
Geschichte: Der übereifrige Dschinn
Einst lebte eine Mutter alleine mit ihren drei Kindern in einem baufälligen Haus am Rande des Tronerwaldes. Tagein, tagaus wusch sie Wäsche, kochte für ihre Kinder, half bei den Hausaufgaben, putzte, hielt den Garten in Ordnung und kümmerte sich um auch alle sonstigen anfallenden Sorgen und Nöte der Familie. Am Vormittag arbeitete sie außerdem noch halbtags im Lebensmittelgeschäft des Ortes.
Viele Jahre hielt sie diesem belastenden Alltag stand, dann wurde es ihr zu viel. Sie begann um Hilfe zu beten. Und ein Gott war ihr gnädig.
Der Gott sprach: "Liebe Frau, wenn du es möchtest, sende ich dir einen Dschinn. Er wurde aus rauchlosem Feuer erschaffen. Dieser Dschinn wird für dich alle anfallenden Arbeiten erledigen. Aber es gibt einen Haken. Du musst den dienstbaren Geist immer beschäftigt halten, ansonsten wird er dir Schaden und großen Kummer zufügen."
Mit großer Erleichterung entgegnete die Frau: "Oh vielen Dank! Bitte sende mir diesen Dschinn. Es wird kein Problem sein, ihm stets etwas zu Tun zu geben."
Da erschien im Wohnzimmer in einer Lichtaufwallung vor der betenden Frau ein durchsichtiger Geist und verneigte sich. "Was wünscht Ihr, das ich tue?"
Mit einem Lächeln auf den Lippen bat die Frau den Dschinn, das Haus zu putzen. Sofort machte sich der dienstbare Geist an die Arbeit. Er arbeitete so schnell, dass die Frau ihn nur hin und wieder aufblitzen sah. Nach zehn Minuten funkelte das ganze Haus in frischem Glanz.
Die Frau war höchst zufrieden und befahl: "Nun repariere das Dach. Im oberen Badezimmer regnet es durch."
Nach kurzer Zeit stand der Dschinn wieder vor der Frau. Das Dach war geflickt und komplett von Moos befreit.
"Nun grabe das Gemüsebeet im Garten um."
Dafür benötigte der Dschinn nur drei Minuten. Langsam wurde der Frau mulmig zumute. Sie erkannte, dass sie für den Dschinn bald keine Arbeit mehr finden würde und erinnerte sich der Mahnung des Gottes. Erst Angst, dann Panik stiegen in ihr auf. In größter Not fiel ihr der Weise ein, der in den Tiefes des Tronerwaldes lebte. Sie sagte zum Dschinn: "Trage mich zu dem Weisen des Waldes."
Dort angekommen hörte sich der alte Weise geduldig die eilig hervorgebrachte Notsituation an. Nachdem die Frau geendet hatte, empfahl er: "Bitte den Dschinn, die Eiche vor dem Haus immer wieder hinauf und hinunter zu klettern."
Die Frau tat wie geheißen und gemeinsam beobachteten sie, wie der Dschinn den riesigen Baum hinauf und hinab stieg. Zu Beginn konnten sie mit ihren Augen kaum folgen, doch nach einer Viertelstunde wurde der Dschinn deutlich langsamer. Als eine weitere halbe Stunde vergangen war, schaffte er den Anstieg nicht mehr.
Zutiefst erschöpft kniete er vor den Füßen der Frau. "Herrin, bitte seid so gütig, mich aus dieser Aufgabe zu entlassen. Ich beuge mich euch nun völlig und verharre still, bis ihr eine neue Anweisung für mich habt. Entgegen meiner ursprünglichen Natur werde ich euch dennoch kein Leid zuzufügen."
Die Frau stimmte dankbar lächelnd zu und wusste nun für allezeit einen dienstbaren Helfer an ihrer Seite.
Nacherzählt von Peter Bödeker
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Yoga-Bezüge der Geschichte
Die Symbolik des Dschinns als ruheloser Geist
In der Geschichte erscheint der Dschinn als mächtiger Diener, der unermüdlich arbeitet, solange er Aufgaben erhält. Er verkörpert den ruhelosen Geist, der in der Yoga-Philosophie oft mit einem ungezähmten Pferd oder einem Affen verglichen wird—ständig in Bewegung und schwer zu kontrollieren. Wenn der Geist nicht beschäftigt oder fokussiert ist, kann er Unruhe und Leid verursachen.
Ohne Beschäftigung neigt der Geist dazu, sich in negative Gedanken oder Sorgen zu verstricken, ähnlich wie der Dschinn der Frau Schaden und großen Kummer zufügen würde, wenn er nicht beschäftigt ist.
Ein Schelm also, wer in dem Dschinn eine Ähnlichkeit zu unserem menschlichen Geist erkennt und im Hinauf- und Hinabklettern eine Analogie zur Beobachtung des eigenen Atems wähnt. Die alten Schriften berichten, dass durch die ausdauernde stille Beobachtung des Atems unser Geist zu einem fügsamen Diener wird.
Die Rolle des Weisen als spiritueller Führer
Als die Frau erkennt, dass sie den Dschinn nicht länger sinnvoll beschäftigen kann, sucht sie Hilfe bei dem Weisen im Wald. Dieser Weise symbolisiert den Guru oder spirituellen Lehrer im Yoga, der Weisheit und Führung bietet. In der Yoga-Tradition ist der Lehrer entscheidend, um den Schüler auf dem Weg zur Selbsterkenntnis und inneren Frieden zu unterstützen.
Der Rat des Weisen, den Dschinn die Eiche hinauf- und hinunterklettern zu lassen, ist wie gesagt eine metaphorische Anleitung zur Meditation oder zur wiederholenden Praxis, die den Geist beruhigt. Durch diese stetige und monotone Aufgabe wird der Dschinn schließlich müde und gibt seine rebellische Natur auf. Dies kann erwähnte Atembeobachtung, das Zählen der Atemzüge oder auch das (geistige) Wiederholen eines Mantras sein.
Die Eiche als Symbol für stetige Praxis
Die Eiche steht in der Geschichte eventuell als Symbol für für unsere Lunge (Atemzüge) oder die Wirbelsäule. Das ständige Hinauf- und Hinunterklettern repräsentiert die Wiederholung von Mantras, Atemübungen oder Asanas, die dazu dienen, den Geist zu fokussieren und zu beruhigen. Diese kontinuierliche Praxis hilft, innere Stabilität und Ausgeglichenheit zu erreichen.
Die Unterwerfung des Dschinns und die Kontrolle des Geistes
Am Ende kniet der Dschinn erschöpft vor der Frau und bietet seine Unterwerfung an. Dies symbolisiert das Ziel der Yoga-Praxis: den Geist so zu schulen, dass er nicht mehr herrscht, sondern dient, still wird. Ein gezähmter Geist kann ein mächtiges Werkzeug sein, um Klarheit, Fokus und inneren Frieden zu erlangen.
Die Frau gewinnt durch Befolgung der Ratschläge eines Weisen die Kontrolle über den Dschinn, ähnlich wie ein Yogi durch beständige Praxis und Disziplin Kontrolle über den eigenen Geist erlangt. Sobald der Geist beruhigt ist, können wir ihn für positive Zwecke nutzen, statt von ihm überwältigt zu werden.
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Siehe auch
Yoga Sutra I-2: Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Bewegungen im Geist
Yogash citta–vritti–nirodhah
योगश्चित्तवृत्तिनिरोधः
Wenn ich festlegen müsste, welche Sutra die Bedeutsamste ist, dann würde ich diese wählen. Hier wird der Yogaweg in einem Satz zusammengefasst. Alle weiteren Sutras erläutern den Weg.
Auslegung und Deutung dieser Sutra erfolgt unterschiedlich. Lies hier, welche Prioritäten du gemäß der Sutras-Deuter bei deiner täglichen Praxis setzen solltest.
Hier weiterlesen: Yoga Sutra I-2: Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Bewegungen im Geist
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