von einem Tugendhaften verbracht."
Bezüge zur Yogalehre
In der Geschichte zeigen sich mehrere Bezüge zur Philosophie des Yoga:
- Gleichmut und Gelassenheit, gleichmäßige Liebe zu allen und zu allem zu haben (Upeksha): Adhimutta bleibt in einer lebensbedrohlichen Situation vollkommen gelassen und zeigt keinen Anflug von Angst oder Aufregung. In der Yoga-Philosophie ist Gleichmut eine zentrale Tugend, die es ermöglicht, inmitten von Widrigkeiten inneren Frieden zu bewahren.
- Nicht-Anhaftung, Wunschlosigkeit (Vairagya): Adhimutta zeigt keinerlei Anhaftung an sein eigenes Leben oder an materielle Dinge. Seine Bereitschaft, das Schicksal zu akzeptieren, ohne Widerstand zu leisten, spiegelt das yogische Prinzip der Loslösung von weltlichen Begierden wider.
- Überwindung der Kleshas: Die Kleshas sind die Ursachen menschlichen Leidens, darunter Unwissenheit (Avidya), Egoismus (Asmita), Anhaftung (Raga), Abneigung (Dvesha) und Angst vor dem Tod (Abhinivesha). Adhimutta hat diese überwunden, was sich in seiner Furchtlosigkeit und seinem Mitgefühl zeigt.
- Ahimsa (Gewaltlosigkeit): Trotz der Bedrohung durch die Räuber begegnet Adhimutta ihnen mit Freundlichkeit und ohne Aggression. Ahimsa, das Prinzip der Gewaltlosigkeit, ist ein zentraler ethischer Grundsatz im Yoga.
- Liebe und Mitgefühl (Karuna und Maitri): Adhimutta sagt: "Ich liebe mich so, wie ich alle um mich herum liebe, auch euch, die ihr uns droht." Diese universelle Liebe und dieses Mitgefühl gegenüber allen Wesen sind essenzielle Aspekte der yogischen Praxis.
- Ethik und Moral (Yamas und Niyamas): Adhimuttas Verhalten entspricht den Yamas (ethischen Disziplinen) und Niyamas (persönlichen Observanzen) des Yoga, wie Wahrhaftigkeit (Satya), Nicht-Stehlen (Asteya), Enthaltsamkeit (Brahmacharya) und Zufriedenheit (Santosha).
- Selbstverwirklichung (Samadhi): Als Arhat hat Adhimutta den Zustand der Erleuchtung erreicht, vergleichbar mit dem Samadhi im Yoga, wo das Individuum Einheit mit dem höchsten Bewusstsein erfährt.
- Einfluss eines erleuchteten Meisters: Die Transformation der Räuber durch die Begegnung mit Adhimutta zeigt die Bedeutung eines erleuchteten Lehrers im Yoga, der durch sein Beispiel andere auf den spirituellen Weg führen kann.
- Gleichheit aller Wesen: Adhimutta betrachtet alle Menschen, einschließlich der Räuber, mit gleicher Wertschätzung. Dies reflektiert das yogische Verständnis von der Einheit aller Existenz.
- Überwindung des Egos: Seine Weigerung, sich selbst oder andere als Opfer auszuwählen, zeigt, dass er sein Ego überwunden hat. Im Yoga ist das Transzendieren des individuellen Egos wesentlich für spirituelles Wachstum.
Die Geschichte illustriert, wie die Anwendung der yogischen Prinzipien zu innerer Freiheit und äußerem Frieden führen kann. Adhimuttas Haltung zeigt, dass wahre Stärke und Mut aus spiritueller Praxis und Selbstverwirklichung entstehen.
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Siehe auch
Yamas und Niyamas im täglichen Leben

Keine spirituelle Richtung kommt ohne Verhaltensregeln aus. Diese legen fest, welche ethischen Handlungsweisen für einen Aspiranten (oder auch jeden Menschen) förderlich sind. Was dem Christen die zehn Gebote, das sind dem Yogi die Yamas und Niyamas. Gleichzeitig sind sie die ersten beiden Stufen im Raja Yoga, dem achtgliedrigen Yoga-Pfad (auch Ashtanga- oder Kriya-Yoga genannt). Patanjali definiert Yama und Nyama im Yogasutra.
Die alten Yogis hätten sich wohl nicht träumen lassen, dass ihre Regeln Jahrtausende später im Großraumbüro, beim Online-Shopping oder in WhatsApp-Chats auf die Probe gestellt würden. Und doch: Die Yamas und Niyamas im täglichen Leben sind verblüffend aktuell. Wer sie nicht als starre Gebote liest, sondern als praktische Orientierung, entdeckt, wie Gewaltlosigkeit beim Autofahren aussieht, warum Wahrheit auch mal Schweigen bedeutet und weshalb ein bisschen Maßhalten beim zweiten Glas Wein oft heilsamer ist als jeder Verzicht.
Dieser Artikel zeigt, wie sich alte Weisheit im modernen Alltag verankern lässt: Was sind die Yamas und Niyamas? Wie werden diese in den alten Schriften ausgelegt? Und wie wende ich die Yamas und Niyamas im Alltag an? Der Artikel gibt Antwort und hält zwei Downloads (Poster & Merkkarte) parat.
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