
Geschichte: Wolf und Waldemar im Spiegelkabinett
In einem kleinen rumänischen Dorf gastierte ein Jahrmarkt. Die Hauptattraktion war ein großes Spiegelkabinett.
Eines Tages verirrte sich ein Wolf in den frühen Morgenstunden auf den verlassenen Jahrmarkt. Das Spiegelkabinett war am vergangenen Abend unverschlossen geblieben, und so setzte der Wolf vorsichtig seine Pfoten in die Spiegelgänge.
Auf einmal fiel die verspiegelte Tür hinter ihm zu. Erschrocken drehte sich der Wolf um und sah sich einem riesigen Wolf gegenüber. Sofort zog er seine Lefzen hoch, knurrte und nahm eine Drohhaltung ein.
Der Wolf gegenüber reagierte ebenfalls mit Drohhaltung, gesträubten Nackenfell und hochgezogenen Lefzen. Die schmalen Gänge wiederholten das drohende Knurren dutzendfach.
Erschrocken lief der Wolf weiter in das Spiegelkabinett hinein. Doch an jeder Ecke begegnete er bedrohlich aussehenden und knurrenden Wölfen. Völlig verängstigt sprang er panisch durch die engen Korridore, prallte mehrfach gegen einen der anderen Wölfe (die merkwürdig hart waren, aber der Wolf hatte keine Zeit, darüber nachzudenken) und fand endlich eine Tür hinaus. Mit letzter Kraft schleppte er sich zurück in den Wald. Keinen Fuß würde er mehr in die Nähe dieses Dorfes setzen.
Angelockt von dem wilden Wolfsgebell betrat Dackel Waldemar das Jahrmarktsgelände. Er verfolgte die noch frische Spur des geflohenen Wolfes bis ins Spiegelkabinett. Schwanzwedelnd spazierte er in die Spiegelgänge hinein und sah sich überall schwanzwedelnden Dackeln gegenüber. Fröhlich bellend begann er hin und her zu tollen und all die Dackel um ihn herum machten es ihm nach. Von überall her echote fröhliches Gebelle.
Da hörte Waldemar den Pfiff seines Herrchens. Wehmütig verabschiedete er sich mit einem letzten Schwanzwedeln von den anderen Hunden. Hier würde er morgen früh wieder herkommen.
Nach einer alten Geschichte, Peter Bödeker
Bezug der Geschichte zur Philosophie des Yoga
Das Spiegelkabinett mit Wolf und Waldemar ist mehr als nur eine kleine Tierfabel – es ist fast schon eine Übung in angewandter Yoga-Philosophie, verpackt in ein paar charmante Spiegelgänge.
Die Welt als Spiegel unseres Geistes
In den Lehrreden mancher Yogi heißt es, dass die Welt um dich herum deinen inneren Zustand widerspiegelt. Der Wolf sieht überall Bedrohung – weil er selbst in Angst und Abwehrhaltung ist. Waldemar dagegen erlebt die gleiche Umgebung als Ort voller Freude, weil er selbst offen und freundlich hineingeht.
Es ist wie im Alltag: Wenn du gestresst, misstrauisch oder gereizt bist, erscheinen dir Begegnungen und Situationen oft als feindlich. Wenn du innerlich klar, offen und wohlwollend bist, wirst du dieselbe Situation anders wahrnehmen. Die äußere Welt ist in diesem Sinn nur ein Spiegel deiner inneren Haltung.
Die Rolle von Pratyahara – Rückzug der Sinne
Der Wolf ist von seinen Sinnen überwältigt: knurrende Geräusche, drohende Bilder, Enge. In der Yogapraxis geht es beim Pratyahara darum, sich von diesen Sinneseindrücken nicht völlig vereinnahmen zu lassen, sondern einen Schritt zurückzutreten.
Im übertragenen Sinn: Du bist nicht gezwungen, alles, was dir begegnet, sofort zu bewerten oder in Kampf-oder-Flucht zu verfallen. Du kannst dich entscheiden, wie du reagieren möchtest. Oder werde nnerlich erst einmal wie Waldemar und schaue dann noch einmal hin.
Pratyahara im Yogasutra:
Yoga Sutra II-29: Die acht Glieder des Yoga-Weges sind: Yama (Umgangsregeln), Niyama (Enthaltungen), Asana (Stellungen), Pranayama (Atemregulierung), Pratyahara (Sinnesrückzug), Dharana (Konzentration), Dhyana (Meditation) und Samadhi (Erleuchtung)
Yoga Sutra II-54: Pratyahara ist das Zurückziehen der Sinne auf das Innere, auf das Eigenwesen des Geistes, weg von den äußeren Objekten
Yoga Sutra II-55: Dadurch wird die Beherrschung der Sinne gemeistert
Samskaras – die inneren Prägungen
Yoga beschreibt, dass unser Handeln und Empfinden von Samskaras geprägt ist – den tiefen Eindrücken, die wir im Lauf unseres Lebens sammeln. Der Wolf trägt vielleicht die Prägung, dass Begegnungen mit anderen Wölfen gefährlich sind. Das löst bei ihm die Furcht beim Anblick seines eigenen erschrockenen Spiegelbildes aus. Waldemar dagegen hat gelernt: andere Hunde sind potenzielle Spielkameraden. Beide laufen durch das gleiche Spiegelkabinett, aber ihre Vergangenheit färbt jede Sekunde ihrer Erfahrung.
Das ist eine Einladung, deine eigenen Samskaras zu erkennen – und zu entscheiden, welche davon dir noch dienen und welche nicht mehr.
Samskaras im Yogasutra:
Yoga Sutra I-18: Ein weiterer Zustand des Samadhi - Virama Pratyaya - ist nach intensiver Übung erreicht, wenn alle geistigen Aktivitäten aufhören und nur (ein Rest) unmanifestierter Eindrücke im Geist (eine Form der Leere) verbleiben
Yoga Sutra I-50: Dieses neue Wissen aus Nirvichara Sampatti erzeugte neue Eindrücke im Unterbewusstsein, welche die ungünstigen bisherigen Samskaras ersetzen
Yoga Sutra II-15: Für jemanden mit Unterscheidungsfähigkeit ist alles in dieser Welt leidvoll; das liegt an der Vergänglichkeit, unserem Verlangen, den unbewussten Prägungen und an der Wechselhaftigkeit der Natur
Yoga Sutra III-9: Wenn die störenden Prägungen bzw. Aktivitäten des Geistes [immer wieder] durch solche der Ruhe und Sammlung ersetzt werden, transformiert der Geist zur inneren Stille (das ist Nirodha-Parinama)
Yoga Sutra III-18: Durch die direkte Wahrnehmung unbewusster Prägungen (Samskaras) entsteht Wissen über vorige Leben
Yoga Sutra IV-27: Jedoch kommt es aufgrund noch vorhandener Prägungen (Samskaras) immer wieder zu andersartigen Vorstellungen und damit zu Unterbrechungen (Brüchen – chidreṣu) dieser Unterscheidungskraft
Yoga Sutra IV-28: Die allmähliche Beseitigung dieser restlichen Prägungen (Samskaras) erfolgt so, wie es für die Überwindung der Kleshas (Leiden) beschrieben wurde
Praxisbezug: Dein inneres Spiegelkabinett
Jeder hat sein eigenes „Spiegelkabinett“: Arbeitssituationen, Beziehungen, alte Gewohnheiten.
- Wenn du merkst, dass du wie der Wolf reagierst – angespannt, voller Widerstand – atme einmal tief durch, spüre deine Füße am Boden und erinnere dich: Das, was du wahrnimmst, ist nicht immer die objektive Wahrheit, sondern oft nur die Spiegelung deiner inneren Stimmung.
- Wenn du wie Waldemar unterwegs bist – offen, neugierig, verspielt – wirst du wahrscheinlich mehr Freude, Unterstützung und Leichtigkeit erleben. Aber auch dann kannst du innerlich zurücktreten und dir vielleicht bewusst machen: Die Freude, die ich verspüre, wird nicht von den äußeren Dingen verursacht, sondern ich lasse dieses Gefühl innerlich entstehen.
In der Yogapraxis kann das heißen: Bewusstheit vor Bewertung. Erst wahrnehmen, dann entscheiden.
Fazit
Das Spiegelkabinett dieser Geschichte ist (in einem gewissen Sinne) ein Sinnbild für das Leben selbst: Wir sehen nicht die Welt, wie sie ist – wir sehen die Welt, wie wir sind. Yoga lädt dich ein, dieses innere Spiegelbild zu reinigen, zu klären und zu beruhigen, damit sich auch im Außen mehr Frieden zeigt.
Oder, um es mit einem Augenzwinkern zu sagen: Wer mit wedelndem Schwanz durchs Leben läuft, bekommt oft auch ein Wedeln zurück.
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Aidan Lavette, der unsterbliche Geist, lebte auch mehrere Jahrhunderte in China. In einem Dorf am Huashan Berg, der für sein famoses Wolkenmeer weit über China hinaus berühmt ist, hörte er von folgender Geschichte:
Eine ältere chinesische Hausdienerin holte jeden Morgen zwei Krüge Wasser aus dem Fluss im Dorf. Sie legte dafür eine Holzstange über ihren buckligen Rücken und hängte an jedes Ende einen Krug.
Einer der beiden Krüge bekam eines Tages in der Mitte einen Sprung. Fortan verlor er aus diesem Riss auf ihrem Weg vom Fluss bis zum Haus die Hälfte seines Wassers. Der Krug bemühte sich nach Kräften, das Wasser in sich zu bewahren. Doch vergebens. So sehr er sich auch anspannte, stets verlor er einen Teil seiner Fracht.
Der Krug wurde sehr zornig mit sich.
Hier weiterlesen: Der wertvolle Krug

Der Hase vor der Möhre
Vor langer Zeit lebte ein Hase am Rande eines kleinen Dorfes. An einem strahlenden Frühlingsmorgen entdeckte er eine saftige Möhre. Eine so große Möhre, wie er noch nie eine Möhre gesehen hatte. Die Rübe glänzte im morgendlichen Tau hinter einem hohen Maschendrahtzaun. Vor Freude lief unserem Hasen das Wasser im Hasenmunde zusammen.
Hier weiterlesen: Der Hase vor der Möhre
Einst fragte Zen-Schüler Callum seinen Meister: Wie schaffe ich es, mich nicht mehr über den Egoismus meiner Mitmenschen zu ärgern?
Der Zen-Meister antwortete: "Stell dir vor, du gehst am frühen Morgen durch einen sonnigen Park. Du spürst einen zarten Wind im Gesicht, ansonsten ist alles ruhig. Dein Blick wird von hellgrün leuchtenden Trauerweiden angezogen, deren Zweige sanft die Oberfläche eines Teiches voller Seerosen streicheln. Ein zartblauer Eisvogel gleitet über das Wasser, landet auf der Bank vor dir und stimmt sein zauberhaftes Lied an. Völlig versunken lauschst du dem Gesang des winzigen Stimmwunders. Plötzlich wirst du grob an der Schulter gerempelt.
Hier weiterlesen: Die Schuld und ihr Zorn
Die Legende von der Christrose
- Eine Weihnachtsgeschichte -
Eine Geschichte von Selma Lagerlöf, geringfügig der heutigen Sprache angepasst von Peter Bödeker
Eine Räubermutter, welche in einer Räuberhöhle oben im bergigen Göinger Wald im Norden von Dänemark hauste, hatte sich eines Tages auf einen Bettelzug in das Flachland hinunter begeben. Der Räubervater selbst war ein ausgestoßener Mann und durfte den Wald nicht verlassen, sondern musste sich damit begnügen, den Wegfahrenden aufzulauern, die sich trotz der Gefahr in den Wald wagten.
Doch zu der Zeit, als der Räubervater und die Räubermutter ihr Leben in dem Göinger Wald fristeten, gab es im nördlichen Schonen nicht allzu viel Reisende. Wenn es sich also begab, dass der Räubervater ein paar Wochen lang Pech bei seiner Jagd hatte, dann machte sich die Räubermutter auf ihre Wanderschaft. Sie nahm ihre fünf Kinder mit, und jedes der Kleinen hatte zerlumpte Fellkleider und Holzschuhe an und trug auf dem Rücken einen Sack, der gerade so lang war wie das Kind selbst. Diesmal jedoch sollte die Reise das Leben der Räuberfamilie für alle Zeit verändern.
Hier weiterlesen: Die Legende von der Christrose
In einem fernen Land war es einst üblich, dass, wenn ein König starb, ohne Erben zu hinterlassen, die Minister einen besonderen Palastelefanten auf die Straße ließen. Dieser Elefant fing sich, wen immer er mochte, setzte ihn auf seinen Kopf und ohne weitere Fragen wurde dieser Mann dann zum König gekrönt.
Hier weiterlesen: Wie ein Weiser regiert