Das Sudarshana Chakra (Zentrum) zwischen Durvasa (unmittelbar links) und Ambarisha (unmittelbar rechts).
Das Sudarshana Chakra (Zentrum) zwischen Durvasa (unmittelbar links) und Ambarisha (unmittelbar rechts).

Der Zorn des Siddhas

Dies ist die Geschichte von König Ambarisch und dem mächtigen Weisen Durvasa. Sie erzählt von Zorn, von Raserei, von mächtigen Schutzschilden und dem Sieg des Schwachen über den Starken.

König Ambarisch lebte zur Zeit des Satya Yuga, dem ersten und vollkommensten der in den Hindu-Erzählungen beschriebenen Weltaltern, dem Goldenen Zeitalter. Satya bedeutet „Wahrheit“, „Rechtschaffenheit“ und „Tugend“. Ambarisch war der Überlieferung zufolge ein inniger Verehrer Vishnus. Die Zuneigung des Regenten zu Vishnu war so tief, dass der Gott ihm aus Dankbarkeitsein Sudarshan Chakra überließ.

Bei diesem "Chakra" handelte es sich um eine gezackte Wurfscheibe, die der göttliche Architekt und Schöpfer Vishvakarman einst aus den Strahlen der Sonne gefertigt hatte. Sie war mit zwei Reihen von insgesamt über 10 Millionen Stacheln besetzt. Es sollte den König vor allen Gefahren beschützen.

Eines Tages begab es sich, dass der Weise Durvasa seinen Besuch bei Hofe ankündigte. Durvasa war ein Wesen, das aus Shivas Ärger geboren wurde. Seine Siddhis waren so schrankenlos wie seine jähzornige Natur.

Nicht aus Furcht, sondern aus Gastfreundschaft ließ der König die erlesensten Speisen für Durvasa im großen Speisesaal auffahren. Doch der reisende Weise wollte sich nach seiner Ankunft bei Hofe zunächst reinigen und im nahen Fluss ein Bad nehmen.

"Das passt mir sehr gut, edler Durvasa", sagte der König. "Heute ist der 11. des Monats und an diesem Tag faste ich seit einem Jahr zu Ehren meines Herrn Vishnu. In zwei Stunden ist diese Zeit beendet, dann werde ich das Fasten brechen. Dann können wir gemeinsam mit dem Speisen beginnen."

So verabredeten sie es und Durvasa schritt in Richtung Fluss. Doch hielt der impulsive Weise die Verabredung nicht ein und auch nach drei Stunden war er nicht in den Speisesaal zurückgekehrt. Die Berater des Regenten wurden – im Bewusstsein der gefürchteten Natur Durvasas – sichtlich nervös. Immer wieder blickten sie kurz zum Eingang des Saales und tuschelten miteinander.

Der König wollte nicht nach dem Weisen schicken lassen, das hätte er als eine Verletzung der Gastfreundschaft empfunden. Die Ratgeber des Königs waren wegen Vishnu besorgt: "Ihr müsst das Fasten jetzt brechen, Herr, ansonsten verletzt ihr die Regeln der Zeremonie. Das könnte den Zorn unseres Herrn Vishnu erregen."

Ambarisch zögerte weitere zwei Stunden, dann kam ihm die Idee zu einem Mittelweg: Er würde zunächst nur ein wenig Wasser trinken. So hätte er das Fasten rechtzeitig gebrochen, würde aber mit dem Mahl auf seinen Gast warten.

Kaum hatte er den Kelch an den Mund gesetzt, trat Durvasa in den Speisesaal. Er sah den König an der Tafel trinken und wurde, seiner Natur gemäß, unermesslich wütend. Unmittelbar.

"So sieht also eurer Respekt einem Weisen gegenüber aus." Seine Stimme überschlug sich vor Zorn. "Habt ihr mir nicht zugesichert, dass wir gemeinsam euer Fasten brechen würden? Wie könnt ihr es wagen ..."

Durvasas Geschrei wurde immer lauter, um ihn herum begann die Luft zu flimmern. Die Soldaten des Königs zogen sich mit vorgestreckten Speeren zurück. Durvasa riss ein schwarzes Haar von seinem Kopf und schleuderte es zu Boden. Ein riesiger Dämon stieg aus der Erde hervor.

"Bestrafe alle im Raum!", befahl Durvasa dem muskelbepackten Wesen von grauer Gestalt. Der Dämon setzte sich in Bewegung und die Soldaten des Königs entflohen nach draußen.

König Ambarisch blieb gelassen. Er nahm seinen Thron ein, verharrte regungslos und bat in Gedanken Vishnu um Hilfe. Dann versetzte er seinen Geist in völlige Stille und wartete ab, was passieren würde.

Die Hilfe war nicht weit entfernt. Das Sudarshan Chakra hob sich von seinem Ehrenplatz neben dem Thron und begann leuchtend zu kreisen. Es drehte immer schneller, bis ein flirrendes Geräusch erklang und die zahlreichen Zacken der Scheibe in ein goldenes Leuchten zusammenflossen. Dann flog das Chakra mit rasender Geschwindigkeit auf den Dämon zu. In sekundenschnelle war die riesige Gestalt zu Asche zerfetzt. Daraufhin änderte die göttliche Wurfscheibe die Richtung und schoss auf Durvasa zu.

Dieser erkannte das Sudarshan Chakra und wurde sich bewusst, dass er trotz seiner gewaltigen Kräfte in höchster Gefahr schwebte. Mit übermenschlicher Geschwindigkeit raste er den geflohenen Soldaten hinterher, die Gänge des Schlosses entlang, über die Zugbrücke hinaus bis auf die Straße, die ins Tal hinabführte. Menschliche Beobachter nahmen den Weisen kaum wahr, so schnell floh er dahin. Doch die Wurfscheibe blieb dicht an ihm dran.

Es verging ein Monat der Flucht, ohne dass Durvasa an Geschwindigkeit verlor. Ihm wurde deutlich, dass er am Ende verlieren würde. Darum lenkte er seine wirbelnden Schritte gen Satyaloka auf dem Berg Meru, Heimstatt von Gott Brahma. Er flehte den Gott um Hilfe vor der alles zerfetzenden Wurfscheibe. Doch Brahma musste passen: "Ich kann das Sudarshan Chakra nicht stoppen. Vielleicht vermag es Shiva persönlich."

So eilte Durvasa weiter die eisigen Pfade zum schneebedeckten Gipfel des Berges hinauf. Dort residierte Shiva, aus dem Durvasa geboren. "Herr", begann Durvasa, mittlerweile schwer keuchend, "bitte ...".

Shiva hob seine Hand. "Auch ich vermag das Sudarshan Chakra von Vishnu nicht aufzuhalten. Nur er kann es stoppen."

In diesem Moment durchbrach das Sudarshan Chakra die Tür und Durvasa flüchtete weiter, nun nach Vaikuntha, dem Wohnsitz von Vishnu, der vedischen Gottheit. Dort angekommen fiel er, mittlerweile völlig erschöpft, dem Gott zu Füßen.

Doch auch Vishnu konnte nicht helfen. "Aber es gibt vielleicht eine Möglichkeit ..."

"Bitte, bitte, sagt es mir rasch." Aus Durvasas Stimme war aller Hochmut geflohen. Sein Flüstern klang demütig.

"Mein Chakra schützt König Ambarisch. Wenn du ihn davon überzeugst, dass keine Gefahr mehr für sein Leben und das seiner Lieben droht, wird meine Wurfscheibe ihre Hatz einstellen."

Mit letzter Kraft rannte Durvasa zurück zu Hofe von Ambarisch. Im Thronsaal sackte er vor dem König auf den Boden: "Bitte verzeiht mir meine gemeine Tat. Ich bereue zutiefst, den Dämon gerufen zu haben. Nie wieder werde ich euch oder eurem Hofstaat etwas Böses antun."

Ambarisch hatte längst jeden Gedanken an Vergeltung aus seinem Herzen verbannt. Als er die ehrliche Reue des mächtigen Weisen erkannte, folgte das Sudarshan Chakra dem friedfertigen Geist des Königs. Er drehte langsamer und kehrte zu seinem Ehrenplatz neben den Thron zurück. Durvasa sackte von Dankbarkeit erfüllt nach hinten und schlief eine ganze Woche lang.

So hatte der schwache, aber emsig und demütig praktizierende Ambarisch den mächtigen Durvasa, Teilinkarnation von Shiva, mit Vishnus Hilfe besiegt und am Ende sogar zu seinem Freund gemacht.

Nacherzählt von Peter Bödeker, weitere Versionen der Geschichten finden sich auf Englisch hier und hier, mehr zu Ambarisha hier.

 

Bezüge zur Yogalehre

Die Geschichte von König Ambarisch und dem mächtigen Weisen Durvasa ist mehr als nur ein faszinierendes Märchen aus vergangenen Zeiten. Sie steckt voller Weisheiten, die direkt aus der Philosophie des Yoga stammen. Schauen wir uns an, welche Bezüge es gibt und was du daraus für deine eigene Praxis mitnehmen kannst.

  • Die Kraft der Gelassenheit
    König Ambarisch zeigt uns, wie mächtig innere Ruhe sein kann. Trotz der bedrohlichen Situation bleibt er gelassen und vertraut auf das Göttliche. Im Yoga lernen wir, durch Meditation und Atemübungen unseren Geist zu beruhigen. Diese Gelassenheit hilft uns, in stressigen Momenten zentriert zu bleiben und nicht impulsiv zu reagieren.
  • Ahimsa – Gewaltlosigkeit in Gedanken und Taten
    Ambarisch wählt den Weg der Gewaltlosigkeit. Statt zurückzuschlagen, wendet er keine Gewalt an und lässt das Sudarshan Chakra handeln. Ahimsa, die Gewaltlosigkeit, ist einer der fünf Yamas im Yoga. Es bedeutet nicht nur, anderen keinen körperlichen Schaden zuzufügen, sondern auch, friedvoll in Gedanken und Worten zu sein.
  • Tapas – Disziplin und Selbstbeherrschung
    Die Disziplin, mit der Ambarisch sein Fasten durchführt, spiegelt das Prinzip des Tapas wider. Im Yoga steht Tapas für Entsagungen und für die innere Hitze, die durch konsequente Praxis entsteht. Es geht darum, trotz Herausforderungen auf dem gewählten Pfad zu bleiben und Selbstbeherrschung zu üben. Siehe Sutra II-43.
  • Die Falle des Egos
    Durvasas Zorn und Stolz führen ihn in Schwierigkeiten. Sein Ego steht ihm im Weg, und er erkennt nicht die Konsequenzen seines Handelns. Yoga lehrt uns, das Ego zu überwinden und uns nicht von negativen Emotionen beherrschen zu lassen. Durch Selbstreflexion können wir erkennen, wann unser Ego die Kontrolle übernimmt, und lernen, demütig zu sein.
  • Bhakti – Hingabe an das Göttliche
    Ambarischs tiefe Hingabe zu Vishnu ist ein schönes Beispiel für Bhakti Yoga, den Weg der liebenden Hingabe. Durch sein Vertrauen und seine Ergebenheit erhält er Schutz. Im Yoga kann diese Hingabe uns helfen, eine tiefere Verbindung zum Göttlichen oder zu unserem inneren Selbst aufzubauen.
  • Die Macht der Vergebung
    Am Ende zeigt Ambarisch Vergebung gegenüber Durvasa. Diese Fähigkeit, Groll loszulassen und anderen zu vergeben, ist essentiell für unseren eigenen Frieden. Yoga ermutigt uns, das Herz zu öffnen und Mitgefühl zu praktizieren – für uns selbst und für andere.
  • Ishvara Pranidhana – Hingabe an eine höhere Macht
    Ähnlich wie bei Bhakti: Ambarisch überlässt die Situation dem Willen Vishnus, was das Prinzip des Ishvara Pranidhana verkörpert. Im Yoga bedeutet dies, sich einer höheren Macht oder dem Fluss des Lebens hinzugeben. Es geht darum, Vertrauen zu haben und zu akzeptieren, dass nicht alles in unserer Kontrolle liegt.

Praktische Anwendung für dich
Was kannst du aus dieser Geschichte für deinen Alltag mitnehmen? Vielleicht begegnet dir jemand, der dich provoziert oder ungerecht behandelt. Statt in Ärger zu verfallen, könntest du versuchen, ruhig zu bleiben und nicht sofort zu reagieren. Durch Achtsamkeit und Yoga-Praxis kannst du lernen, deine Emotionen besser zu verstehen und zu steuern.

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Siehe auch

Yoga Sutra II-43: Durch tapas (Entsagungen, Selbstzucht) verschwinden Unreinheiten; dies führt zu Vollkommenheit und Beherrschung vom Körper und den Sinnen

mudra meditation 250Kâyendriya-siddhir ashuddhi-kshayât tapasah
कायेन्द्रियसिद्धिरशुद्धिक्षयात् तपसः

Askese, Selbstzucht, tapas – diese sind im Yoga kein Selbstzweck. Der Yogi erwartet konkrete Früchte aus seiner Enthaltsamkeit und seinem Üben. Doch wie können tapas (die Enthaltsamkeiten) einen vollkommenen Körper und übersinnliche Wahrnehmung bewirken?

In II-43 schildert Patanjali die Folgen von tapas ► Beispiele für tapas ► Übersetzungsalternativen ► mögliche Wirkungsabläufe ► Grenzen von tapas ► das Wechselspiel der tapas

Hier weiterlesen: Yoga Sutra II-43: Durch tapas (Entsagungen, Selbstzucht) verschwinden Unreinheiten; dies führt zu Vollkommenheit und Beherrschung vom Körper und den Sinnen


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Geschrieben von

Peter Bödeker
Peter Bödeker

Peter hat Volkswirtschaftslehre studiert und arbeitet seit seinem Berufseinstieg im Bereich Internet und Publizistik. Nach seiner Tätigkeit im Agenturbereich und im Finanzsektor ist er seit 2002 selbständig als Autor und Betreiber von Internetseiten. Als Vater von drei Kindern treibt er in seiner Freizeit gerne Sport, meditiert und geht seiner Leidenschaft für spannende Bücher und ebensolche Filme nach. Zum Yoga hat in seiner Studienzeit in Hamburg gefunden, seine ersten Lehrer waren Hubi und Clive Sheridan.

https://www.yoga-welten.de

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