jāty-antara-pariṇāmaḥ prakṛty-āpūrāt
जात्यन्तरपरिणामः प्रकृत्यापूरात्
Veränderung ist kein Projektplan. Kein Willensakt. Und schon gar nicht die Folge exzessiver Selbstoptimierung. So könnte man diese Sutra lesen.
In Yogasutra 4.2 deutet Patanjali auf eine Wahrheit hin, die so einfach ist, dass sie leicht übersehen wird: Wachstum geschieht, wenn innere Kräfte überfließen. Nicht vorher. Nicht später. Was das mit Pflanzen zu tun hat, mit psychologischer Reifung – und mit deinem ganz persönlichen Yogaweg –, zeigt dieser Artikel. Mit vielen Kommentaren und Deutungen zu dieser Sutra.
Kurz zusammengefasst
- 🧠 Sutra 4.2 – Kernidee
Veränderung geschieht durch das Überfließen innerer Naturkräfte (prakṛty-āpūrāt) – nicht durch äußeren Zwang. Wachstum ist ein natürlicher Prozess, kein Kraftakt. - 📖 Klassische Kommentare
Vyāsa und andere klassische Kommentatoren beschreiben Veränderung als eine Art „innere Evolution“ – wenn frühere Zustände zur Reife gelangt sind, öffnet sich Raum für neue Formen. Die „schöpferischen Ursachen“ entfalten sich dabei selbsttätig, unterstützt durch ethische Praxis und Selbstkultivierung. - 🧘 Samyama in der Praxis
In einer Samyama-Meditation auf dieses Sutra lernt man, Vertrauen statt Kontrolle zu üben. Fokus, Versenkung und Aufgehen im Thema helfen, die natürliche Wandlungsdynamik in sich selbst zu erspüren – als Erfahrung, nicht nur als Gedanke. - 🌿 Alltagspraxis
Im Alltag zeigt sich die Lehre des Sutras als Einladung zur Geduld mit dem eigenen Reifungsprozess. Ob Gelassenheit, emotionale Offenheit oder körperliche Fähigkeiten – alles braucht seinen Raum, sein Tempo, sein „Auffüllen“. - 🔬 Psychologische Parallelen
Carl Rogers spricht von einer Selbstaktualisierungstendenz, also dem inneren Drang, sich zu entfalten. Diese Idee harmoniert mit Patanjalis Sicht auf Veränderung – als Ausdruck von innerer Reife und nicht als Produkt äußerer Manipulation.
Details und Erläuterungen zu allen Punkten im weiteren Artikel.
Bedeutung und Übersetzung des verwendeten Sanskrits
Hier sind zunächst die Übersetzungsmöglichkeiten für die einzelnen Wörter, damit du die Übersetzung selbst für ein besseres Verständnis anpassen kannst:
- Jati, jātī, jaty = Existenzform; Wesen; Geburt; Stellung; Qualität; Art;
- Antara = andere; innere; in eine andere; innen; nahe; inhärent; angeboren; innewohnend;
- Jâty-antara = in eine andere Klasse; andere Spezies;
- Parinamah, parinâmah, pariṇāma = Wandlung; Verwandlung; Veränderung; Transformation;
- Prakriti, prakṛti = Natur; natürliche Neigungen; Materie; Schöpfung;
- Apurat, âpûrât = Vervollkommnung; durch Füllen; Überfließen; Strömen; Fluten; Ausströmen von Fülle; durch Übermaß; gewaltige Möglichkeiten;
Zu den Quellen
Buchbesprechungen, Erläuterungen zur Auswahl der Übersetzungsvarianten und allgemeine Hinweise zur Sutraübersetzung findest du im zugehörigen Artikel. Hier nun die Kurzauflistung:
Bücher
- Mircea Eliade: Yoga – Unsterblichkeit und Freiheit
- Iyengar: Der Urquell des Yoga
- Deshpande/Bäumer: Die Wurzeln des Yoga
- Geraldine Coster: Yoga und Tiefenpsychologie
- R. Sriram: Von der Erkenntnis zur Befreiung – Das YogaSutra
- Govindan: Die Kriya Yoga Sutras des Patanjali
- Mallinson/Singleton: Roots of Yoga
- R. Palm: Der Yogaleitfaden des Patañjali
- T.K.V. Desikachar: Über Freiheit und Meditation | Das Yoga Sutra von Patanajali
- Feuerstein, Georg: Die Yoga Tradition (Amazon)
- Skuban, Ralph: Patanjalis Yogasutra (Amazon)
- Sri Swami Satchidananda: The Yoga Sutras of Patanjali (Amazon)
- Trevor Leggett: The complete Commentary by Sankara on the Yoga-Sutras* (Amazon)
Internetseiten
- Internet-Übersetzung des Yogasutras auf Yoga-Vidya.de
- Zu den Sutras auf ashtangayoga.info
- Zu den Sutras auf 12koerebe.de
- Zu den Sutras auf vedanta-yoga.de
- Openland.de (mittlerweile offline)
- Zu www.bodhi.sofiatopia.org (buddhistische Kommentare zum Yogasutra nur noch als Buch)
- sanskrit-sanscrito.com (Sutras anscheinend entfernt)
- Zur Übersetzung von Chip Hartranft (PDF)
- Die Übersetzung von Hariharananda Aranya, I. K. Taimni, Vasa Houston, Barbara Miller, Swami Satchidananda, Swami Prabhavananda, Swami Vivekananda finden sich auf dieser Seite.
- Übersetzung von James Haughton Woods
- Rainbowbody.com (ausführliche und eigene Kommentierung)
- Wisdom Library
Weitere Quellen, z. B. zu aktuellen Studien, sind direkt im Text verlinkt.
Dein Übersetzungsvorschlag
Du findest die bisherigen LeserInnen-Übersetzungen und -Ergänzungen unten.
Hast du einen eigenen Übersetzungsvorschlag?
Wie würdest du diese Sutra übersetzen? Manchmal ergeben schon kleine Wortveränderungen ganz neue Aspekte. Trau dich ... :-)
Einordnung dieser Sutra im Yogasutra
Kurze Zusammenfassung der vier Kapitel des Yogasutras
- 1. Samādhi Pāda – Über die Versenkung
Beschreibt das Ziel des Yoga: das zur Ruhe bringen der Gedanken im Geist. Erläutert, was Yoga ist, die Arten von Samādhi (meditativer Versenkung) und wie der Geist durch Übung (abhyāsa) und Loslösung (vairāgya) zur Ruhe gebracht werden kann. - 2. Sādhana Pāda – Über die Praxis
Behandelt die konkrete Praxis des Yoga. Führt die acht Glieder des Yoga (Ashtanga Yoga) ein: Yama, Niyama, Asana, Pranayama, Pratyahara, Dharana, Dhyana, Samadhi. Schwerpunkt liegt auf der ethischen Vorbereitung und inneren Reinigung. - 3. Vibhūti Pāda – Über die übernatürlichen Kräfte
Beschreibt die fortgeschrittenen Stufen der Praxis (Dharana, Dhyana, Samadhi = Samyama) und die daraus entstehenden übernatürlichen Kräfte (Siddhis). Warnt davor, sich von diesen Kräften ablenken zu lassen. - 4. Kaivalya Pāda – Über die Befreiung
Erklärt das Ziel des Yoga: Kaivalya (vollkommene Befreiung des Selbst von der Materie). Diskutiert die Natur des Geistes, Karma, Wiedergeburt und wie durch Erkenntnis die endgültige Freiheit erlangt wird.
Das Yoga-Sutra IV.2 lautet im Sanskrit: jāty-antara-pariṇāmaḥ prakṛty-āpūrāt. Eine wörtliche Übersetzung wäre: „Die Umwandlung in eine andere Gattung erfolgt durch das Auffüllen (Überfließen) der Natur“. Anders formuliert: Natürliche Kräfte bringen von selbst neue Formen hervor, sobald sie über ein bestimmtes Maß hinaus anwachsen. Einige moderne Übersetzer fassen das sinngemäß so auf, dass „eine neue Daseinsform entsteht, wenn die natürlichen Kräfte überfließen“.
Schlüsselbegriffe in Sutra 4.2
In diesem kurzen Sutra stecken mehrere wichtige Begriffe:
- Prakṛti bedeutet hier die „Natur“ im umfassenden Sinn – die Ur-Materie oder Schöpfungskraft, aus der alles Sichtbare und Unsichtbare besteht. In der Sāṃkhya-Philosophie, die Patanjali zugrunde liegt, ist Prakriti die Summe der drei Gunas (Grundqualitäten Sattva, Rajas, Tamas), die alle Vorgänge in der Natur steuern.
- Pariṇāma heißt Veränderung, Transformation oder Umwandlung.
- Jāti bedeutet Art, Gattung oder Geburtsform. Patanjali spricht also davon, wie eine Veränderung von der einen Daseinsform in eine andere zustande kommt – sei es eine körperliche Transformation oder im weiteren Sinne eine geistige Evolution des Individuums.
Wahrgenommenes und Wahrnehmendes – Auszug aus der Samkhya-Lehre
Wahrgenommenes und Wahrnehmendes – Auszug aus der Samkhya-Lehre
Das Samkhya ist eines der ältesten philosophischen Systeme indischer Herkunft. „Samkyha“ bedeutet wörtlich „Zahl“, „Aufzählung“ oder „das, was etwas in allen Einzelheiten beschreibt“. Hiermit ist die Aufzählung und Analyse jener Elemente gemeint, die gemäß Samkyha die Wirklichkeit bestimmen.
Allein das Wissen um diese Elemente soll bereits zur Erlösung vom Kreislauf der Wiedergeburten führen. Damit einher geht die Beendigung von drei Arten des Leidens (duhkha):
- adhyatmika (Leiden unter physischen oder psychischen Krankheiten),
- adhibhautika (von Außen zugefügtes Leid durch menschliche Gewalt oder Umwelteinflüsse),
- adhidaivika (Leid durch Naturgewalt, Umweltkatastrophen oder übernatürliche Phänomene).
Purusha, Prakriti, Guna
Das Universum und die Abläufe darin beruhen gemäß Samkyha auf zwei fundamentalen Prinzipien:
- Purusha: passiver aber bewusster Geist, auch Urseele, Weltgeist oder kosmisches Selbst genannt. Steht im Dualismus für Subjekt und das Wahre Selbst.
- Prakriti: aktive aber unbewusste „Urmaterie“, das Wahrnehmbare, das Benennbare oder „Natur“. Steht im Dualismus für Objekt und das Universum
Swami Satchidananda schreibt:
„Das Purusha ist das Wahre Selbst, das Purusha sieht. Prakriti ist alles andere.“
Es herrscht Uneinigkeit: Die Samkhya Philosophie sagt, dass es ein real existierendes Universum gibt. Die Vedanta-Lehre sieht alles als Maya, als Illusion an.
Prakriti und die Gunas
Der Urnatur Prakriti werden im Samkhya drei Gunas (Merkmale, Eigenschaften, von Hauer „Weltstoffenergien“ genannt) zugerechnet:
- Sattva (das Seiende, Reinheit, Klarheit). Gemäß Ayurveda-Lehre steht Sattva für Reinheit, Ausgeglichenheit, Balance und Neutralität. Charakterlich zeigt sich eine Sattva-Vorherschaft in Freigebigkeit, Gelassenheit, Zufriedenheit, Weisheit, Ausgeglichenheit und Toleranz. Menschen, die sich vorwiegend sattvisch ernähren sollen länger leben und gesünder alt werden. Als sattvische Nahrungsmittel gelten frische & reife Früchte, Honig, Milch, Reis, Weizen, Safran und Zimt.
- Rajas (Bewegung, Energie, Leidenschaft). Verantwortet Wandlung, Veränderung und Dynamik. Aber auch Zorn, Rastlosigkeit und Hektik.
- Tamas (Trägheit, Dumpfheit, Dunkelheit, Schwere). Eine Kraft, die unsere Wahrnehmungsfähigkeit trübt und unsere Wirkkraft schwächt. Aber auch das Prinzip der Ruhe.
Sattva für den Yogi
Feuerstein (Buch bei Quellen ergänzen) schreibt: „Während aktive (rajas) und träge (tamas) Qualität dazu neigen, die Ich-Illusion aufrechtzuerhalten, erschafft die Qualität der Helligkeit (sattva), insoweit sie dominiert, die Vorbedingungen für das Befreiungsgeschehen. Daher erstrebt der yogin sattvische Konditionen und Zustände.“
Aber auch das Körper-Geist-System existiert auf Basis der drei Gunas. Als Yogi wisse man, dass alle drei Prinzipien miteinander wechselseitig verbunden sind. Jede Anhaftung an einen Zustand (Sattva ...) führt (ebenfalls) zu Leid.
Purusha
Purusha ist das Selbst, das allen fühlenden Wesen innewohnt. Durch Purusha erhalten Menschen, Tieren, Pflanzen und Götter ihre Empfindungsfähigkeit und Bewusstsein.
Des Menschen wahre und ursprüngliche Identität ist einzig und allein Purusha, die sich zum Zwecke des Erfahrens in Prakriti manifestiert hat, siehe Sutra II-18.
Nun verstrickt sich dieses Purusha in Prakriti, hält die zur Sphäre der Prakriti gehörigen Elemente und Bereiche irrtümlicherweise für Bestandteile seiner selbst. Daraus entsteht Leid.
Grundelement der Lehre des Samkhya für den nach Erlösung Strebenden ist deshalb, die beiden Substanzen Purusha und Prakriti und ihre Merkmale streng voneinander unterscheiden zu lernen.
Vedanta
Im nondualen Vedanta ist Prakriti nur eine Täuschung, Maya.
Physik und Quantentheorie
Betrachten wir den Bildschirm vor uns, so sehen wir gemäß der Physik ein Konstrukt aus Neutronen, Elektronen und Protonen, die alle auf einer eigenen Frequenz schwingen und um sich kreisen. Nahezu 100 Prozent des Bildschirmes besteht aus Vakuum! Nur unsere Sinne – die Sinne des Wahrnehmenden – machen daraus einen Monitor.
Die Quantenphysik macht alles noch verschwommener: Ob sich ein subatomares Partikel als Teilchen oder als Welle verhält, hängt vom Beobachter ab. Anders ausgedrückt: vom beobachtenden Bewusstsein. Vom Wahrnehmenden und dessen Wahrnehmung. Eigenschaften der Partikel wie dessen Lokalität können nicht vom Betrachter getrennt werden. Dies geht mehr in Vedanta (und Buddhismus)-Richtung als die Samkhya-Behauptung eines unabhängig von Purusha existierenden Universums Prakriti.
Wörtlich besagt Sutra 4.2, dass solche Veränderungen durch Prakritis „Überfließen“ oder innere Fülle bewirkt werden. Man kann das als Hinweis darauf verstehen, dass alle Evolution oder persönliche Entwicklung letztlich aus der Entfaltung natürlicher Anlagen und Veranlagungen resultiert. Im Deutschen wurde es etwa übersetzt als „alle evolutionären Umwandlungen rühren von der Erfüllung natürlicher Neigungen her“, was betont, dass innewohnende Tendenzen sich erfüllen und so zur Veränderung führen. Dieses Prinzip kennt man auch aus dem Alltag: Eine Pflanze wächst nicht, indem wir an ihr ziehen – sie wächst, wenn ihre innewohnende Lebenskraft ausreichend Nährstoffe, Wasser, Sonne bekommt. Genauso, so legt es das Yogasutra nahe, wachsen Menschen über sich hinaus, wenn ihre inneren Kräfte frei fließen können.
Erläuterungen und Deutungen der Sutra-Aussage
Patanjali stellt hier gewissermaßen ein „Naturgesetz der Veränderung“ dar. Veränderung – ob biologisch als Artwandel oder individuell als persönliches Wachstum – geschieht aus sich heraus, angetrieben durch die Fülle der Natur. Klassische Kommentatoren sehen in prakṛty-āpūrāt (dem „Auffüllen der Natur“) die Idee, dass Prakriti sozusagen einen Überfluss an Energie oder Potential hat, der sich in neue Formen ergießen kann, sobald die Bedingungen stimmen. Der Prozess wird gerne mit einem Bild beschrieben: Wasser, das ein Gefäß überfüllt und in ein anderes Behältnis überläuft. Dieses Wasser steht sinnbildlich für die latente Kraft oder Entwicklungstendenz in jedem Wesen. Wenn das bisherige „Gefäß“ (also die aktuelle Form oder Lebenssituation) voll ist oder keinen Raum mehr für Entfaltung bietet, fließt die überschüssige Energie weiter und nimmt eine neue Form an.
Chip Hartranft, ein moderner Yoga-Lehrer und Übersetzer, beschreibt diesen Vorgang so: „Being delivered into a new form comes about when natural forces overflow.“ („Die Geburt in eine neue Form ereignet sich, wenn natürliche Kräfte überfließen.“). Wichtig dabei: Das Überfließen allein bewirkt die Verwandlung, nicht irgendein äußerer Zwang oder willentlicher Kraftakt. Die vorhandene Kraft sucht sich gleichsam ihren Weg, kanalisiert durch die aktuellen Umstände und Absichten. In Hartranfts Erläuterung entspricht das Gefäß dem Bündel aus bisherigen Eindrücken und Gewohnheiten (im Yoga Saṃskāra genannt), welches die Richtung vorgibt, in die die Energie fließt. Die Veränderung erfolgt also impersonell nach dem Zusammenspiel von Anlage und Umgebung – so impersonal und natürlich wie Wasser, das bergab fließt. Kein Gärtner erzwingt das Wachsen einer Pflanze; er schafft nur die Bedingungen. Genauso kann der Yogi Veränderung nicht direkt machen, sondern nur Hindernisse entfernen, damit die innewohnenden Kräfte ungehindert wirken können.
Erlebst du Veränderung in deiner Yogapraxis eher als...?
Schauen wir uns weitere Deutungsmöglichkeiten und Erläuterungen zu Sutra 4.2 näher an:
Die Eigenschaften der Gunas führen zur Reinheit des Geistes
Eine mögliche Deutung (gefunden bei Wim van den Dungen) dieser Sutra lässt sich wie folgt skizzieren:
Alle Objekte in der Welt, dazu gehört auch unser Geist, sind Modifikationen der drei Gunas, den Grundbestandteilen der Natur:
- Sattva – Reinheit
- Rajas – Unruhe und Bewegung
- Tamas – Trägheit, Zusammenziehung
Hierdurch gibt es in der Natur eine immense Vielfalt und ein großes Potential an Möglichkeiten, denn die drei Grundbestandteile können sich auf vielfältige Weise verbinden.
Eine dieser Umwandlungen kann die in den Sutras zuvor beschriebene Verwandlung des citta – des menschlichen Geistes – in Richtung großer Reinheit/Sattva sein. So kann der Geist rein genug werden, um Purusha – das wahre Selbst – zu erkennen. Wenn sich ein(e) Yogi(ni) dann immer mehr dem Purusha zuwendet, realisiert sie/er die angesprochene Unterscheidung (zwischen Purusha “ und „Prakriti, der Naturi“) und verwirklicht das samenlose Bewusstsein der Befreiung – höchsten Samadhi.
Anders betrachtet: Durch die Umwandlung von Grob- in Feinstoffliches und von Feinstofflichem in sehr Feinstoffliches wird die Befreiung ermöglicht. Und all das unter Ausnutzung der in der Natur vorkommenden Kräfte bzw. der in der Welt angelegten Tendenzen.
Eine weitere Perspektive ergänzt: So hilft die Ursache unseres Leidens (die Mechanismen der Natur, welche unsere falsche Identifikation mit unserem Ego befördern), auch dabei, uns von dieser falschen Sicht zu befreien. Also ist das Leiden ein positiver Motivator (bzw. eine Tendenz, die in der Natur angelegt ist), um uns in Richtung Befreiung/Kaivalya zu “stupsen”.
Schaffung eines Golems
Feuerstein erklärt (S. 378), dass früher diese und andere Sutras dahingehend gedeutet wurden, dass ein Yogin die magische Fähigkeit habe, einen “künstlichen Körper samt Verstand zu erschaffen”. Auf diesen Körper könne der Yogi dann sein gesamtes Karma übertragen, so dass er damit nicht mehr belastet wäre. Genauere Studien dieses Abschnittes im Yogasutra deuten aber darauf hin, dass Patanjali “eine universellere Interpretation” dieses Abschnittes im Sinn hatte. Er habe “den Prozess der differenzierenden Individuation im Kosmos ganz generell skizziert".
Umwandlungen = Lebensstufen
Manche Kommentatoren wie Vacaspati (so R. Palm auf Seite 198), deuten jati-antara als Lebensstufe, mithin z. B. als Verwandlung von Kind zum Erwachsenen. Oder vom Erwachsenen zum Greis.
Umandlungen = Menschheitsetappen
Govindan sieht hier die Menschheit als Ganzes angesprochen. Es scheint für ihn, dass mit dieser Sutra “... gesagt werden soll, dass wir uns als yoigins nicht nur um unsere eigene Rettung bemühen sollen, sondern vielmehr um eine neue Menschheit, die göttlichen Eigenschaften haben wird [wie in den Sutras aus Kapitel 3 beschrieben]. Dazu gehören Schönheit, Anmut, Kraft … Unverletzetzbarkeit …” usw. Er verweist auf die Prophezeiung von Srik Yukteswar (ein Guru von Yogananda), derzufolge im Jahr 4.000 Telepathie als gängige Kommunikationsform zwischen Menschen üblich sein werde.
Auch die Siddhis folgen natürlichen Gesetzmäßigkeiten
Sukadev schreibt, dass Patanjali mit dieser Sutra sagt, dass alles, auch das Entstehen von Siddhis, “aufgrund und in Erfüllung von Naturgesetzen” geschehe. Wir würden halt nur noch nicht alle diese Gesetze kennen.
Der Yoga, so Skuban auf Seite 239, räume lediglich Barrien von dem Entwicklungsweg des Yogis fort, “damit das Wasser der Evolution frei auf den Acker unseres Bewusstseins fließen kann ...”. Dazu mehr in der nächsten Sutra.
Weitere klassische Kommentare und Auslegungen
Im 9. Jahrhundert verfasste der Advaita-Meister Śaṅkara (Shankaracharya) einen Kommentar, in dem er die Sutren aus der Sicht des Nichtdualismus las. Für Shankara gibt es letztlich nur ein Selbst (Purusha), und die vielgestaltige Natur ist Māyā (Illusion) – doch selbst er akzeptiert, dass innerhalb dieser illusionären Natur die beschriebenen Veränderungen gemäß Prakriti ablaufen. Darauf reagierten im 10./11. Jahrhundert die Gelehrten Vācaspati Miśra und Bhoja. Ihre Kommentare (Vacaspatís Tattva-Vaiśāradī und Bhojas Rājamārtaṇḍa) betonen wieder die ursprüngliche Sāṃkhya-Perspektive: nämlich dass viele Purushas existieren und Prakriti real die Evolution der Formen vollzieht. Im 16. Jahrhundert schuf Vijñānabhikṣu einen weiteren wichtigen Kommentar (Yoga-Vārttika), der eine Brücke zum Vedānta schlägt. Er integrierte die Idee eines höchsten Gottes (Īśvara) in die Interpretation: Die Natur (Prakriti) bringt zwar die Formen hervor, aber letztlich als Teil von Gottes göttlichem Spiel, könnte man sagen. Trotz solcher Unterschiede im theologischen Überbau stimmen diese klassischen Kommentare in der Kernbotschaft von Sutra 4.2 überein: Veränderung geschieht, weil die Natur aus sich selbst heraus drängt, ihre innewohnende Fülle zu verwirklichen. Das Sutra unterstreicht eine Art „Evolutionstrieb“ der Natur.
Vyāsa (siehe unten) und andere erläutern auch, was Sutra 4.2 nicht bedeutet: Nämlich nicht, dass unsere bewussten Anstrengungen überflüssig wären. Vielmehr sollen wir verstehen, wie unsere Anstrengungen wirken – sie können die Voraussetzungen schaffen, damit die Natur ihr Werk tut. Ein späterer indischer Kommentator vergleicht dies mit einem Bauplan: Zuerst existiert eine Blaupause/Idee auf subtiler Ebene, dann wird er schrittweise „ausgefüllt“ – ähnlich wie ein Architekt erst den Plan zeichnet, dann das Fundament legt, dann Stockwerk für Stockwerk hochzieht. Entsprechend formt Prakriti aus einem bestehenden inneren Plan (Karma und Samskara bilden diesen Plan) nach und nach eine neue Gestalt.
Für Yogapraktizierende könnte man das so deuten: Jeder meditative Fortschritt, jede innere Wandlung war im Keim schon angelegt – die Übung hat nur geholfen, den Keim aufgehen zu lassen.
Moderne Deutungen und Wissenschaftsbezüge
Auch moderne Lehrer und Denker haben Yogasutra 4.2 kommentiert, oft fasziniert von der Parallele zu Evolutionstheorien und Psychologie. Swami Vivekananda zum Beispiel, einer der ersten, der Yoga Sutra im Westen bekannt machte, sah hier eine Bestätigung dafür, dass Entwicklung von innen kommt. Patanjali meine, so Vivekananda, dass Vollkommenheit bereits in jedem Wesen angelegt ist und Evolution lediglich das Offenbaren dieses inneren Perfektionspotentials darstellt. Er stellte diese Sicht bewusst der darwinistischen Idee von Zufall und „survival of the fittest“ gegenüber: Während moderne Biologen glauben, äußere Auslese bestimme den Fortschritt, betont die Yogaphilosophie laut Vivekananda eine innere Drangkraft zur Entfaltung des Vollkommenen. „Die wahre Triebkraft der Evolution ist die Manifestation der bereits in jedem Seienden vorhandenen Vollkommenheit“, schreibt er, „eine unendliche Flut dahinter ringt danach, sich auszudrücken“. Selbst wenn aller Konkurrenzkampf enden würde, so argumentiert Vivekananda, würde diese perfekte Natur im Innern weitertreiben, bis jedes Wesen zur Vollendung gelangt. Diese leidenschaftliche Auslegung verleiht Sutra 4.2 eine nahezu revolutionäre Note: Evolution ist kein kalter Mechanismus, sondern eine teleologische Kraft hin zur höchsten Entfaltung – oder in seinen Worten, „im Tier war der Mensch schon angelegt und brach hervor, sobald die Tür aufging; im Menschen ist ein Gott angelegt, der durch Wissen befreit werden kann“. Mehr dazu hier.
Abseits solch philosophischer Höhenflüge betonen heutige Yogalehrer oft den praktischen Wert von 4.2 (und die daran anschließende Sutra 4.3): Es erinnert daran, dass persönliches Wachstum eher ein Geschehenlassen als ein Erzwingen ist. Der Yogatherapeut und Autor Chip Hartranft beschreibt Veränderung als spontanen Prozess natürlicher Kräfte – der Yogi lernt im Grunde, mit dem Fluss zu gehen, anstatt gegen ihn anzukämpfen.
🧠 Ein Blick in die Psychologie: Carl Rogers und die Kraft der inneren Entfaltung
Was Patanjali im Yogasutra 4.2 mit spiritueller Klarheit formuliert, klingt fast wie ein fernöstlicher Vorgriff auf das, was der Psychologe Carl Rogers im 20. Jahrhundert als Grundprinzip der Persönlichkeitsentwicklung beschrieb: die Selbstaktualisierungstendenz.
Rogers – Mitbegründer der humanistischen Psychologie – beobachtete in jahrzehntelanger therapeutischer Praxis: Menschen verändern sich nicht dadurch, dass man ihnen Druck macht. Oder kluge Ratschläge gibt. Oder sie zwingt, „besser“ zu werden. Nein – Veränderung geschieht dann, wenn ein Klima entsteht, in dem sie sich sicher und akzeptiert fühlen. Dann, sagt Rogers, entfaltet sich der Mensch aus sich selbst heraus, fast wie eine Pflanze, die zur Sonne wächst – sobald Licht, Wasser und Raum da sind.
Wörtlich schreibt er:
„Das Individuum besitzt eine grundlegende Tendenz – eine Triebkraft – zur Aktualisierung, Erhaltung und Erweiterung seines Erlebens.“
– Carl R. Rogers, On Becoming a Person, 1961, Houghton Mifflin
Ist das nicht exakt das, was Patanjali in Sutra 4.2 meint? „Jāty-antara-pariṇāmaḥ prakṛty-āpūrāt“ – also: Die Umwandlung geschieht durch das „Überfließen“ der Natur, nicht durch äußeren Zwang. Beide – Patanjali wie Rogers – trauen dem Leben im Innern eine tiefe Intelligenz zu. Sie sagen: Veränderung ist kein Produkt von Gewalt, sondern ein Ausdruck natürlicher Reifung.
Carl Rogers' Ansatz wurde von östlichen Konzepten inspiriert. Er selbst gab zu, dass seine Idee der Selbstentfaltung stark von buddhistischen und yogischen Ideen über innere Natur beeinflusst war – auch wenn er sie psychologisch übersetzte.
Für die Yogapraxis heißt sein Ansatz: Du musst dich nicht verbessern. Du darfst dich entfalten. Und deine Aufgabe ist es nicht, dich neu zu erfinden – sondern die Bedingungen zu schaffen, in denen das, was längst in dir angelegt ist, wachsen kann. Yoga als psychologisches Gärtnern, gewissermaßen.
Noch ein Gedanke dazu: In der modernen Hirnforschung spricht man von Neuroplastizität: Das Gehirn hat die Fähigkeit, sich durch Wachstum und Umstrukturierung ständig zu verändern. Lernen und persönliche Entwicklung geschehen, indem vorhandene neuronale Verknüpfungen gestärkt, neue Pfade gebildet und ungenutzte abgebaut werden. Nichts davon wird dem Gehirn von außen aufgezwungen – die Impulse von außen wirken nur als Trigger, als Auslöser. Im Grunde wartet das neuronale Netzwerk darauf, sich bei geeigneter Stimulation selbst weiterzuentwickeln. Diese Erkenntnis stützt die yogische Erfahrung: Veränderung kommt von innen heraus, doch wir können durch Übung und Umgebung den Anstoß geben und die Hindernisse aus dem Weg räumen.
Kommentar von Vyasa zu Sutra 4.2 über die natürliche Wandlung
Erläuterungen zu Vyasa
Vyasa war ein indischer Philosoph des 5. bzw. 6. Jahrhunderts nach Christi, der den ältesten überlieferten Kommentar zum Yogasutra des Patanjali schrieb. Der Text wird Yogabhashya (wörtlich "Kommentar (Bhashya) zur Yogaphilosophie") genannt und um 600 nach Christi datiert. Vyasas Kommentare zu den Sutras sind oftmals recht kurz.
Ohne Vyasas Kommentar wären viele Sutras heute fast unverständlich. Manche Gelehrte sagen, der Text ist erst durch den Kommentar wirklich „lesbar“.
Vyāsa war vielleicht/wahrscheinlich kein einzelner Autor, sondern ein Titel, der mehrere Kommentatoren der indischen Tradition umfasst. Die Stimme, die wir im Yogasutra-Kommentar hören, ist also vielleicht ein Chor.
Vyasas Yogabhashya wurde im 8./9. Jh. von Shankara (788–820 n. Chr, indischer Gelehrter, Vedanta-Philosoph, Begründer der Advaitavedānta-Tradition) kommentiert. Sein Kommentar nennt sich Yogabhashyavivarana, Vivarana ist ein Unterkommentar.
Auch Vachaspati Mishra hat einen frühen, berühmten Kommentar zum Yogasutra geschrieben. (Meine Quellen für diese Kommentare waren unterschiedliche Bücher und Webseiten, zum Beispiel Legget (siehe Literatur) und wisdomlib.org/hinduism/book/yoga-sutras-with-commentaries/). Ich gebe hier diese Kommentare in für mich relevanten Auszügen in Worten wieder, die für mich den Sinn in heutigen Worten am besten wiedergeben. Dies ist explizit kein Bemühen, die Originalkommentare wortgetreu wiederzugeben. Fehlinterpretationen sind natürlich in meiner Verantwortung.
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Die Kommentare von Vyasa, Mishra und Shankara sind oft wörtlich übersetzt worden, zum Beispiel bei den oben angegebenen Quellen.
Vyāsas Kommentar zum Yogasutra 4.2 wirkt auf den ersten Blick sperrig – wie durch eine philosophische Röhre gesprochen, Jahrhunderte alt. Doch dahinter steckt eine tiefgreifende Beschreibung natürlicher Veränderung. Schauen wir also etwas genauer hin – und übersetzen nicht nur die Worte, sondern auch den Sinn, der dahinter (vermutlich) verborgen ist.
Vyāsa schreibt sinngemäß:
„In dem Moment, in dem ein bestimmter Lebenszustand zur vollen Reife gelangt ist – der Körper und seine Kräfte also ihre Form erreicht haben –, beginnt bereits der Übergang in einen neuen Zustand. Dieser Wechsel geschieht durch das Auffüllen der schöpferischen Ursachen. Das bedeutet: Sobald eine frühere Veränderung zur Ruhe gekommen ist, wird Platz frei – und die nächste Veränderung steht schon bereit. Sie zeigt sich durch das Entstehen neuer Organe, Fähigkeiten oder Strukturen, die vorher schlicht nicht vorhanden waren. Die Kräfte, die den Körper formen, fördern also jeweils ihre eigene Transformation, indem sie sich sozusagen von innen heraus „auffüllen“. Die Notwendigkeit tugendhaften Handelns, ethischer Disziplin usw. tritt hier als unterstützende Nebenbedingung auf – als Beitrag zur Beseitigung von Hindernissen.“
Was Vyāsa hier beschreibt, ist alles andere als abstrakt. Es ist im Grunde eine beobachtbare Dynamik – in deinem Körper, deinem Geist, deinem Leben. Veränderung ist nicht bloß ein Ereignis, sondern ein kontinuierlicher Prozess von Reifung, Stillstand, Neubeginn. Und dieser Prozess hat eine Richtung, eine innere Logik – keine willkürliche Abfolge.
🔄 Von einem Zustand zum nächsten: nichts bleibt, wie es war
Wenn Vyāsa vom „Wechsel zu einem anderen Lebenszustand“ spricht, meint er nicht unbedingt einen radikalen Umbruch. Oft ist es eher eine feine Verschiebung, kaum sichtbar – wie wenn du plötzlich spürst, dass du gelassener auf Kritik reagierst, ohne bewusst etwas „trainiert“ zu haben. Ein vorheriger Geisteszustand hat sich voll entfaltet, ist ausgeklungen, und ein neuer tritt an seine Stelle.
Was dabei entsteht – neue „Organe und Teile“, wie Vyāsa es nennt – muss man nicht wörtlich nehmen. Das können ebenso gut psychische Strukturen sein: eine neue Fähigkeit zur Unterscheidung, eine neue Offenheit im Herzraum, ein stabileres Nervensystem.
🌱 Die „schöpferischen Ursachen“ – innere Kräfte im Wandel
Besonders spannend ist Vyāsas Begriff der schöpferischen Ursachen (upādāna kāraṇa). Gemeint sind (vermutlich) die inneren Potenziale, die deiner Natur innewohnen. Nicht erschaffen von dir – sondern schon da, wartend. Und sie entfalten sich nicht auf Kommando, sondern wenn ihre Zeit gekommen ist. Wenn das, was vorher war, fertig ist. Voll. Erschöpft. Abgeschlossen.
Er spricht hier vom „Auffüllen“ dieser Ursachen. Man kann sich das vorstellen wie eine Schale, die nach und nach mit Erfahrung, Reife, Erkenntnis gefüllt wird – und irgendwann überläuft. Und dieser Überlauf ist die Geburt des Neuen. Ganz im Sinne der Sutra: prakṛty-āpūrāt – das Überfließen der Naturkraft.
🧘 Tugend als Nebenursache – und was das in der Praxis bedeutet
Man könnte jetzt denken: „Na gut, wenn alles von selbst geschieht, warum überhaupt üben?“ Auch dazu hat Vyāsa eine klare Antwort: Er sagt nicht, dass Übung überflüssig sei – sondern dass ethisches Handeln, Disziplin, Achtsamkeit nicht die Hauptursache für Transformation sind, sondern eine unterstützende Bedingung. Wie das Sonnenlicht für die Pflanze: Es fördert das Wachstum, aber es erschafft es nicht.
Tugend – im Yoga-Kontext zum Beispiel Ahimsa (Gewaltlosigkeit), Satya (Wahrhaftigkeit), Svadhyaya (Selbststudium) – bereitet den Boden vor. Sie schafft ein Klima, in dem die natürlichen inneren Kräfte sich ungehindert entfalten können. Deine Aufgabe ist es nicht, das Neue zu machen – sondern ihm Platz zu machen.
Fazit: Veränderung ist kein Kraftakt – sondern ein Reifestadium
Vyāsa beschreibt einen subtilen, aber tief wirksamen Ablauf: Der Körper und Geist verwandeln sich nicht durch Gewalt – sondern durch Vollendung und Überfluss. Erst wenn das Bisherige voll ist, entsteht Raum für das Nächste. Yoga heißt auch: zu spüren, wann du voll bist – und wann du loslassen darfst.
Übungsvorschläge zu Sutra IV-2
Wie du Yogasutra 4.2 in deiner Meditationspraxis üben kannst
Erinnern wir uns kurz: Samyama ist diese dreifache Praxis aus Dharana (Konzentration), Dhyana (Meditation) und Samadhi (Verschmelzung). In Kombination richten wir sie auf ein Objekt oder Thema, das wir durchdringen wollen – nicht mit Nachdenken, sondern mit Erspüren, Durchleuchten, Loslassen.
Wie also Samyama auf Sutra 4.2?
Nimm dir einen Moment – ruhig im Sitzen. Spür in dich hinein. Nicht viel Theater: keine Erwartung, kein spirituelles Drama. Nur du, dein Atem, dein Innerstes. Dann richte deine Aufmerksamkeit auf den Gedanken: „In mir wirken Kräfte, die sich entfalten wollen – ganz ohne mein Zutun.“ Spür, wie sich dieser Gedanke anfühlt, wenn du ihn nicht analysierst, sondern einfach bist mit ihm.
- ➡️ Dharana: Du hältst den Fokus auf diesem inneren Strom – auf der Idee, dass in dir etwas reift. Vielleicht fühlst du’s als Wärme im Bauch. Vielleicht ist es nur eine leise Ahnung. Bleib dran.
- ➡️ Dhyana: Lass den Gedanken weicher werden. Beobachte, ob sich irgendwo in dir Widerstand regt – der Kontrolleur, der denkt: „Aber ich muss doch planen, entscheiden, machen!“ Lass ihn zu Wort kommen. Und lass ihn dann wieder gehen. Bleib beim Fluss.
- ➡️ Samadhi: Wenn du Glück hast – und etwas Vertrauen –, verschwindet irgendwann das „Ich-muss-was-tun“-Gefühl. Es bleibt ein stilles Wissen: Ich bin eingebunden in einen Prozess. Ich bin nicht allein verantwortlich fürs Wachstum.
Das ist Samyama auf diese Sutra: Nicht Kontrolle üben, sondern Vertrauen üben. Nicht drücken – fließen lassen. Und das kann sich sehr real anfühlen – nicht nur wie ein netter Gedanke. Als würdest du im Innern endlich nicht mehr gegen deinen Fluss rudern, sondern deinen Kahn lösen und sehen: Der Fluss kennt den Weg.
Meine Erkenntnisse/Erfahrungen bei/mit dieser Übung
... oder kannst du eine andere Übung zum besseren Verständnis bzw. zum Erfahren dieser Sutra ergänzen?
Wie du diese Sutra im Alltag üben kannst
Du willst Veränderung? Schön. Aber drückst du auch ständig daran herum wie an einem zu harten Avocado-Kern? Dann ist diese Sutra für dich gemacht. „Die Natur bringt die Veränderung, wenn sie überfließt.“ Nicht vorher. Nicht wenn du’s erzwingst. Sondern wenn du bereit bist, die Voraussetzungen zu schaffen – und dann die Kontrolle loszulassen.
- Beispiel 1: Du willst gelassener werden.
Also versuchst du, dich „zusammenzureißen“, wenn du dich aufregst. Aber Gelassenheit entsteht nicht durch Kieferpressen. Übe lieber, die Bedingungen zu schaffen, unter denen Gelassenheit ganz natürlich auftaucht. Achte auf deinen Schlaf. Achte auf dein Nervensystem. Schaffe Räume der Ruhe. Dann, ganz von selbst, merkst du eines Tages: Ich bin ruhig geblieben. Nicht, weil ich mich gezwungen habe – sondern weil es einfach so war. - Beispiel 2: Du möchtest freier sprechen, offener sein.
Statt also immer wieder peinlich zu analysieren, was du sagen solltest, übe, präsent zu sein. Hör zu. Sei echt. Übe vielleicht täglich ein bisschen Pranayama, um deinen Brustraum zu öffnen. Geh in Berührung mit deiner eigenen Stimme. Und irgendwann – ganz unspektakulär – sprichst du frei. Nicht aus Strategie, sondern aus einem Überfluss an Natürlichkeit. Genau das meint diese Sutra. - Beispiel 3: In deiner Yogapraxis willst du „weiterkommen“.
Die Haltung tiefer, der Atem länger, das Herz offener. Und du strengst dich an. Ehrlich. Aber alles wird irgendwie... mühselig. Vielleicht ist es Zeit, dich zu fragen: Was kann ich lassen? Wo kann ich Raum schaffen – nicht mehr Druck? Vielleicht lässt du für eine Woche alle fancy Asanas weg und machst nur regenerative Praxis. Und – Überraschung – danach sind deine Muskeln nicht nur weicher, sondern auch deine Haltung hat sich verändert. Weil: Überfluss kommt nicht aus Stress, sondern aus Balance.
Siehe auch folgende Sutras
Yoga Sutra I-2: Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Bewegungen im Geist
Yoga Sutra I-18: Ein weiterer Zustand des Samadhi - Virama Pratyaya - ist nach intensiver Übung erreicht, wenn alle geistigen Aktivitäten aufhören und nur (ein Rest) unmanifestierter Eindrücke im Geist (eine Form der Leere) verbleiben
Yoga Sutra I-29: Durch diese Praxis erlangt man das wahre innere Selbst und alle Hindernisse verschwinden
Yoga Sutra I-30: Diese Hindernisse lauten körperliche Einschränkung, geistige Stumpfheit, Zweifel, Gleichgültigkeit, Faulheit, Haften an Dingen, falsche Anschauung und die Nichterreichung einer geistigen Stufe
Yoga Sutra I-31: Leiden, Verzweiflung, nervöse Zustände und unregelmäßige Atmung sind Zeichen eines zerstreuten Geistes
Yoga Sutra I-32: Zur Überwindung der Hindernisse übe man die auf ein Objekt konzentrierte Meditation
Yoga Sutra I-33: Der Geist wird geklärt durch Kultivierung von Freundlichkeit, Empathie, Zufriedenheit sowie Gleichgültigkeit gegenüber Freude, Leid, Erfolg und Misserfolg
Yoga Sutra I-34: [Der Geist wird klar] durch (kontrolliertes) Ausstoßen oder Anhalten des Atems
Yoga Sutra I-35: Oder die Meditation über subtile Sinneswahrnehmung führt zur Stabilität des Geistes.
Yoga Sutra I-36: Oder durch Konzentration auf ein inneres Licht, das frei von Leid ist
Yoga Sutra I-37: Oder durch Meditation über einen Menschen, der völlig frei von Anhaftungen an Sinnesobjekte ist.
Yoga Sutra I-38: Oder durch Meditation über Trauminhalte oder den Zustand des traumlosen Schlafes
Yoga Sutra I-39: Oder durch Meditation über irgendetwas, das man mag
Yoga Sutra II-2: Der Kriya Yoga vermindert die Leiden des Yogi und führt zu Samadhi
Yoga Sutra II-12: Die Kleshas sind [somit] die Wurzel für das gespeicherte Karma. Es wird im sichtbaren [gegenwärtigen] oder in nicht sichtbaren [zukünftigen Leben] erfahren werden.
Yoga Sutra II-14: Die Ernte aus dem Karma ist entweder freudvoll oder schmerzhaft, je nachdem, ob die zugrunde liegende Tat heilsam oder leidbringend war.
Yoga Sutra II-18: Die wahrgenommenen Objekte haben die Eigenschaften Klarheit, Aktivität und Trägheit und bestehen aus Elementen und Wahrnehmungskräften. Alles Wahrgenommene dient der (genussvollen) Erfahrung und der Befreiung.
Yoga Sutra II-29: Die acht Glieder des Yoga-Weges sind: Yama (Umgangsregeln), Niyama (Enthaltungen), Asana (Stellungen), Pranayama (Atemregulierung), Pratyahara (Sinnesrückzug), Dharana (Konzentration), Dhyana (Meditation) und Samadhi (Erleuchtung)
Yoga Sutra III-15: Veränderungen in der Abfolge sind die Ursache für die Verschiedenheit der Verwandlung der Dinge
Fazit: Übe und sei geduldig
Für Yogalehrende und Praktizierende ist Yogasutra 4.2 eine ermutigende Erinnerung daran, dem natürlichen Prozess zu vertrauen. Anstatt krampfhaft Fortschritte erzwingen zu wollen, können wir uns auf die Vorbereitung des „Feldes“ konzentrieren – den Körper und Geist pflegen, Hindernisse wie Unruhe, Unwissenheit oder Ungeduld abtragen – und dann beobachten, wie prakṛti ihren Lauf nimmt. Diese Haltung erfordert Geduld und Loslassen: Die Natur in uns hat ihre eigene Weisheit und ihren Zeitplan. Das heißt nicht, dass wir passiv bleiben sollen. Im Gegenteil, yogische Praxis ist sehr wohl Arbeit – aber eine Art von Arbeit, die eher einem Gärtnern gleicht als einer Fabrikproduktion. Wir säen den Samen, düngen, wässern, jäten Unkraut und schaffen Sonne – wachsen muss die Pflanze dann von selbst.
So manche(r) Yogi(ni) kann aus eigener Erfahrung bestätigen, was Sutra 4.2 beschreibt: Übt man eine Weile hingebungsvoll, geschehen Veränderungen fast unbemerkt. Plötzlich stellt man fest, dass man geduldiger reagiert, dass gewisse Ängste verschwunden sind oder der Körper Fähigkeiten zeigt, die man ihm nie zugetraut hätte. Diese Transformationen fühlen sich oft natürlich an, fast unvermeidlich – als hätten sie nur darauf gewartet, sich zu entfalten, sobald man bereit war.
Patanjali liefert mit diesem Sutra eine Erklärung dafür: Die überfließenden Kräfte der Natur bewirken die Umwandlungen. Unsere Aufgabe ist es, das Gefäß zu erweitern und sauber zu halten, damit nichts diese Kräfte aufhält. Es ist ein faszinierendes Zusammenspiel von aktivem Tun und hingebungsvollem Geschehenlassen. Gerade dieser scheinbare Widerspruch – nicht zu forcieren und doch diszipliniert zu üben – verleiht Patanjalis Aussage ihren tiefen Praxisbezug. Wer Yoga lehrt oder übt, kann daraus den Schluss ziehen: Vertraue der inneren Natur. Gib ihr durch deine Praxis Nahrung und Raum – sie wird dich verwandeln. Denn alle Entwicklung, so scheint es, ist letztlich Selbst-Entfaltung dessen, was ohnehin in uns angelegt ist.
Ergänzungen und Fragen von dir zur Sutra
Ist etwas unklar geblieben? Kannst du etwas ergänzen oder korrigieren?
Der Stoff der Sutras ist für uns heutige Menschen nicht leicht zu verstehen. Ist im obigen Text irgendetwas nicht ganz klar geworden? Oder kannst du etwas verdeutlichen oder berichtigen? Eine eigene Erfahrung schildern ... Vielen Dank vorab für jeden entsprechenden Hinweis oder eine Anregung:
Videos zu Sutra VI-2
Wie erlangt man Siddhis, übernatürliche Kräfte – Kommentar von Sukadev zu Yoga Sutra – Kap. 4, Vers 1 und 2
Länge: 22 Minuten
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Fülle der Prakriti – Kommentar von Anvita Dixit zu Yogasutra 4.2
Länge: 9 Minuten
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Video von Ahnand Krishna zur Sutra
Viele Inkarnationen, ein unveränderliches Selbst: Asha Nayaswami (Class 63) zu Sutra 4.2 bis 4.6
Länge: 73 Minuten
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